Denk das! Das Yoga-Sutra des Patañjali – das komplette Skript zum Podcast

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von Michael Wiese, Yogalehrer, Ausbilder und Freier Autor

Vorwort

Dies ist das vollständige Skript aller Podcast-Folgen.

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Michael Wiese - Yogalehrer und Freier Autor
Michael Wiese – Yogalehrer und Freier Autor

Der Podcast mit seinen 89 Folgen nahm seinen Ausgang am Anfang der Pandemie im Frühjahr 2000 und endete im November 2022. Es steckt sehr viel Arbeit und Zeit darin, viel Liebe zu Yoga und sehr viel Leidenschaft. Der Podcast ist in meiner Freizeit entstanden und verfolgt keine kommerziellen Interessen.

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Über das Yoga-Sutra

Das Yoga Sutra des Patañjali ist eines der grundlegenden Werke zur Yoga-Philosophie. Es weist uns den Weg durch den Dschungel der Existenz, des Geistes oder der Psyche, wie man vielleicht heute sagen würde. Denn wir sollten erkennen: Yoga ist eine Denkschule, ein Lebensplan, eine Geistes-Haltung. Yoga ist nicht Herabschauender Hund, Kamel und Handstand. Das sind nur Mittel zum Zweck. Yoga beginnt, wenn Du die Matte verlässt!

Als ausführlicheren Überblick über das Yoga-Sutra empfehle ich Dir zum Einstieg diesen Beitrag von mir ➜ www.yogaya.de/das-yoga-sutra-des-patanjali/

Mit dem folgenden Skript des Podcasts bekommst Du eine schrittweise Einführung in diesen fantastischen Text. Ich unterrichte seit Jahren Yoga-Philosophie in Ausbildungen. Als studierter Historiker lese ich mit Dir den Quellentext, Sutra für Sutra. Die Texte spiegeln meinen ganz persönliches Verständnis des Yoga Sutra. Und ich bemühe mich, auch dies, wie alles andere im Leben, nicht zu ernst zu nehmen. Viel Spaß beim Studieren!


Kapitel 1 –
Samādhi Pāda – Der Weg zur Versenkung

Teil 1 – Den Geist beruhigen – YS 1.1 – 1.2

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Das Yoga-Sutra ist eine Philosophie, eine Psychologie und ein Leitfaden. Wie ein Reiseführer durchs Leben. Alles beginnt damit, dass Du anfängst, zu üben, deinen Geist zu beruhigen.

Herzlich Willkommen bei meiner Philosophie-Reihe „Denk das! Eine Einführung in das Yoga Sutra von Patañjali“. Diese Reihe erscheint als wöchentlicher Podcast auf Soundcloud und bei allen anderen bekannten Podcast-Plattformen. Ich bin Michael Wiese, Yogalehrer und Yogastudio-Inhaber aus Leverkusen-Schlebusch.

Das Yoga-Sutra ist eines der grundlegenden philosophischen Werke des Yoga und ungefähr 1800 Jahre alt, vielleicht auch älter. So ganz genau weiß man das nicht, aber das ist auch normal mit Jahresangaben von alten Schriften.

Die meisten von uns denken womöglich, dass Philosophie ein Produkt Europas ist, bzw. vor allem des antiken Griechenlands und des frühmodernen Deutschlands. Dass Indien eine reiche philosophische Tradition hat, ist den meisten eher nicht so vertraut, auch vielen Yogis und Yoginis nicht. 

Das Sutra hat vier Kapitel mit 195 kurzen Aphorismen und Lehrsätzen, die miteinander zusammenhängen und aufeinander aufbauen. 

Es weist uns den Weg durch den Dschungel der Existenz, des Geistes oder der Psyche, wie man vielleicht heute sagen würde. Denn wir sollten gleich am Anfang erkennen: Yoga ist eine Denkschule, ein Lebensplan, eine Geistes-Haltung. Yoga ist nicht herabschauender Hund, Kamel und Handstand. Das sind nur Mittel zum Zweck. 

Für mich ist das Sutra wie ein Reiseführer. Ich entdecke einen Platz, wo meine Gefühle, meine Gedanken mein Herz gerade sind und ich kann mich darauf verlassen, dass das Sutra mir einen Hinweis gibt, was ich als nächstes versuchen kann. Das kann eine Übung sein, ein Ratschlag oder ein Rätsel. Manchmal ist das auch ein Tritt in den Hintern :-).

Ich hoffe, dass ich Dir in dieser Reihe ein wenig das Yoga-Sutra nahebringen kann. Ich hab ja mal Geschichte studiert und deshalb möchte ich gern mit euch das tun, was Historiker so tun, nämlich die Quelle lesen.

Auf gehts!

YS 1.1 atha yoga-anuśāsanam

Jetzt Yoga — eine Einführung in die Erfahrung.

Das erste Buch des Sutra heißt „der Pfad der Versenkung“ und das hier ist der erste Satz:

Jetzt beginnt Yoga“, atha yoga anuśāsanam. 

Was für eine Frechheit, ich sitze auf meine Sofa und will mich in ein philosophisches Buch vertiefen und das erste was ich lese ist: Mach! Tu! Jetzt!

Yoga-Sutra 1 fordert uns auf, nicht zu warten, nicht zu vertagen. Fang an! Jetzt! In diesem Moment beginnt Yoga und die einzige Möglichkeit, Yoga zu erfahren, ist, damit zu beginnen. Noch bevor überhaupt erklärt wird, was Yoga ist, lädt uns Patañjali ein, es zu probieren. 

Das ist wirklich ungewöhnlich für uns, denn normalerweise werden wir mit Prologen, Vorworten, Definitionen malträtiert, bevor wir weiterlesen und verstehen dürfen. Erst mal zu sagen: mach und erfahre, ist der erste große Coup des Yoga-Sutra. 

Also hör auf zu lamentieren und heb deinen Hintern hoch vom Sofa, denn theoretisch wird das nichts mit der Erleuchtung. Mal sehen, wie es weitergeht.

YS 1.2 yogaś-citta-vṛtti-nirodhaḥ

Im Zustand des Yoga sind alle Trübungen, die im Wandelbaren des Menschen bestehen können, aufgelöst.

Okay. Whaaat? Lass es mich in anderen Worten sagen: Wenn Du im Zustand des Yoga bist, dann sind Deine Gedanken klar wie ein Bergsee. Yoga heißt, den Geist zu beruhigen. Also nicht den Hausgeist oder den Geist in der Flasche, sondern Dein Wesen, Deine Psyche. Nirodha heißt „zur Ruhe kommen“. Was soll zur Ruhe kommen? Na, du selbst, Deine Gedanken — die vṛttis — die den ganzen Tag durch den Kopf hüpfen, hin- und herspringen, sich dorthin und dahin begeben, die Dich manchmal quälen oder dich aufwecken in der Nacht, die Dich aber auch amüsieren und unterhalten, die Dich ablenken und bei Laune halten. Denken, denken, denken, denken, irgendwie immer was zum Grübeln haben, bewerten, bin ich gut genug? Was muss ich einkaufen? Was gibt’s eigentlich zu essen heute? Ich muss Mutter anrufen. Ah, die Schuhe sind schön. Seh’ ich eigentlich gut aus? Lenk Dich nicht ab. Wie spät ist es? Wie hieß noch mal die Netflix Serie, die mir Anna empfohlen hat? Was wollte ich jetzt noch mal? Und wo ist jetzt mein Schlüssel? Du weißt, was ich meine oder? 

Die Inder und Inderinnen vor 1800 Jahren hatten wahrscheinlich genau die gleichen Probleme. Klar. Wir Menschen sind immer noch nach dem gleichen Modell gebaut, wie seit Hunderttausenden von Jahren. Patañjali sagt: Um aus dieser Mühle der permanenten Ablenkung rauszukommen, müssen wir unser Bewusstsein (citta) trainieren. Yoga ist die Toolbox dazu. Also „Gelassenheit muss man“ üben — sozusagen. Jetzt weißt Du auch, woher wir bei YogaYa unseren tollen Slogan haben. Ist gar nicht selbst ausgedacht.

Teil 2 — Das wahre Selbst erkennen – YS 1.3 – 1.4

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Was würden wir sehen, wenn unser Bewusstsein „rein“ und „ungetrübt“ wäre? Wer würde dann überhaupt sehen, wenn wir unsere Bewusstseinsbrille einmal abnehmen könnten?

In der letzten Woche haben wir gehört, dass Yoga auf Erfahrung beruht. Man muss es tun und sich auf den Weg machen. Der Weg wird — so die Vision — zur Versenkung, zur völligen inneren Ruhe, zur Erleuchtung führen. Lass Dich nicht abschrecken von diesem großen Wort, wir sind ja erst am Anfang und hier am Anfang des Sutra wird erst mal das ganz große Kino aufgemacht.

YS 1.3 tadā draṣṭuḥ svarūpe-vasthānam

Dann ruht das wahre Selbst in der Erkenntnis seiner eigenen Natur.

Dieses Sutra geht der Frage nach: was passiert denn, wenn ich den Zustand der inneren Ruhe erreicht habe? Dann, sagt Patañjali, ruht der „Sehende in seiner Wesensidentität“. Der Sehende, der Seher, ist ein psychologisches Konstrukt, um die Tatsache zu erklären, dass wir IMMER durch die Brille unseres eigenen Bewusstseins auf die Welt und auf uns selbst schauen. Deswegen sagen wir ja oft auch Sätze an mit „Also, aus meiner Perspektive sehe ich das so und so“.

Diese Perspektive, der Blick durch diese Brille ist im natürlicherweise bestimmt durch unsere Vergangenheit, unsere Erlebnisse, unsere Erinnerungen usw.

Das klingt ziemlich abstrakt, oder? Ist es auch, zugegeben. Aber wir studieren hier ja auch philosophische Fragen, da muss es auch etwas dampfen in den Gehirnwindungen. 

Vielleicht hilft dieses Bild: Die Welt durch das eigene Bewusstsein wahrzunehmen, ist so, als würde man sein ganzes Leben lang Auto fahren, ohne jemals die Scheibenwischer zu bedienen, um wieder klar sehen zu können. Leider haben wir aber im Gegensatz zum Auto keinen Knopf, mit dem man mal eben so seine vṛttis wegwischen kann. Und außerdem bleibt dann ja auch die Frage: wer fährt dann eigentlich das Auto? Gibt es denn eine Instanz hinter dem Bewusstsein?

Was würden wir sehen, wenn unser Bewusstsein „rein“ und „ungetrübt“ wäre? Wer würde dann überhaupt sehen, wenn wir unsere Bewusstseinsbrille einmal abnehmen könnten? Können wir das überhaupt? 

Das sind unfassbar spannende und sehr moderne Fragen, die uns noch das ganze Sutra begleiten werden. Und es ist dieses kleine Sutra 1.3, das schon Hunderte von Jahren vor Sigmund Freud den ganz großen psychologischen Rahmen spannt, in dem sich das Bildnis unserer Existenz bewegt. 

Die Idee ist also, dass man die geistigen Trübungen und Verwirrungen durch Yoga beseitigen kann und das eigene klare Selbst zum Vorschein kommt. Wir werden noch sehen, was es damit auf sich hat. 

YS 1.4 vṛtti sārūpyam-itaratra 

Ansonsten verzerren die Trübungen seine Wahrnehmung. 

Ich frage mich ja immer: möchte ich eigentlich soweit gehen, dass mein wahrer Seher  – sollte es ihn denn geben —  klar und rein durchscheint? Wäre das nicht ziemlich pathologisch? Dann würde ich gar nicht mehr die Welt durch mein alles in allem geschätztes Ego wahrnehmen? Der wahre Yogi würde angesichts dieser kindlichen Fragen kurz lächeln und dann weiter meditieren. Die Frage stellt sich so nicht. Denn im Verständnis der altindischen Philosophie wie auch des aus Ihr abgeleiteten Buddhismus ist das Leben ein unendliches Rad von Verstrickungen und Leiden, aus denen wir uns befreien wollen. Also Patañjali ist natürlich klar, dass das schwierig ist, sonst hätte er das Sutra ja gar nicht schreiben müssen, ne? Deswegen sagt er uns folgerichtig in Sutra 4, was passiert wenn das nicht klappt mit dem wahren Selbst. 

Denn dann, ja genau, dann bleibt der Mensch verhaftet in seiner verzerrten Welt, dann wird er sich weiter verrennen in seinen vṛttis und in seinem Ego. Yoga ist der Weg zur vollkommen Freiheit des Wesens. Alles andere ist Untergang und Leiden.
Puh, ich hör lieber auf mit Yoga, denke ich, das ist mir doch etwas zu radikal. Na ja, also wir müssen den Weg nicht bis zum Ende gehen, Leute. Wir können aber die Idee dahinter alle gut nachvollziehen, glaube ich. Denn wir haben alle schon oft genug erlebt, dass wir uns vor lauter Ablenkung und geistiger und körperlicher Unruhe nicht wirklich wohl und frei fühlen, oder? Also Du vielleicht nicht, aber ich schon. 

Das waren Sutra 1 bis 4 über die Disziplin des Yoga. Und manche sagen, wenn man das verstanden hat, braucht man nicht mehr weiterzulesen. Mag sein. Aber es geht trotzdem spannend weiter. 

Bist Du dabei?

Teil 3 – Die fünf Bewusstseinszustände – YS 1.5 – 1.6

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Yoga ist eine Diät. Wir versuchen, die geistige Nahrung, das zu Verarbeitende, man könnte auch sagen, die Ablenkung, das „Wählen müssen“, das „Entscheiden müssen“ zu reduzieren, bis vielleicht irgendwann völlige Ruhe einkehrt. In dieser Folge untersuchen wir die fünf Bewusstseinszustände im Überblick an.

Sutra 1.1 bis 1.4 liegen schon hinter uns. Wir haben in den vier Abschnitten schon das Wesentliche gelernt: Yoga ist eine Disziplin, die auf Erfahrung beruht, keine theoretische Wissenschaft. Das Ziel ist, möglichst lange in einen geistigen Zustand zu kommen, in dem unsere Vṛttis zur Ruhe kommen. Die Vṛttis, das sind alle Regungen unseres aktives Bewusstseins. Die sollen zur Ruhe kommen. Das wird als citta-vṛtti-nirodhaḥ bezeichnet – die Erkenntnis dessen, was wirklich ist.

Nun, den meisten von uns ist dieser angestrebte Geistes-Zustand nicht gegeben, deswegen üben wir ja Yoga. Yoga ist Zustand und Weg zugleich.

Der nächste Abschnitt des Sutra, YS 1.5 – YS 1.11 befasst sich daher erst einmal mit der Analyse unseres Bewusstseins und macht fünf Zustände aus, in denen sich unser aktives Bewusstsein bewegen kann.

YS. 1.5 vṛttayaḥ pañcatayyaḥ kliṣṭākliṣṭāḥ

Es gibt fünferlei leidvolle oder freudvolle seelisch-geistige Vorgänge.

YS. 1.6 pramāṇa viparyaya vikalpa nidrā smṛtayaḥ 

Und zwar: Gültiges Wissen, Irrtum, Vorstellung, Schlafbewusstsein und Erinnerung.

Übriges: hier sehen wir ein klassisches Stilelement des Sutra: Listen. Fünf Zustände, acht Wege, drei Übungen usw. Das hilft beim Einprägen und unterstreicht den praktischen Wert der Schrift.

Wir werden uns diese fünf Zustände noch genau anschauen.

Für den Start hilft es, sich klarzumachen, dass das aktive Bewusstsein – also Citta — im Yoga-Verständnis ein Organ ist. Eben das Denkorgan, wenn man so will. Dieses Organ nimmt, wie jedes andere Organ auch, das ganze Leben über, Tag für Tag, Stunde um Stunde, jede Minute, jede Sekunde unfassbar viel Nahrung auf. 

Citta ist dabei angewiesen auf seine Zulieferer: Sehen, Fühlen, Hören usw. Das sind die vṛtti. Das Bewusstsein bedient sich dieser Vṛttis, und be- und verarbeitet diese, es ist verstrickt und verfangen in den Vṛttis.

Das, was dabei dann herauskommt, ist das Erkannte, das Getäuschte, das Geglaubte, das Geträumte, das Erinnerte. Das ist unser individueller Blick auf die Welt. Und die Summe all dessen, was Dein Bewusstsein ausmacht, ist einzigartig: die Welt, wie Du sie empfindest, gibt es nur einmal. Aber es ist nicht die wirkliche Welt, sondern nur Deine Version der Welt. 

Alles was Dein Bewusstsein so tut, kann laut Patañjali leidvoll oder freudvoll sein, also für Leiden sorgen oder Freude schaffen. Das ist nicht moralisch gemeint, sondern einfach eine Tatsache. 

Ich esse z.B. sehr gerne Gorgonzola-Käse. Du weißt schon: dieser cremige Käse mit dem blauen Schimmel. Jetzt habe ich dieses Wort gesagt: Gorgonzola. Ich sage noch eins: Fischbrötchen. 

Jetzt habe — es geht gar nicht anders — Dein citta-vṛtti-Karussell schon ordentlich ans Arbeiten gebracht. Eine große Kette von geistigen Eindrücken, Erinnerungen, und Bewertungen rattert gerade in Deinem Kopf, nur weil ich zwei Worte gesagt habe: Gorgonzola und Fischbrötchen. 

Für mich ist die Vorstellung eines Fischbrötchens bzw. die Erinnerung daran, eher leidvoll. Die Vorstellung eines leckeren Gorgonzola eher freudvoll. Du bist jetzt jedenfalls schon abgelenkt, denn du wirst gerade mit deinem aktiven Bewusstsein – bewusst oder unbewusst – schon daran gearbeitet haben. Das sind citta-vṛtti. Vielleicht ein banales Beispiel, aber das sind ja 99 Prozent  unserer Gedanken — meist ziemlich banal. Was hat das mit Yoga zu tun?

Yoga ist eine Diät. Wir versuchen, die geistige Nahrung, das zu Verarbeitende, man könnte auch sagen, die Ablenkung, das „Wählen müssen“, das „Entscheiden müssen“ zu reduzieren, bis vielleicht irgendwann völlige Ruhe einkehrt. 

Eindrücke und Reize, die kommen, lösen keine Reaktion aus, weder leidvoll noch leidlos. Ich löse mich aus der Verhaftung mit den Dingen, den Objekten (wie z.B. Gorgonzola oder Fischbrötchen) und befreie meinen Geist von diesen Identifizierungen. Das ist Yoga.

Diesen Zustand des ruhigen Geistes zu halten, das ist mir noch nicht so richtig gelungen in meinem Leben, oder vielleicht nur mal ganz kurz. So ein kurzer Moment großer Ruhe und Klarsicht? Hast Du sowas auch schon mal erlebt? Ich bin ganz sicher, dass es so ist. Das ist mit Versenkung, mit Erleuchtung, gemeint. Wenn wir solche Momente halten könnten, wie wäre das? 

Die Tools zu erlernen, die mir helfen, die Regungen meines Geistes zu beruhigen: Das ist der Weg des Yoga. In der nächsten Folge schauen wir uns die Zustände des Bewusstseins genauer an.

Teil 4 – Gültiges Wissen und Irrtum – YS 1.7-1.8

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Oft sind wir sicher, dass das was wir denken, soweit richtig ist. Das ist wichtig für den Alltag, wir können nicht immer alles hinterfragen. Aber oft haben wir veraltetes Wissen und merken es nicht. Oder noch schwieriger: wir wissen gar nicht, was wir nicht wissen. 

Wir haben gesehen, dass Yoga eine Disziplin ist, den Geist zu beruhigen. Das ist im Wesentlichen mit yogaś-citta-vṛtti-nirodhaḥ gemeint. Wenn das gelingt, dann sind wir nicht oder weniger gefangen im Grübeln und Bewerten und können klarer sehen, was wirklich ist.

Yoga ist also ein Weg wie auch ein Zustand, den wir anstreben sollten, um uns zu befreien. Normal ist aber, dass unser Geist abgelenkt ist und in der letzten Folge haben wir von den 5 Bewusstseinszuständen gehört, die Patañjali für die grundlegenden hält. Diese waren pramāṇa, viparyaya, vikalpa, nidrā und smrtti, zu Deutsch: Gültiges Wissen, Irrtum, Vorstellung, Schlafbewusstsein und Erinnerung.

Klingt kompliziert und fraglich, aber das ist es nicht. 

Erinnert Ihr Euch an Gorgonzola und Fischbrötchen? Gorgonzola liebe ich, Fischbrötchen aber überhaupt nicht. Ich habe das als Beispiel genommen für vṛttis. Also Gedanken, die entstehen durch etwas, worauf sich unsere Aufmerksamkeit richtet. Das kann alles sein: jeder Gegenstand, jede Handlung, jede Idee, jedes Gefühl, ein anderer Mensch, etwas Vergangenes oder etwas Zukünftiges. Im Yogaverständnis sind das Objekte, auf die sich unser Bewusstsein ausrichtet. citta-vṛtti. 

Wir gehen also mit unserem Bewusstsein Beziehungen ein zu Objekten. Die Wahrnehmung der Welt löst Milliarden von Verknüpfungen aus. Gehirnforscher würden heute von neuronalen Netzwerken sprechen. Das was uns ausmacht. Unser einzigartiges Ich. 

YS 1.7 pratyakṣa-anumāna-āgamāḥ pramāṇāni

Direkte Wahrnehmung, Schlussfolgerung und Überlieferung: das sind die Quellen für gültiges Wissen.

Pramāṇā bedeutet „gültiges, richtiges Wissen“ oder auch „richtige Wahrnehmung“ .
Ja, also daran kann ja erst nichts schlecht sein. Was soll das? Wieso ist das ein Bewusstseinszustand? Zur Erinnerung: Bewusstseinszustände können freudvoll oder leidvoll sein, also Gorgonzola oder Fischbrötchen. Du kannst ja gern meine Beispiele durch zwei Objekte austauschen, die mehr zu Dir passen. 

Richtiges Wissen ist etwas Essenzielles. Es wäre fürchterlich, wenn wir nie wüssten: ja, das ist so. Das ist gültig. 1 + 1 ist gleich 2. Tagsüber ist es heller als nachts. Das Meer besteht aus Salzwasser. 

Wenn wir das alles immer neu denken müssten, wäre es grauenhaft. Unser denkender Geist, unser ganzes Wesen basiert zu großen Teilen auf pramāṇā. Pramāṇā macht uns überhaupt erst lebensfähig. Die allermeisten wissenschaftlichen, philosophischen, kulturellen oder gesellschaftlichen Angelegenheiten und Konventionen beruhen auf pramāṇā. 

Doch wie kommt man zu diesem – in der Regel freudvollen – Zustand:

Laut Patañjali haben wir drei Möglichkeiten, an gültiges Wissen zu kommen: pratyakṣa, anumāna und āgamā. 

Pratyakṣa ist „Unmittelbares, offensichtliches Wissen“ – Das kann eine unmittelbare Erfahrung sein, z.B. Das Meerwasser eben salzig schmeckt. Damit kommen wir aber nicht immer sehr weit.

Anumāna, darin steckt das wichtige Wort mānas, der Intellekt, die Schlussfolgerung, ist deshalb die nächste Quelle gültigen Wissens. Oh ja, in Zeiten von Verschwörungstheorien und Wissenschaftsfeindlichkeit ist das die Mahnung an das vernunftbegabte Wesen. 

Āgamā ist komplizierter: Es ist das, was immer galt, das was seit jeher gilt – und damit in der Regel nicht in Frage gestellt werden muss. 1+1=2 gehört durchaus dazu. Man könnte sagen, neee, nee, das ist ja mein Intellekt, der das weiß. Aber es ist doch eher gelernte Wahrheit. Wenn ich z.B. sagen würde: die Erde kreist um die Sonne. Dann haben wir ein Beispiel für āgamā. Persönlich kann ich das nicht physikalisch beweisen, aber ich betrachte es als gesichertes Wissen, dass das stimmt. War ja lange Zeit nicht so in der Menschheitsgeschichte. Und noch heute gibt es Leute, die denken, dass die Erde eine Scheibe ist.

Wenn Euch das alles an aktuelle Diskussionen erinnert, z.B. über die Corona-Epidemie oder den Klimawandel … genau. Das ist höchst aktuell. 

YS 1.8 viparyayo mithyā-jñānam-atadrūpa pratiṣṭham

Irrtum, falsches Wissen ist eine verkehrte Erkenntnis, die sich auf etwas gründet, was dem Wesen der Sache nicht entspricht.

Genau. Das ist die logische Schlussfolgerung aus dem eben Gesagten. Wo pramāṇā ist, ist viparya nicht weit entfernt. Es kann auch eben „falsches Wissen“ sein. Manchmal weiß ich nicht, was zur Zeit mehr verbreitet ist. Pramāṇā – gültiges Wissen — oder viparyaya — Verblendung. Also, Holzauge, sei wachsam: Pramāṇā ist auch eine Falle. Allzu oft ist gar nicht gültig, was wir für gültig halten. Dann ist es viparyaya oder noch schlimmer: Wir denken aufgrund alter Überzeugungen, dass etwas nicht wahr sein kann, was wir nicht wahr haben wollen. Meistens merken wir das gar nicht, denn wir „haben unsere Überzeugungen“, nicht wahr? Das ist wahr, das war immer schon so. Das weiß ich genau. Ich will auch nichts anderes hören. 

Und dann ist es doch nicht wahr oder man muss einsehen, dass man „altes Wissen“ hatte, oder vermeintliches Wissen, das auf falschen Annahmen beruhte. Und es fällt Menschen schwer, dass zuzugeben und neue Erkenntnisse zuzulassen.

Meistens wissen wir aber gar nichts über unser viparyaya, denn wir wissen ja oft nicht, dass wir falsch liegen. Wir sind vollgestopft mit viparyaya, mit eingebildetem Wissen. Das ist auch in der Regel nicht weiter schlimm, so lange man nicht Donald Trump heißt und damit amerikanischer Präsident wird. 

Aber wir haben zum Glück die Möglichkeit, unseren Verstand und den Verstand vieler kluger Menschen und die gesammelten Erkenntnisse zu Rate zu ziehen für unser Pramāṇā und damit den Anteil unseres viparyaya möglichst zu entlarven und gering zu halten. 

Aber so oder so. Vṛttis sind es alles. Das ist gemeint. Verstrickungen und Verwirrungen unseres Geistes. Hält uns ab von der Erleuchtung und Versenkung, ist doch eigentlich logisch, oder? 

Vielleicht denkst du jetzt nach den ersten vier Folgen: Jei jei, das geht aber ganz schön langsam voran. Diese Serie wird aber viele Staffeln haben. Das ist wie 12 Staffeln „Big Bang Theory“. Ja, das ist so. Stell Dir einfach vor, dass das Sutra eben ein total komprimiertes Werk ist. Wie ein Samen, der lange in der Erde schlummert. Erst wenn du Wasser darauf gießt, wenn Du also anfängst, zu denken und zu üben, also Yoga zu üben, dann entfaltet sich das Sutra wie ein riesiger Baum aus diesem kleinen Samen. Teil 5: YS 1.9.

Teil 5 – Vorstellungskraft und Fantasie, die Superpower des Gehirns – YS 1.9

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Die Vorstellungskraft ist eine menschliche Superpower. Damit können wir uns aus der Wirklichkeit in gedankliche Welten beamen, die so gar nicht existieren. Sie lässt uns die Welt denken, und dazu benötigen wir Worte. Allerdings verwechseln wir oft die Bedeutung der Worte mit der Wirklichkeit.

Yoga ist citta-vṛtti-nirodhaḥ, das zur-Ruhe-Kommen des aktiven Geistes. Das ist das Ziel und der Arbeitsweg zugleich. Yoga ist eine Diät für den Geist. Normalerweise sind unsere Gedanken gefangen und verstrickt in Ablenkung und Unruhe. 

Patañjali unterscheidet fünf leid- oder freudvolle Bewusstseinszustände, die für uns vielleicht erst einmal ungewöhnlich klingen: pramāṇa viparyaya vikalpa nidrā und smrtti, zu Deutsch: Gültiges Wissen, Irrtum, Vorstellung, Schlafbewusstsein und Erinnerung.

Pramāṇa – gültiges Wissen – und viparyaya — Irrtum — haben wir uns in der letzten Folge angesehen. 

Heute geht es weiter mit Vorstellung, vikalpa. Dieses Sutra ist in meinem Verständnis so wichtig, dass es heute den ganzen Raum einnimmt.

YS 1.9 śabda-jñāna-anupātī vastu-śūnyo vikalpaḥ 

Vorstellung oder auch Fantasie ist eine Erkenntnis, die bloß auf Worten beruht, die bar jeder Wirklichkeit sind.

„Am Anfang war das Wort. Und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott.“

Nein, das steht nicht bei Patañjali, sondern in der Bibel. Dem Wort kommt in allen Religionen und Philosophien eine herausragende Bedeutung zu. Klar, denn ohne Wörter wäre ein Glaube nicht glaubhaft und eine Philosophie nicht denkbar. 

So oder so: Das Wort kam zum Menschen, oder der Mensch zum Wort. Die ureigenste Natur des Menschen ist das Wort. Der Mensch ist ein Wort-Wesen. Wir können nicht denken ohne Worte — hast Du das schon mal probiert? Der Versuch, ohne Worte zu denken, macht einen schnell verrückt. Es geht nicht. 

Wenn wir für ein Objekt kein Wort haben, existiert es quasi aus unserer Perspektive nicht. Wir müssen dann sofort ein Wort erfinden, um das Objekt zu beschreiben. Im Zweifel ist es ein Dings oder Dingsbums. Auch ein Gefühl ist ein Objekt unserer Wahrnehmung. Wenn Du etwas fühlst, das Du bislang noch nicht kennst, wirst du sofort ein Wort suchen, das dieses Gefühl beschreibt, damit Dein Citta, Dein Bewusstsein damit arbeiten kann. Wörter sind starke und mächtige vṛtti. 

Im Sutra steht śabda-jñāna – jñāna ist das Wissen und śabda das Wort. Also „Wort-Wissen.“ 

Die Verhaftung unseres Geistes in Worten ist unauflöslich. Wenn Du das hier hörst und verstehst, arbeitet Dein Gehirn mit śabda-jñāna. Es ist wunderbar oder auch sehr leidvoll, mit Worten zu leben. Aber es geht hier wieder nicht um die Bewertung, sondern die neutrale Tatsache, dass das Wort-Bewusstsein ein permanenter Zustand ist. Warum ist das relevant für unsere „Geistes-Diät“ Yoga? Jetzt habe ich Dich schon hingeführt und es ist klar: Aus der Wortverhaftung kommen nur schwer lebend wieder raus. 

Kleiner Spoiler zu Staffel 2: Es kann gelingen. Zum Beispiel .B. mit Musik, mit Essen mit Gerüchen und ja, vielleicht mit Meditation und manchmal auch mit Yoga Asanas.

Dieses Sutra ist so zentral, dass ich mich hier noch etwas länger aufhalten will. Wenn wir uns aus dem Wort-Bewusstsein nicht oder nur schwer lösen können, was bedeutet es dann für unsere Wahrnehmung?

Nun, wir denken ein Wort und interpretieren seine Bedeutung als etwas, was für uns real und wahr ist, oder auch ein Irrtum sein kann. Siehe die beiden ersten Bewusstseinszustände. 

Tut mir leid, ich muss noch mal auf den Gorgonzola und das Fischbrötchen zurückkommen. Da wir vermutlich dem gleichen Kulturkreis angehören, weißt Du natürlich, was das ist, und Dein Geist kreiert eine Realität rund um diese Wörter. 

Das haben wir ja schon besprochen. 

Nun ist es aber so: Das Wort selbst ist ja gar nicht das Objekt und schon gar nicht die Wirklichkeit. Ein Wort ist ein Wort ist ein Wort. Die Bedeutung des Wortes ist eine Konvention. Wir müssen dieselbe Sprache sprechen, um es mit einem ähnlichen Bedeutungsinhalt zu verknüpfen. Oder um es einfach zu sagen: Deine Gorgonzola-Vorstellung ist nicht meine Gorgonzola-Vorstellung. Wir wissen ja, wie schwer das ist, über etwas zu reden. Überall lauern Missverständnisse. Klar, Deine Realität, Dein Wort-Wissen ist anders als mein Wort-Wissen. Du erinnerst Dich? Es gibt nur Deine eigene Perspektive auf die Welt. 

Schlimmer noch: Das Wort ist überhaupt nicht das Objekt. Es ist völlig losgelöst davon. Das Wort ist vastu-śūnyo — ohne Bezug zur Realität. Das Wort Gorgonzola löst nur eine Vorstellung aus von dem, was wir für einen Käse halten, es ist nicht der Käse selbst. 

Unsere Wahrnehmung heftet sich über die Krücke des Wortes an ein vermutetes Objekt. Oje, das klingt schon abgefahren, oder? 

Ihr kennt natürlich den Maler und Surrealisten Magritte, oder? Er hat ein Bild gemalt, das uns auf dieses Dilemma hinweist: Ceci nèst pas une pipe — das ist keine Pfeife. Googelt mal danach. Es zeigt eine Pfeife und jeder sagt: Ja, das ist ein Pfeife. Stimmt aber nicht. Es nur das Bild einer Pfeife, das ein Wort erzeugt, das eine Vorstellung von einer Pfeife kreiert. Es braucht gar keine echte Pfeife. Und selbst wenn da ein echte Pfeife auf dem Tisch läge, wäre es nur die interpretierende Wahrnehmung einer Pfeife. Es wäre nur citta-vṛtti, niemals die Realität selbst.

So, das war harter Tobak. Warum fällt mir jetzt das Wort „Tobak“ ein? Gehirn, ick hör Dir rauschen. 

Ein letzter Satz zu diesem Sutra. Kannst Du noch? 

Vikalpa ist aber eben auch die fantastische Fähigkeit des Menschen, über Vorstellung eine Realität zu erschaffen, die gar nicht existiert. Wir können mit dieser Fähigkeit sogar in die Zukunft denken. bzw. uns eine Zukunft vorstellen. Stimmt auch nicht, ne? Ist nur eine Einbildung. Verdammt!

In der nächsten Folge steigen wir noch eine Etage tiefer hinab, nämlich ins Schlafbewusstsein. 

Teil 6 – Nidra, das Schlafbewusstsein – YS 1.10

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Auch der Schlaf ist im Yoga-Verständnis ein eigener Bewusstseinszustand. Er ist tief und nicht träge. Aber dennoch keine Pause.

Yoga ist der Weg zur vollständigen inneren Freiheit. Yoga ist citta-vṛtti-nirodhaḥ, das Zur Ruhe-Kommen des aktiv bewertenden und wählenden Bewusstseins. Der Zustand, der sich dann entfaltet, ist Freiheit. Gemeint ist hier nicht die Freiheit, etwas zu tun, sondern Freiheit von etwas. Freiheit von Verstrickung, Verhaftung und Identifizierung. Denn unser Bewusstsein ist genau damit immer beschäftigt. 

Patañjali unterscheidet fünf leid — oder freudvolle Zustände: gültiges Wissen, Irrtum, Vorstellung, Schlafbewusstsein und Erinnerung.

Heute schauen wir auf Nidra, das Schlafbewusstsein.

YS 1.10 abhāva-pratyaya-ālambanā tamo-vṛttir-nidra 

Der Schlaf ist ein Bewusstseinszustand, in dem der Gegenstand der Wahrnehmung abwesend ist.

Der britische Philosoph Alain de Botton sagt: „Im Schlaf rächt sich der Verstand für all die Gedanken, die wir tagsüber verdrängt haben“

Das macht aus Yoga-Sicht durchaus Sinn, denn schon aber hunderte Jahre vor Sigmund Freud war den Yogis schon klar, welche herausragende Bedeutung dem Schlaf bei der Erforschung des Bewusstseins zukommt. Toll, oder?

Für die Yogis ist Schlaf keine Pause für Citta. Schlaf „produziert“ genauso citta-vṛtti, also aktive Regungen, wenngleich er sich durch Abwesenheit (abhāva) auszeichnet, nämlich der Abwesenheit von realen Objekten.

Und das ist ja auch genau die Erfahrung, die wir alle mehr oder weniger machen: Unser Verstand arbeitet, erfindet wilde Geschichten, verarbeitet Eindrücke und Erinnerungen. Das passiert wo genau? Tja, Leute, wenn man das so genau wüsste. Auch wenn vielleicht unser gesamtes Bewusstsein nur ein genialer Chemiebaukasten ist, ändert das ja nichts an der Tatsache, dass es auch im Schlaf durchaus aktiv ist. In Ermangelung von Objekten aus der realen Welt greift es auf innere Objekte zurück, es beschäftigt sich sozusagen mit sich selbst. Wir wissen ja heute, dass alle Schlafphasen von höchster Bedeutung sind für unsere psychische und physische Gesundheit — falls man das überhaupt trennen kann. 

Wenn aber das Ziel des Yoga nirodhaḥ ist, dann wäre es ja wünschenswert, nicht zu träumen und auch diese vṛttis zur Ruhe zu bringen, oder? Nun, das Bewusstsein ist ohne Zweifel im Schlaf nicht von uns kontrollierbar. Die Tools wie Meditation, Atmung, Yoga usw. die uns im Wachzustand vielleicht weiterhelfen, stehen uns im Schlaf nicht zur Verfügung. Deswegen haben wir oft das Gefühl oder die Sorge, im Schlaf heimgesucht zu werden von bösen Gedanken und Dämonen. Aber klar ist ja: das ist alles in uns drin. Das ist alles unser Bewusstsein. Natürlich gibt es aber auch Schlafzustände, in denen sich das Bewusstsein vollständig abzuschalten scheint, also die Tiefschlafphase. Ich stelle mit das vor, wie das Standby-Licht meiner Musikanlage. Es leuchtet nur noch ein blasses rotes Lichtchen, das sagt: ich lebe noch. Schalte mich nicht ab! Work in progress! Die moderne Hirschforschung weiß natürlich schon lange, dass in diesen Phasen neuronale Verknüpfungen gepflegt und aufgeräumt werden, das nächtliche Reinemachen sozusagen. 

Und es mag auch so sein, dass Alain de Botton Recht hat: Wenn wir im Wachzustand uns besser mit unseren Ängsten und Befürchtungen auseinandersetzen würden, dann hätten wir vielleicht in der Nacht weniger zu bewältigen …?

Übrigens gibt es einen eigenen Yoga-Stil, der das Thema Schlafbewusstsein aufgreift: das Nidra-Yoga. Da arbeitet man mit Techniken, in dieses entspannte Schlafbewusstsein zu gleiten, ohne wirklich zu schlafen. Und in der Tat wissen Schlafforscher heute, dass wir auch während wir eigentlich wach sind, immer wieder –  oft unbemerkt – in traumähnliche Phasen abdriften. Offensichtlich brauchen wir regelmäßig einen Rückzug von der Außenwelt, um unsere Erfahrungen zu ordnen.

Teil 7 – Dein Erinnerungsspeicher – YS 1.11

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Erinnerungen sind ein Zustand unseres Bewusstseins, in dem wir uns häufig befinden. Erinnerungen sind nicht statisch, sondern unterliegen auch unserem unsteten Geist. 

Yoga ist der Weg zur vollständigen inneren Freiheit. Yoga ist yogaś-citta-vṛtti-nirodhaḥ, das Zur-Ruhe-Kommen des aktiv bewertenden und wählenden Bewusstseins. Der Zustand, der sich dann entfaltet, ist Freiheit. Gemeint ist hier nicht die Freiheit, etwas zu tun, sondern Freiheit von etwas. Freiheit von Verstrickung, Verhaftung und Identifizierung. Denn unser Bewusstsein ist genau damit immer beschäftigt. 

Fünf leid- oder freudvolle Zustände beschreibt Patañjali: gültiges Wissen, Irrtum, Vorstellung, Schlafbewusstsein und Erinnerung.

Heute schauen wir auf smṛti, die Erinnerung.

YS 1.11 anu-bhūta-viṣaya-asaṁpramoṣaḥ smṛtiḥ

Erinnerung entsteht aus der Vergangenheit, wenn die Erfahrung noch nicht verblasst ist.

Wir steuern auf den fünften Bewusstseinszustand hin, der alle anderen umgibt und durchdringt: smṛti, die Erinnerung, das Erinnerte. smṛti ist sozusagen unser Massenspeicher, befüllt mit abgespeicherten vṛttis, mit allem, was wir da so seit unseren frühsten Tagen gelegt haben. Manches ist verblasst oder annulliert, aber unendlichen viele Daten liegen da. Nach neueren wissenschaftlichen Schätzungen, kann das menschliche Gehirn, also auch meins und Deins, Informationen in der Größenordnung von 200 Exabytes enthalten – das sind 200 Milliarden Gigabyte. Das ist so viel wie ungefähr das gesamte digitale Datenvolumen der Welt — in jedem Gehirn. Unfassbar.

Die Erinnerung ist alles, was uns ausmacht und unserem Bewusstsein seine einzigartige, unverwechselbare Form gibt. Alle vorherigen vier Zustände produzieren smṛti, Erinnerungen. Sie können – Du weißt schon – freudvoll oder leidvoll sein, klar oder trüb, wahr oder falsch, eingebildet oder nicht. 

Die moderne Hirnforschung spricht diesem Zusammenhang von „Kartierungen“. Das ist ein sehr passendes Wort. Wir speichern Millionen Karten ab, mit denen wir durch das Leben navigieren, mal besser mal schlechter. Diese Kartierungen sind nicht statisch, sie werden immer wieder gefüttert, angepasst, überschrieben, selten gelöscht. 

Ein letztes Mal komme ich in diesem Zusammenhang auf das Fischbrötchen zu sprechen. Die erste Kartierung des Fischbrötchens war, als ich als Kind eines gegessen habe und mir danach tagelang speiübel war. Ich werde es nie vergessen!

Diese Erinnerung ist aber nicht statisch. Ich kann sie überschreiben und bearbeiten mit neuen Erfahrungen, die ich später im Leben gemacht habe, mit richtigem Wissen oder mit Befürchtungen oder mit Wünschen und Träumen. 

Das ist eine sehr wichtige Erkenntnis des Yoga. Die Vergangenheit ist zwar vergangen, aber die Erinnerung daran findet im Moment statt. Es existiert keine Vergangenheit ohne eine Erinnerung. Eine Erinnerung ist aber immer ein aktiver Geistesprozess, ein citta-vṛtti, der in der Gegenwart stattfindet. Logisch, oder? Wenn ich heute meine gesammelten Fischbrötchen-smṛti abrufe, dann passiert das ja jetzt. Das heißt ja aber auch, dass ich mit Yogatechniken im heute Einfluss nehmen kann auf die alten Kartierungen und so z.B. Traumata oder Belastungen „bearbeiten“ kann. Ich kann mit Yogatechniken (wir kommen noch dazu, was damit genau gemeint ist) frei werden von den Eindrücken, Prägungen und Hindernissen aus der Vergangenheit und so zur Ruhe kommen. 

Freiheit ist – wie gesagt – das zentrale Motiv des Yoga. Freiheit von geistiger Unruhe und Unfrieden. Von Verwirrung und Ablenkung. Von Angst und Leid.

Das waren Yoga Sutra 1.1 bis 1. 11. Diese Sutras zeichnen das ganz große Versprechen auf, das Dir Yoga macht: der Weg zu einem freien Geist. 

Ab der nächsten Folge werden wir sehen, wie das praktisch funktionieren kann, mit yogaś-citta-vṛtti-nirodhaḥ. Ich freue mich drauf.

Teil 8 – Üben und immer wieder loslassen -YS 1.12-1.14

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Abhyāsa, das Üben, und vairāgya, das Loslassen, sind unsere ständigen Begleiter beim Yoga. Sie sind wie zwei Wanderstöcke, die Partner und Stützen, die uns helfen, die richtige Balance auf dem Weg zur Freiheit zu finden.

In YS 1.1 bis 1.11 haben wir die erste große Wanderetappe hinter uns gelassen. 

Wir haben einen ersten Blick auf yogaś-citta-vṛtti-nirodhaḥ, das Zur-Ruhe-Kommen des Geistes – geworfen und Yoga als Weg und Ziel kennengelernt. Yoga ist nicht theoretisch erfahrbar, Du musst es tun. So wie das Betrachten schöner Landschaftsbilder niemals eine Reise ersetzen kann. 

Das Ziel der Yogareise ist Freiheit von Verstrickungen und Leid. Diese gehen nach Vorstellung des Yoga in erster Linie vom Kopf, vom „mind“ aus. Das ist citta-vṛtti. Unser Bewusstsein findet sich in verschiedenen Phasen, aber am Ende läuft alles hinaus auf mehr und mehr Erinnerungen, die smrti, so als würden wir — um beim Bild der Reise zu bleiben —  unaufhörlich Fotos und Karten in die große Kiste namens „Gehirn“ legen. 

Ich habe ja schon Probleme, meine digitale Fotosammlung auf dem PC aufzuräumen. Da mag ich mir gar nicht ausmalen, was es für eine Arbeit wäre, mal in meinem Kopf aufzuräumen.

YS 1.12 abhyāsa-vairāgya-ābhyāṁ tan-nirodhaḥ 

Durch Übung und Loslassen erreicht man das Zur-Ruhe-Kommen des Geistes.

Patañjali ist unser Reiseführer, aber auch ein geschickter Halunke. Erst hat er uns hier her gelockt, wir haben angefangen zu üben und vielleicht zu verstehen. Jedenfalls haben wir schon mal die Vision vor Augen gehalten bekommen, was Yoga sein kann. Wir stehen sozusagen sprachlos mit vollem Wanderrucksack auf der Ebene und schauen auf einen wunderschönen Berg, der vor uns liegt und fragen uns, wie wir da hoch kommen sollen. 

In den nächsten fünf  Sutras erklärt Patañjali, was zu tun ist. Nämlich das ganze mit Beharrlichkeit einerseits und Loslassen andererseits anzugehen. 

Abhyāsa und vairāgya sind die beiden Wanderstöcke, die Partner und Stützen, die uns auf dem praktischen Weg begleiten. Die Übersetzung für abhyāsa und vairāgya kann auch lauten “Übung“ und „Loslassen“. 

Vielleicht denkst Du jetzt: ach so! Ja, klar. Easy. Hab ich neulich was in einem Lifestyle-Magazin zu gelesen. Loslassen, kein Problem für mich. Ich hab neulich sogar meinen Kleiderschrank ausgemistet und drei große Säcke Klamotten weggeschmissen! Das war echt eine Übung! 

Nee, Leute, also das ist nicht gemeint. So einfach wird es leider nicht. Denn es geht nicht um Materielles:

YS 1.13 tatra sthitau yatno-‚bhyāsaḥ 

Die intensive Bemühung um diesen Ruhezustand ist die Übung (Abhyāsa)

Es gibt viel Mi.ssverständisse um abhyāsa. Super Ehrgeizyogis, die erst sechs  Liter geschwitzt haben müssen und sich permanent auspowern müssen, um sich erleuchtet zu fühlen, nutzen abhyāsa als Rechtfertigung für ihren Übereifer. Andere wieder meinen, wenn sie nur lange genug rumsitzen und dabei OM singen, dass sie dann Fleißbienchen bekommen und besser Yoga üben und weiter sind als andere. 

Es stimmt schon, abhyāsa ist, wenn man so will, der aktive Part. Das Dranbleiben, das intensive Bemühen, das Nicht-LockerLassen. Deswegen heißt es auch im nächsten Sutra:

YS 1.14 sa tu dīrghakāla nairantarya satkāra-āsevito dṛḍhabhūmiḥ 

Die feste Grundlage dieser Übung ist nur gegeben, wenn sie sie lange Zeit ununterbrochen und mit Leidenschaft vollzogen wird. 

So, nimm das, Yogi. Weggefährte. Wanderer. Sinnsucher. Von nix kommt nix. Hau rein.

ABER: Was denn? Schauen wir noch mal auf den Text: „Die intensive Bemühung um diesen Ruhezustand ist die Übung“ – genau: Ruhezustand. Sthiti auf Sanskrit. 

Das ist die Pause im Bewusstsein zwischen zwei vṛttis, den Bewegungen des Geistes, Ihr erinnert euch. 

Also nochmal: Yoga ist citta-vṛtti-nirodhaḥ. Und wenn wir durch Übung unseren Geist zur Ruhe bringen, wenn wir das schaffen, dann entsteht: genau: eben ein ruhigerer Geist, ruhigere Gedanken, weniger Gedanken, weniger Vṛttis. Und da die Zeit weiter läuft, entstehen logischerweise längere Pausen OHNE vṛttis. Das ist die Idee! Wir durchbrechen das endlose innere Geplappere und Gegrübel und bauen Pausen ein. Das ist sthiti. Das ist die Übung. Das ist echt kompliziert, aber wer hat gesagt, dass es leicht wird mit der Erleuchtung? 

Wir üben, wir bemühen uns, voller Leidenschaft, voller Beharrlichkeit, um, ja was? Um Ruhe zu kreieren. Das klingt wie ein Widerspruch, denkst Du sicher. Ja, das das ist es auch. Wir nennen es „Leben“. In der nächsten Folge kümmern wir uns um das Loslassen, vairāgya.

Teil 9 – Gelassenheit muss man üben – YS 1.15-1.16

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Vairāgya ist das Üben, das Dranbleiben, das Aktive und damit eine entscheidende Komponente auf dem Yoga-Weg.

In YS 1.1 bis 1.11 haben wir die erste große Wander-Etappe hinter uns gelassen. 

Wir haben einen ersten Blick auf yogaś-citta-vṛtti-nirodhaḥ — das Zur-Ruhe-Kommen des Geistes — geworfen, und Yoga als Weg und Ziel kennengelernt. Yoga ist nicht theoretisch erfahrbar, Du musst es tun.

Das Ziel der Yogareise ist Freiheit von Verstrickungen und Leid. Diese gehen nach Vorstellung des Yoga in erster Linie vom Kopf, vom „mind“ aus. Das ist citta-vṛtti.

Um diese vṛtti, diese permanenten Regungen des Geistes zur Ruhe zu bringen, muss man laut der Erfahrung der Yogis erst einmal verstehen, wie unser Bewusstsein funktioniert und welcher Mittel es sich bedient. Das waren die fünf Bewusstseinszustände, die ich in früheren Folgen besprochen habe. 

Dann wurde es praktischer: Wir haben beim letzten mal auf abhyāsa geschaut, den Weg des Übens. Wenn wir den Weg des Yoga mit einer Wanderung vergleichen wollten, dann wäre abhyāsa einer unserer Wanderstöcke, der uns sicher geleiten soll. Was sollen wir üben? Wir üben, klar, ruhiger im Kopf zu werden, dass hast Du jetzt auch schon geahnt, oder?

YS 1.15 dṛṣṭa-anuśravika-viṣaya-vitṛṣṇasya vaśīkāra-saṁjṇā vairāgyam 

Gelassenheit ist das Resultat eines Gleichgewichts im Bewusstsein, wenn das Verlangen nach allen Dingen, die man sieht oder von denen man gehört hat, erloschen ist. 

Wenn das aktive Üben der eine Wanderstock ist, dann ist vairāgya, das Loslassen, der andere. Alles was uns umgibt, die materielle Welt, deren Bestandteil wir sind, strebt nach Ausgleich und Balance. Wir sind ja nicht getrennt von der Welt, die wir wahrnehmen mit unseren Sinnen. Wir sind, um es religiös auszudrücken,Bestandteil der Schöpfung und, um es naturwissenschaftlich zu benennen, immanenter Bestandteil der Evolution. 

Alle natürlichen Systeme arbeiten daran, in der Balance, im Gleichgewicht, in der Waage zu bleiben. Das heißt nicht, dass ein ausbalancierter Zustand die Regel wäre, im Gegenteil. Aber es wird sich immer wieder einpendeln, und wenn das nicht mehr gelingt, dann geht etwas zu Grunde und etwas Neues entsteht. Im Moment ist das z.B. bei den Fichten im Wald so, die durch die Klimaerhitzung dem Borkenkäfer ausgeliefert sind. Dennoch, die Natur wird sich einpendeln in einer neuen Balance. Oder das Wetter, der Ausgleich von Druckverhältnissen durch Hoch- und Tiefdruckgebiete ist so ein System.

Der Mensch ist auch Natur. Es laufen dieselben Prozesse in uns ab wie überall in der Natur, es gelten die gleichen Gesetze. Beim Menschen nennt sich das fortwährende Streben nach innerem Gleichgewicht „Homöostase“, so regulieren wir z.B. unsere Körpertemparatur oder den PH-Wert in unserem Blut. 

Aber wie sieht es mit unserem Geist, unserem citta aus. Wie kommt der ins Gleichgewicht?

Wir sind — vielleicht erinnert Ihr Euch — Wortwesen. Unser citta, unser Bewusstsein haftet sich permanent an innere und äußere Objekte, denen wir Wörter zuweisen. Wir nehmen immer wahr, interpretieren, ordnen, bewerten. Wir haben ja auch schon gelernt, dass Yoga eine Diät ist. Eine Diät für den Hunger nach Wahrnehmung und Ablenkung. Beispielsweise üben wir im Yoga in Asanas, die Arbeit mit dem Atem oder in Meditation, diesen permanenten Hunger nach Reizen zu reduzieren. Das ist Übung, abhyāsa. Es gibt aber auch Dinge, die lassen sich nicht üben. Vairāgya, das Loslassen, ist etwas, was sich aus dem dauerhaften Üben ergibt. Unser YogaYa-Slogan „Gelassenheit muss man üben“ spielt eigentlich mit diesem Paradox, denn eigentlich ist das Quatsch. Ich übe (abhyāsa), aber das Loslassen, die Gelassenheit stellt sich ein, sie entsteht, sie ist ein Resultat. 

Das ist gemeint. 

Das Gleichgewicht im Geist kommt, wenn der Hunger, das Verlangen nach Reizen nachlässt. Wenn also auch das aktive Suchen und Üben nachlässt. 

Wenn ich z.B. eine Sucht, die ich habe, übe zu bekämpfen, dann ist das abhyāsa. Wenn es gelingt, mich von dieser Sucht, von diesem Haben wollen, Stück für Stück durch Übung zu lösen, dann entsteht Freiheit in mir. Die Freiheit war schon immer da, ich muss sie nicht erschaffen, ich muss sie nur zulassen. 

YS 1.16 tatparaṁ puruṣa-khyāteḥ guṇa-vaitṛṣṇyam 

Die höchste Stufe der Gelassenheit entsteht aus der Erfahrung des wahren Selbst. Dann verlieren selbst die Grundeigenschaften der Natur ihre Macht. 

So langsam tauchen wir tiefer in die Stufen zu citta-vṛtti-nirodhaḥ. Freiheit durch Üben und Loslassen, das können wir noch ganz gut verstehen, finde ich. 

Hier geht es darum, dass jenseits des — ich sag mal so — einfachen Loslassens noch ein weiteres Loslassen auftaucht, das noch viel viel weiter geht. Die Idee ist, dass das nicht mehr Wählen und Wollen-müssen so weit geht, das eine tiefe Erfahrung des großen Ganzen möglich wird. Eine Verbindung des kleinen Selbst mit dem Universellen, dem Kosmos, der wahren Natur möglich wird. Das meint das Wort mit puruṣa

Du merkst schon, es wird jetzt langsam etwas komplizierter, aber ich lade Dich ein, dabei zu bleiben und nicht aufzugeben, jetzt, wo es langsam richtig spannend wird. 

Das große Ganze, das wahre Selbst? Was ist gemeint? Einige würden sagen, „keine Ahnung, was soll’s, da war nicht nie und da komm ich nie hin“. Vielleicht stimmt das aber nicht. Vielleicht waren wir alle schon da. In einem Zustand, in dem sich die üblichen Dinge aufzulösen scheinen und einfach alles, alles passt und nichts mehr Dein Gefühl von Freiheit trübt? Vielleicht auch nur ganz kurz? Oben, auf dem Berg, beim Hören von Musik, beim Tanzen? Beim ich-weiß-nicht-was. Momente, die sich anfühlen, als löste sich alles auf in Harmonie? In denen der Kopf leer ist und zugleich alles in Fülle erblüht? Das ganze Leben, und darüber hinaus? Warst Du schon mal da? 

Ich bin mir sicher, dass es so ist. 

Teil 10 – Exkurs: die Gunas und die drei Zustände der Materie

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Der Mensch liebt Dreieckskonstruktionen. Die drei gunas, oder Grundeigenschaften allen Seins, gehören auch dazu. Die gunas, das sind sattva, rajas und tamas. Sattva ist das Klare, das Reine, rajas ist Aktivierende und tamas das Hemmende.

Heute ist die zehnte Ausgaben meiner Philosophiereihe am Start. Toll, dass Ihr dabei seid. Wir machen heute zum kleinen Jubiläum einen Klassenausflug, einen kleinen Exkurs, sozusagen. Denn wir müssen uns zum weiteren Verständnis des Yoga-Sutra um ein wichtiges philosophisches Konzept kümmern, dass so grundlegend ist, dass es von Patañjali gar nicht erst erklärt, wohl aber als selbstverständlich vorausgesetzt wird.

Gemeint ist das Konzept der drei gunas. Die drei gunas, oder Grundeigenschaften allen Seins, das sind sattva, rajas und tamas. Sattva ist das Klare, das Reine, rajas ist Aktivierende und tamas das Hemmende. Das sind im indischen philosophischen Grundverständnis die drei gewissermaßen metaphysischen Grundkräfte, die in unterschiedlicher Zusammensetzung die materielle Welt, den Kosmos, die Evolution und damit auch uns antreiben.

Ich komme später noch genauer darauf zurück. 

Nicht nur in Griechenland wurde in der „alten Zeit“ viel gedacht und philosophiert, sondern auch in vielen anderen Teilen der Welt. Es ist äußerst spannend, auf die Zeit von ca. 500 vor unserer Zeitrechnung bis ca. 500 nach Christus unter diesem Aspekt zu schauen. Salopp gesagt wurde hier so ziemlich alles, was Menschen so denken und schlussfolgern können, schon einmal gedacht. In den Buchtipps findest Du eine tolle Empfehlung dazu zum Weiterlesen. Das Buch heißt „Der große Umbruch“ von Karen Armstrong.

Warum diese Zeit im Wesentlichen alle bis heute wichtigen Denkschulen und Religionen hervorbrachte, ist durchaus umstritten. Wahrscheinlich spielen Ernährung, Klima und zahlenmäßige Ausdehnung des Menschen eine große Rolle. Sicher ist aber, dass die Menschen schon immer die ähnlichen Fragen gestellt haben,  nämlich nach Sinn, Herkunft, Zukunft, und dem großen „Danach“ – und in dieser Zeit offenbar genug Kapazitäten hatten, sich um diese Fragen zu kümmern.

Es ist eigentlich unglaublich, dass wir so wenig in wissen über die philosophischen Schulen Indiens. 

Manche sagen, dass das wegen des typischen Eurozentismus’ ist, manche sagen: Hegel ist schuld. Er konnte Indien wohl nicht so gut leiden, hat aber maßgeblich dazu beigetragen, den Kanon festzulegen, den wir heute als „philosophische Tradition“ bezeichnen. 

Wie dem auch sei: fast alle großen Schulen des Denkens lieben Dreieckskonstruktionen. Was ist gemeint? Zwei Kräfte reichen meistens nicht aus, um große Phänomene des Menschseins zu erklären. Wir sagen ja auch: Das Leben ist nicht schwarz oder weiß, sondern voller Grautöne. Im Christentum kennen wir die Dreifaltigkeit von Vater, Sohn und Heiligem Geist. Das ist ein theologisches Konstrukt, um das neutestamentarische Weltbild auf stabile Beine zu stellen. Auch die Philosophie Hegels kennt eine mächtige Dreieckskonstruktion, nämlich die berühmte „These, Antithese, Synthese“. Nein, das kommt nicht ursprünglich von Marx.

Machen wir uns klar: Alles, was drei Beine, drei Säulen hat, ist super stabil: der Hocker, ein Kamerastativ, ein Tisch mit drei Beinen. Dreibeinige Möbel können nicht wackeln. Vielleicht ist es dieses Prinzip, das es attraktiv auch für geistige Modelle macht. Im indischen Denken sind z.B. auch drei göttliche Wesenskräfte nötig, um die Geschicke und Missgeschicke der Welt zu lenken: die Götter Brahma (der Schöpfer), Vishnu (der Erhalter) und Shiva (der Zerstörer). Im Ayurveda, der medizinischen Lehre Indiens sind es die Grundnaturen pita, kapha und vata.

Die drei gunas, um darauf zurückzukommen, bilden die drei Grundqualitäten jeder Materie, die sich nicht mehr weiter reduzieren lassen. Das klingt fast wie Physik — und das nicht zu Unrecht. Denn aus dem Denken über die Welt, den Fragen der Philosophie leiten sich auch die die Fragen der Physik ab. 

Wenn wir unser Bewusstsein studieren wollen im Yoga, dann reisen wir hier bis zum Kern, zu den kleinsten Elementen. 

Die drei gunas machen die Qualität allen Seins aus, sie sind in allem, was in der Welt ist, in jedem Gemüse, jedem Fischbrötchen, jedem Stein, jedem Baum und auch in jedem Gedanken. Auch unsere Gedanken haben träge Eigenschaften (das ist tamas), sie können scharf und treibend sein (das ist rajas) oder auch klar und rein (das ist sattva). Das ist gemeint. Der Yogi strebt danach, „sattvisch“ zu leben, klar und rein, ohne Schärfe und ohne Tumbheit. 

Es gibt nach diesem Konzept auch z.B. Essen, das sattva ist, z.b. mildes gewaltfrei hergestelltes Essen, oder eher rajas, wie scharfe Gewürze und Tamas, wie fettige Gerichte. 

Daher werden die Gunas bei uns oft wahrgenommen als etwas Anstrebenswertes (wie sattva) oder etwas, was man vermeiden sollte (wie tamas, das Dunkle und Träge),  aber eine solche Wertung ist problematisch. Jede Kraft, jede Qualität ist nötig, um ein Gleichgewicht zu schaffen. Es braucht das Aktive, wie das Passive, um sattva, das Ausbalancierte zu kreieren. 

Die Gunas liegen nie in Reinform vor: sie sind immer zu unterschiedlichen Anteilen in allem enthalten. 

Und das ist ganz ähnlich wie wir es aus der modernen Quantenphysik heute kennen, dass es Zustände des „dazwischen“ gibt, also weder positiv noch negativ, weder 0 noch 1 weder wahr noch falsch. 

In der letzten Folge haben wir über das aktive Üben und das Loslassen gesprochen als Weg zu citta-vṛtti-nirodhaḥ, erinnert Ihr Euch? Abhyāsa, das Aktive, und vairāgya, das Loslassen. Dann hieß es im Originaltext: tatparaṁ puruṣa-khyāteḥ guṇa-vaitṛṣṇyam

Hier ging es um das große Loslassen, und Patañjali sagt: wenn dass geschieht, wenn wir uns mit unserem Wahren Selbst, dem nicht Materiellen verbinden, dann haben wir durch Yoga sogar die Möglichkeit, uns aus der Verhaftung dieser Grundqualitäten, der Gunas zu lösen. 

Bevor Du jetzt sagt, also nee, das ist mir jetzt echt was zu dolle, möchte ich Dich noch mal dran erinnern, dass wir es es bei all den Worten, den Versuchen, unsere Existenz zu erklären, immer mit Konzepten zu zu tun haben. Du erinnerst Dich? Die Brille, die wir auf haben? Unsere Perspektive auf die Welt? Genau. Wir kommen nicht raus aus der Verstrickung unseres Bewusstseins, aber wir sind doch so frei, unseren Verstand auch dazu zu benutzen, Ideen zu entwickeln, wie es alles zusammenhängen und wohin die Reise gehen könnte. Toll oder? 

Teil 11 – Schritt für Schritt vorankommen – YS 1.17

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Samadhi, die Erleuchtung, ist ein großer Brocken. Aber Yoga ist auch ein langer Weg. Ein lebenslanger Weg. Wir haben unseren Rucksack gepackt, unsere Wanderstöcke liegen gut in der Hand, die Trinkflasche ist voll und die Schuhe geschnürt. Auf geht’s zum Gipfel der Erleuchtung.

Patañjali hat uns bisher mitgenommen auf eine Reise, deren erste Etappen wir in den Yoga-Sutras 1.1. – 1.16 gegangen sind. Zunächst hat uns das Yoga-Sutra aufgefordert, anzufangen und Yoga zu einer Erfahrung zu machen. Wenn wir unseren Geist zur Ruhe bringen, so Patañjali, dann kommen wir an die Ursache von Leid und Übel. Wahre Freiheit entsteht, wenn wir uns aus unseren permanenten geistigen Verstrickungen lösen können, dem permanenten Wählen und Bewerten, dem Hin- und Her unserer Gedanken. Das ist nicht so leicht, und deswegen empfiehlt Patañjali eine Mischung aus beharrlichem Üben einerseits und Loslassen andererseits; das waren abhyāsa und vairāgya. Was wie ein Widerspruch erscheint, ist eigentlich das gleiche Thema von zwei unterschiedlichen Seiten betrachtet. Manches ist ohne Üben und Disziplin nicht möglich, manchmal geschieht es aber erst, wenn man aufhört, zu wollen. Das kennst Du sicher auch. 

YS 1.17 vitarka-vicāra-ānanda-asmitā-rupa-anugamāt-saṁprajñātaḥ

Diese vollkommene Erkenntnis entsteht schrittweise aus Ahnung, Erfahrung, Freude und schließlich Einheitswahrnehmung. 

Ab heute geht es um den Weg zu samadhi, der Erleuchtung. Ich lasse im Moment noch mal die Frage beiseite, ob wir das eigentlich wirklich wollen oder können. Bleiben wir beim Bild der Wanderung, das wir schon oft benutzt haben. Wir wollen schon am Ende den Gipfel erreichen. Der Gipfel wird im Yoga mit dem Wort samadhi bezeichnet. Samadhi wird oft auch mit Erleuchtung, Ekstase oder tiefer Versenkung übersetzt. Es gibt mehrere Stufen davon, heute geht es um die erste große Stufe, man könnte auch sagen die Berghütte vor dem letzten Gipfel. 

Samadhi ist ein großer Brocken, aber Yoga ist auch ein langer Weg. Ein lebenslanger Weg. Patañjali weiß das natürlich und er will uns nicht den Mut nehmen. Wir haben unseren Rucksack gepackt, unsere Wanderstöcke abhyāsa und vairāgya liegen gut in der Hand, die Trinkflasche ist voll und die Schuhe geschnürt. Auf geht’s zum Gipfel der Erleuchtung.

Wir wissen ja auch bei einer wirklich herausfordernden Wanderung nicht unbedingt, ob wir es bis zum Gipfel schaffen, viele Hindernisse können auf dem Weg auftauchen, das Wetter kann umschlagen, Du kannst Dir den Fuß verstauchen oder einfach den Mut verlieren. Vielleicht reicht es ja aber auch völlig, bis zur Berghütte zu kommen. 

Dieses Sutra will uns Mut machen, wenn einem vielleicht angesichts der Herausforderung bange wird. Wir peilen eben erst mal die Berghütte kurz vor den Gipfel an, dann können wir noch weitersehen. Das Wort dafür in diesem Sutra ist saṁprajñātaḥ. Es bedeutet eigentlich „vollkommenes Wissen“. Vollkommenes Wissen ist sozusagen „üb-bar“. 

Wir steigen langsam höher, Etappe für Etappe. Schrittweise. Und lassen auf diese Weise unseren Kleinmut, unsere Befürchtungen, unsere Zweifel hinter uns. Das Wissen über unsere Fähigkeiten, das Wetter, den Berg, hilft uns. Dieses Wissen ist ein gutes Gefühl, das ist vitarka. Dann, die Berghütte erscheint schon als kleiner Punkt am Horizont entsteht, vicāra, tieferes Wissen. Das Wissen, dass nicht mehr die Details braucht, sondern für tiefere Befriedigung sorgt. Und schließlich sogar ānanda und asmitā. Ānanda und asmitā sind zwei wundervolle Sanskritwörter. 

Ānanda ist Glückseligkeit und Asmitā ist wörtlich das „Ich-Bin-Gefühl“.

Wow. Also, wenn wir beharrlich üben und fähig sind, auch loszulassen, dann können wir tiefes Wissen über unser Ziel erfahren, wir können glückselig werden und uns völlig eins fühlen, „Ich mit der Welt“. Das alles, ohne den absoluten Gipfel zu erreichen. Das ist doch was. Cool.

Ich mag deshalb das Bild der Wanderung, denn beim Wandern überkommt mich manchmal etwas, was diesen beschriebenen Zuständen nahe kommt. Glückseligkeit und ein Einheitsgefühl, das jenseits von Wissen liegt. 

Wir können sagen: Erleuchtung? Echt jetzt? Nee, danke. Wir können aber auch — das ist eine Haltungsfrage — sagen, ok, lass mal gucken, kann man ja mal probieren, mal sehen, was für mich drin ist.

Klar ist aber auch, wir sind hier noch im Bereich des Machens, des Tuns, des Übens, des Ziel-Habens sind. Der linke Wanderstock, abhyāsa. Wir sind hier im Moment weiterhin mit unserem Geist verhaftet in der Welt. Es ist der Berg in diesem Fall, auf den wir wollen. Es gelingt uns zwar, wenn es gut läuft, glückselig zu werden. Der Berg und ich, wir sind eins. Es gibt keine klare Trennung zwischen dem Berg und mir, es entsteht ein wunderbares Gefühl der Einheit. ABER mein Geist braucht noch den Berg, braucht noch die Welt in ihrer physischen Existenz.

Teil 12 – Das Leben mit Mut, Zuversicht, Vertrauen und Tatkraft gestalten – YS 1.18 – YS 1.22

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Man sollte wissen, wer man ist und die Werkzeuge wählen, die einem auf dem Weg, dem Yogaweg weiterhelfen. Viele Wege führen nach Rom. Mut, Zuversicht, Vertrauen und Tatkraft sind wichtige Gefährten auf dem Weg.

Was bisher geschah. Patañjali hat uns bisher mitgenommen auf eine Reise, deren erste Etappen wir in den Yoga-Sutras 1.1. – 1.16 gegangen sind. Zunächst hat uns das Yoga-Sutra aufgefordert, anzufangen und Yoga zu einer Erfahrung zu machen. Wenn wir unseren Geist zur Ruhe bringen, so Patañjali, dann kommen wir an die Ursache von Leid und Übel. Wahre Freiheit entsteht, wenn wir uns aus unseren permanenten geistigen Verstrickungen lösen können, dem permanenten Wählen und Bewerten, dem Hin- und Her unserer Gedanken. Das ist nicht so leicht, und deswegen empfiehlt Patañjali eine Mischung aus beharrlichen Üben einerseits und Loslassen andererseits; das waren abhyāsa und vairāgya.

Wir wollen den Gipfel der Freiheit erklimmen, das bezeichnen die Yogis als samadhi, auch Versenkung oder Erleuchtung. Der Gipfel scheint aber sehr weit weg, deswegen tröstet uns Patañjali mit Erfolg versprechenden Zwischenetappen. 

Letztlich geht es darum, Zustände herbeizuführen, die uns das Gefühl von „Eins-Sein“ gestatten und solche Zustände möglichst halten zu können. Heute schauen wir uns vier Sutras auf einmal an: YS 1.18 – 1.22. Ich rezitiere sie erst auf Sanskrit und dann an einem Stück auf Deutsch. Vielleicht ist das auch ein guter Zeitpunkt, kurz was zum Rezitieren zu sagen: Ich orientiere mich an der Rezitation von Srivatsa Ramaswami, einem Schüler von Krishnamacharya, der wiederum ein Urvater des modernen Yoga war. Damit versuche ich, den Text auswendig zu lernen, mehr so als Gedächtnistraining. In weiteren Workshops unter anderem bei der wunderbaren Nitya Mohan konnte ich das dann noch verfeinern und überprüfen. Natürlich erhebe nicht den Anspruch der perfekten Aussprache und Indologen und Sanskrit-Gelehrte mögen mir meine Fehler verzeihen, aber es macht mir einfach Spaß, es so gut wie möglich zu machen und Euch ein Gefühl für die wunderschöne Sprache Sanskrit zu vermitteln. Ich gehe einfach gern durch den Wald und versuche, die Sutras zu memorieren und zu trainieren. Was das für einen Sinn macht? Keinen oder eben doch: den Geist zu trainieren. Ich bin manchmal eben etwas nerdig, wie alle Yogis.

Weitere Hinweise zu den Sutras und den Übersetzungen findet Ihr im Anhang.

YS 1.18 virāma-pratyaya-abhyāsa-pūrvaḥ saṁskāra-śeṣo-‚nyaḥ

Eine weitere Art von Samadhi entsteht aus der Übung und ist erreicht, wenn die (geistigen) Eindrücke, die aus der Wahrnehmung entstehen, fast gänzlich still geworden sind.

YS 1.19 bhava-pratyayo videha-prakṛti-layānam

Es gibt Menschen, die eine angeborene Fähigkeit zur Erkenntnis besitzen und andere mit besonderem Körper und wieder andere, deren Körper sich erst gar nicht manifestiert.

YS 1.20 śraddhā-vīrya-smṛti samādhi-prajñā-pūrvaka itareṣām

Die übrigen Menschen erreichen eine Art von Versenkung durch Vertrauen, Mut, Erinnerung und Weisheit

YS 1.21 tīvra-saṁvegānām-āsannaḥ

Durch intensive Tatkraft rückt das Ziel nahe

YS 1.22 mṛdu-madhya-adhimātratvāt-tato’pi viśeṣaḥ

Die Intensität der Übung kann dabei mild, mäßig oder stark sein

Ich gebe zu: ich interpretiere das Yoga-Sutra eher demokratisch. Alle radikaleren Yogis mögen mir verzeihen. Es gibt auch die strengere Interpretation, dass der Weg zur wahren Versenkung uns Normalos und spirituell minder Begabten nicht mehr offen steht. Im Yoga ist es wie sonst auch in der Welt: man findet immer einen radikalen Flügel, der sich eher für exklusiv hält, und es gibt einer softere Version, die zugänglicher und inklusiver ist. Das muss uns ganz klar sind. Ich kann ein Mönch sein oder im normalen Leben stehen. Ich habe die Wahl. Das Gute ist, dass das Yoga-Sutra um diesen Umstand weiß, und uns in Folge noch viele Möglichkeiten aufzeigen wird, zum Ziel zu kommen.

Außerdem ist es ja auch so: Trau keinem oder keiner, der oder die behaupten, sie wären schon angekommen, während die anderen, also Du und ich, noch nicht so weit sind. Mein Rat: am besten bleibt man bescheiden und prahlt nicht mit vermeintlichen oder tatsächlichen Früchten der eigenen Yogapraxis. Das ist nicht nur insgesamt sympathischer, sondern auch weniger manipulativ. 

Die heute von mir vorgestellten Sutras erschließen sich auch nicht so leicht. 

Zunächst geht es darum, dass wir uns — wenn wir mal im Bild der Wanderung bleiben, mit der letzten Berghütte vor dem Gipfel nicht zufrieden geben müssen oder sollen. Wir können weitergehen. Bis zum Gipfel und dann wird die Luft dünn. Das ist nicht jedem gegeben. Dann kann man möglicherweise auch Dinge erleben, die die Eindrücke des Bewusstseins ganz zurückführen. 

Und es gibt, so Patañjali, besondere Menschen, die sich gar nicht erst abrackern müssen, denen steht die Tür zur Weisheit, Freiheit und Erleuchtung einfach so offen. Ich weiß nicht, wen er damit meint, aber vielleicht gab es schon immer solche Leute, vielleicht Jesus, oder Buddha — wobei der hart um seine Erleuchtung gerungen hat. Oder Osho, ach nee, der war ein Blender und Ausbeuter. Oder der Dalai Lama, der das aber lachend bestreiten würde. Schön Vorstellung, irgendwie. 

Und es gibt sogar körperlose Wesen, die sich gar nicht erst manifestieren? Das klingt eher magisch und so ist es wohl auch gemeint. 

Okay, das ist uns, die wir mitten im Leben stehen, nicht so verständlich. Aber bevor wir uns frustriert abwenden, lesen wir weiter. Und das Sutra 1.20 holt uns wieder auf den Boden zurück mit dem ganz wichtigen Hinweis: 

Allen anderen, also uns, helfen Mut (śraddhā), Vertrauen und Tatkraft (vīrya), sowie ein tiefes Verständnis vom Ziel (smṛti) weiter. Und je intensiver wir uns bemühen, desto näher werden wir dem Ziel kommen. 

Mut, Zuversicht, Vertrauen und Tatkraft, damit können wir doch was anfangen. Das ist typisch für das Yoga-Sutra, es zeigt immer mehrere Wege, damit jede und jeder etwas finden kann, was funktioniert. Viele Wege führen nach Rom. 

Als Rheinländer mit westfälischem Migrationshintergrund kann ich persönlich sehr viel damit anfangen. YS 1.20 ist sozusagen „mein“ Sutra. Wann immer ich verzage oder mich – wie auch immer – weit weg vom Ziel fühle, dann erinnere ich mich an dieses tolle Sutra. Ich habe das Glück, von tiefem Vertrauen durchdrungen zu sein. Das ist der Rheinländer in mir. „Et hätt noch emmer joot jejange“ – das ist sozusagen Sutra 3 der Rheinischen Philosophie und Übersetzung von śraddhā, Vertrauen. Die Tatkraft beziehe ich eher aus meiner tiefer verborgenen westfälischen Natur. Na, ich mache nur Spaß. Man sollte wissen, wer man ist, und die Werkzeuge wählen, die einem auf dem Weg, dem Yogaweg, weiterhelfen. Den Rest lässt man weg. 

Wenn Du Lust hast, kannst Du ja mal überlegen, was Dich besonders gut voranbringt. Damit meine ich nicht Dinge von außen, sondern innere Quellen, aus denen Du schöpfen kannst. 

Wir werden in den folgenden Sutras noch viele weitere Vorschläge und Alternativrouten kennenlernen. Ich hoffe, Du bist dann wieder dabei. 

Teil 13 – Om und Amen – YS 1.23 – YS 1.29

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Kommt Yoga eigentlich ohne Gott aus? Und was soll das bedeuten? Manche sagen ja, Yoga sei eine Ersatzreligion. Das sind alles zu statische Schubladen. Yoga ist viel mehr und hängt vor allem von Deiner Perspektive ab. In diesem Teil geht es um īśvara, die Hinwendung zu Größeren.

Heute beginne ich mit meinem Lieblingswitz:

Wie heißt die rheinische Gottheit mit einem Buchstaben? Genau. Jott.

Darum geht es heute. Um Gott, das Göttliche, das Übergeordnete, das Größere. Auf Sanskrit: Iśvara.

Bislang haben wir ja gelesen, dass es im Yoga letztlich um den Weg zur Freiheit geht. Freiheit entsteht, wenn wir uns mit unserem Geist nicht ständig hin- und herreißen und ablenken lassen, sondern wenn wir unsere Gedanken zur Ruhe bringen. Dann können wir erkennen, dass das, von dem wir glauben, dass es wichtig ist, oft gar nicht relevant ist. 

Dieses Anhaften, das permanente Bewerten, das Immer-nur-aus-der-begrenzten-eigenen-Perspektive-auf-das-Leben-schauen, hält uns von der klaren Sicht ab. Dieser Weg zur Versenkung, zur Freiheit oder auch Erleuchtung, ist ein langer Weg aus Übung und Loslassen. Nur ganz wenigen ist diese Freiheit von Natur aus gegeben, die meisten von uns müssen hart daran arbeiten. Und jetzt kommt das Göttliche ins Spiel:

YS 1.23 īśvara-praṇidhānād-vā 

Auch durch Hingabe an ein ideal gedachtes Wesen kann das Ziel erreicht werden.

YS 1.24 kleśa karma vipāka-āśayaiḥ-aparāmṛṣṭaḥ puruṣa-viśeṣa īśvaraḥ

Iśvara ist ein besonderes Wesen, das unberührt ist von leidvollen Spannungen und daraus bedingten Handlungen und Folgen (Karma) und unberührt ist von den Ablagerungen der Psyche.

YS 1.25 tatra niratiśayaṁ sarvajña-bījam

Iśvara ist unübertroffen und der Ursprung von allem Wissen.

YS 1.26 sa eṣa pūrveṣām-api-guruḥ kālena-anavacchedāt

Iśvara ist Jener und Dieser, sogar der Lehrer der Ersten, er ist unberührt von der Zeit.

YS 1.27 tasya vācakaḥ praṇavaḥ

Die stete Wiederholung von OM mit diesem Sinn führt zur spirituellen Ausrichtung

YS 1.28 taj-japaḥ tad-artha-bhāvanam

OM ist ein Symbol für iśvara.

YS 1.29 tataḥ pratyak-cetana-adhigamo-‚py-antarāya-abhavaś-ca 

Durch diese Praxis offenbart sich das unveränderliche Selbst und alle Hindernisse lösen sich auf.

Tja, Ihr erinnert Euch an mein Bild von der Bergbesteigung? Mir kommt ein Erlebnis aus einem Urlaub in den lykischen Bergen in der Türkei in den Sinn: Stundenlang erklommen wir in großer Hitze den Gipfel eines Berges, es war wirklich anstrengend. Und dann, oben angekommen, blickten wir auf eine Station mit Seilbahn, ein Café und eine große Terrasse mit freudig hüpfenden Touristen auf Selfiejagd. Ja, so ist das manchmal.

Menschen, denen es gegeben ist, an Gott oder Göttin zu glauben, haben hier eine Alternative zum dem mühsamen Abrackern mit Übung und Gelassenheit. Menschen, die in Lage sind anzubeten, einem göttlichen Prinzip zu folgen und dadurch tiefe Freiheit und Versenkung finden, haben hier eine echte Abkürzung. Sozusagen die Seilbahn direkt nach oben. 

Patañjali — das ist ganz wichtig, noch mal zu wiederholen — geht es hier nicht um Gebote, Du sollst dies und jenes tun! Das und jenes ist verboten usw.  

Yoga ist dafür viel zu pragmatisch. Es geht immer um die Freiheit des Menschen, und viele alternative Routen und Weg dorthin stehen zur Verfügung. Praktisch eigentlich. 

Menschen, die staunen und hinterfragen, haben es mit dem göttlichen Weg nicht so leicht, aber für die kommt später auch noch was. 

Aber bleiben wir bei iśvara. Die Hingabe an das Göttliche ist eine starke Kraft, wenn man denn ein glaubender Mensch ist.

Unter Experten wird viel darüber diskutiert, ob denn nun Yoga eine dualistische Philosophie ist oder nicht. Das bedeutet: hier sind wir und da ist Gott. Oder ob es eher ein monistischer Ansatz ist, der davon ausgeht: alles ist eins, wir sind nicht getrennt von Gott. 

Ich bin weder Indologe noch Theologe, aber nach meiner Auffassung ist das zu kategorisch gefragt. 

Es hängt — wie immer — stark von der Perspektive des Fragenden ab. Und letztlich ist es egal. Wenn Dein Glaube eher vom Schöpfergott ausgeht, der die Welt schöpft ,und vom Menschen, der die Welt bevölkert und Gott verehrt, dann ist es eher ein Dualismus. 

Wenn Du glaubst, dass das Göttliche sich in jedem und jeder von uns manifestiert und nicht getrennt ist, dann ist es eben so. 

Das Wort iśvara ist natürlich das Göttliche in dem Sinne, das es über dem steht, was der Mensch überschauen kann, und damit kann ich auch als Atheist leben. In YS 24 wird ja genau das auch erklärt: Gott ist ein puruṣa, also ein besonderes Selbst, das nicht den Verstrickungen und Leiden der Menschen unterworfen ist, das frei ist von den geistigen (wörtlich) „Ablagerungen“ (āśaya) gemeint ist die Psyche.

Diese Passage stellt die Idee, das Konzept, vor, das es etwas geben muss, das von all dem, was uns Menschen ausmacht, unbefleckt ist. Ich benutze mal bewusst dieses sehr christliche Wort. Und ja: natürlich steckt darin ein dualistischer Gedanke! Denn wenn wir armen Menschwürmchen uns erst einmal der Nichtigkeit unserer Existenz bewusst sind, dann brauchen wir ein Trostpflaster und Heilung. Das war schon immer und zu allen Zeiten und in allen Kulturen das Hauptmotiv zur Erfindung von Göttern.

Wenn es Dir hilft, auf diese Weise in einen Zustand der Versenkung zu gelangen: herzlichen Glückwunsch, OM und gut. 

Apropos „OM“ – Du kennst natürlich diese berühmte Silbe. 

OM steht als Silbe für Gott. Und YS 1.28 und 1.29 sagen, dass wir uns über das Singen, Murmeln und Rezitieren dieser Silbe der Bedeutung Gottes nähern und alle Hindernisse auf dem Weg zu Erleuchtung überwinden können. Halleluja! 

In der Tat: wenn wir ein schönes Wort immer wieder vor uns hinsingen, bringen wir unser Bewusstsein in ein anderes Fahrwasser, das ist ebenfalls eine in allen Kulturen bewährte Technik. 

Das „OM“ ist allerdings insofern besonders, weil es nicht den Anspruch erhebt, eine Bedeutung zu haben. Im Gegenteil: OM ist Ausdruck des Dilemmas, dass man sich eigentlich kein Wort für Gott bilden kann, denn Gott ist so groß, dass er oder sie sich jedes Wortes entzieht. OM soll diese Silbe sein, die etwas beschreibt, wofür es eigentlich keine Beschreibung gibt. OM ist die Silbe, die uns Wort-Menschen ermöglicht, ein Wort zu haben für etwas, was über den Worten steht. Lustig. Ein Widerspruch eben. 

So, jetzt mache ich für heute Schluss. Bis zu nächsten Folge. OOOMMMM.

Teil 14 – Yoga gegen Depression und Enge – YS 1.30 – 1.32

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Die Hindernisse halten Dich nicht von Yoga üben ab. Im Gegenteil: Sie werden Dir in der Form überhaupt erst begegnen, nachdem Du Dich auf den Weg gemacht hast. Es geht hier um die Faktoren, die Dich daran hindern werden, Deinen Geist zur Ruhe zu bringen. Und diese Hindernisse sind uns allen sehr gut vertraut.

Viele Wege führen zur Erleuchtung. Erleuchtung heißt, dauerhafte innere Freiheit zu erlangen. Gemeint ist Freiheit von etwas, Freiheit von Ablenkung, von Verwirrung und Verhaftung. Wahre Freiheit entsteht aus dem Zur-Ruhe-Kommen des Geistes, ist also etwas, was in unserer eigenen Hand liegt. Freiheit muss uns nicht geschenkt oder gegeben werden. Das bedeutet aber auch Verantwortung und Handlungsbereitschaft, denn von nichts kommt nichts. Yoga ist der Weg zur Freiheit. Wenn wir unser Bewusstsein studieren, fleißig üben aber auch in der Lage sind, loszulassen, sind wir auf einem guten Weg. Manche Menschen gelangen durch Hinwendung zum Göttlichen weiter, manchen ist das nicht gegeben. 

Heute geht es um die Hindernisse auf dem Yoga-Weg. Ihr ahnt es schon: auch die Hindernisse sind aus Yoga-Sicht in erster Linie Kräfte, die in uns selbst schlummern.
Ich liebe Yoga dafür, dass es uns ermuntert, selbst die Verantwortung zu übernehmen für unser geistiges und körperliches Glück und auch für das, was dem entgegensteht.

YS 1.30 vyādhi styāna saṁśaya pramāda-ālasya-avirati bhrāntidarśana-alabdha-bhūmikatva-anavasthitatvāni citta-vikṣepāḥ te antarāyāḥ 

Diese Hindernisse (antarāyā) sind: Krankheit (vyādhi), Trägheit (styāna), Zweifel (saṁśaya), Selbstüberschätzung (pramāda) , Faulheit (ālasya), Ungeduld (avirati), Fehleinschätzung (bhrāntidarśana), Mutlosigkeit (alabdha- bhūmikatva), Unbeständigkeit (anavasthitatvā).

YS 1.31 duḥkha-daurmanasya-aṅgamejayatva-śvāsapraśvāsāḥ vikṣepa sahabhuvaḥ 

Leid, Depression, Unbeherrschtheit, Verlust der Atemkontrolle sind Symptome dieser Trübung.

YS 1.32 tat-pratiṣedha-artham-eka-tattva-abhyāsaḥ

Diese Hindernisse werden bekämpft, wenn Abhyāsa, das beharrliche Üben, auf ein Ziel gerichtet ist.

Auf den ersten Blick ist es klar, was hier gemeint ist. Wenn Du krank, zerstreut, trübsinnig etc. bist, dann wird es schwer mit dem ruhigen Geist. Soweit so klar. Wenn ich beim Wandern auf den Gipfel zu unachtsam bin, breche ich mir den Fuß, und dann wird es nichts mehr. 

Das ist eigentlich banal, und ich habe mich lange gefragt, warum das hier bei Patañjali so steht, denn es ist ja eigentlich klar.

Außerdem: heißt das, dass ich, wenn ich krank bin, dass ich dann keinen Erfolg auf dem Yogaweg haben kann? Ziemlich doof eigentlich, es ist doch so, dass wir für Yoga gerade bei denen werben, die an körperlichen und psychischen Einschränkungen leiden. 

So ist es natürlich auch nicht gemeint. Tatsächlich geht es hier nicht darum, unter welchen Voraussetzungen Du nicht Yoga üben kannst, sondern tatsächlich darum, was Dir in Folge des Übens auf dem Yogaweg passieren kann. Patañjali geht ja davon aus, dass Du schon auf dem Yogaweg bist, sonst wärst du ja nicht schon bis zum Sutra 1.30 vorgedrungen, ne? 

Also. Sehr interessant. Wir wollen unseren Geist, das permanente Wählen und Entscheiden-müssen, das Hin- und Her zur Ruhe bringen. Wir üben schon vielleicht lange Yoga, machen Āsanas, atmen tief und meditieren hin und wieder. Wir haben auch schon verstanden mit Körper und Geist, dass Yoga mehr ist als nur Gymnastik, oder? Jetzt wissen wir, dass es auch um Freiheit geht und – meinetwegen ja – Erleuchtung. Und dann begegnen uns plötzlich Hindernisse, die antarāyā.

So ist das gemeint. Die Hindernisse sind die, die entstehen können, wenn Du Yoga übst! 

Also noch mal ein Blick auf YS 1.30: Krankheit (vyādhi), Trägheit (styāna), Zweifel (saṁśaya), Selbstüberschätzung (pramāda) , Faulheit (ālasya), Ungeduld (avirati), Fehleinschätzung (bhrāntidarśana), Mutlosigkeit (alabdha-bhūmikatva), Unbeständigkeit (anavasthitatvā) – das sind laut Patañjali neun Hindernisse ersten Grades, die Dir auf dem Weg begegnen werden – so oder so – und die Dich daran hindern, Deinen Geist zur Ruhe zu bringen. 

Um es noch verständlicher zu machen, will ich es so erklären: wenn Du faul auf deinem Sofa liegst, statt Dich aufzuraffen, um eine Yogaklasse zu besuchen, dann bist Du nah dran.

„Och nö, ich glaub mir geht’s heut nicht so gut und ich hab noch voll Muskelkater vom letzten Mal; außerdem war ich ja letzte Woche zwei mal da; also soll ich nun oder nicht? Eigentlich weiß ich gar nicht genau, ob mir das überhaupt gut tut. Bestimmt machen wir heute wieder Kopfstand oder irgendwas, was ich nicht gut kann. Ach, ich weiß nicht. Ich bleib lieber zuhause. Außerdem habe ich Hunger.“

So in etwa. Ich sag nicht, dass Du das schon so erlebt hast – bestimmt nicht. Aber ich schon. 

Es ist interessant, dass Patañjali erst mal mit den „kleinen“ Widerständen beginnt und dann in YS 1.31 auf die großen Themen kommt, die sich auf Dauer aus den kleinen Hindernissen ergeben. Wer sich selbst permanent im Weg steht und tausend Gründe findet, die einen hindern, der oder die entwickeln leicht Muster, die sich tiefer in die Psyche einprägen: duhkha, Druck, Leid und daurmanas, Trübsinn und Depression, aṅga ejayatva, Unbeherrschtheit und śvāsapraśvāsā, der Verlust der Atemkontrolle sind schon schwer wiegende Störungen des physischen und psychischen Gleichgewichts.

Wow. Ich bin jedesmal von den Socken, wenn ich diesen Teil des Sutra lese. Hier steht schwarz auf weiß: Druck, Depression, Ungeduld und falscher Atem sind langfristige Ergebnisse eines unruhigen, hin- und her gerissenen Geistes. 

Wie schlau die Yogis doch schon waren. Wir sehen hier auch: die Trennung zwischen Körper und Geist, mit der wir so ideen- und kulturgeschichtlich groß geworden sind, ist im Yoga nicht relevant. Der Körper braucht den Geist, und unser Geist, unser Gehirn braucht unseren Körper. Der Druck, der entsteht durch das Unruhig-Sein ist hier auch körperlich gemeint. Duhkha ist wörtlich das, was den inneren Raum verengt. Wenn Du wirklich leidest, dann spürst Du diesen Druck so zentral am Brustbein, alles zieht sich zusammen, Du möchtest Dich „verkrümeln“ — diese Enge entsteht im Kopf, aber manifestiert sich im Körper. Dann wird auf Dauer der Geist, der Intellekt, trübe und neigt zur Depression (daurmanas). Dass Dich das alles instabil macht und Dir den Atem raubt, das liegt auf der Hand. 

Wenn wir aber, so YS 1.32, uns auf das Üben besinnen, und unsere Gefühle und unsere Gedanken wieder ausrichten auf ein ein Ziel, dann können wir uns aus dieser Spirale befreien. Und Druck in Leichtigkeit, Trübsinn in Frohsinn, Ungeduld in Gleichmut und Kurzatmigkeit in Langatmigkeit verwandeln. 

Das ist Yoga. 

Teil 15 – Mit Liebe und Mitgefühl die Gedanken beruhigen – YS 1.33

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Liebe öffnet uns die Türe zu den vielen alternativen Wegen, die zur Erleuchtung führen. Liebe, Mitgefühl, Empathie, Großherzigkeit sind die Super-Power-Fähigkeiten, mit denen wir nicht nur andere beglücken können, sondern auch unseren eigenen Geist gelassen machen. Muss man aber auch üben!

Hallo, Ihr Lieben, ab heute gibt es eine kleine Änderung. Meine Zusammenfassung „Was bisher geschah“ kommt langsam an ihre Grenzen. Ist ja auch klar. Ich muss es immer mehr kondensieren, je weiter wir schon vorangekommen sind. 

Ich könnte jetzt also sagen: 

Yoga ist der Weg zur Erleuchtung. Tja, das ist eigentlich schon die Zusammenfassung. 

Das Yoga-Sutra ist ja doch sehr vielschichtig und deshalb rate ich Dir, einfach noch mal die bisherigen Folgen anzuhören, falls Du was aufzuholen hast. Kann ja nicht schaden. 

Nachdem wir uns in der letzten Folge um die Hindernisse auf dem Weg gekümmert haben, geht es heute um Liebe. Genau. Das YS 1.33 ist der wunderbare Türöffner für die so genannten alternativen Wege, die uns zur Freiheit führen. Wege, die auch all jenen zur Verfügung stehen, die nicht Ihr ganzes Leben dem Yoga widmen, also den meisten von uns. 

Und hier das Sutra 1.33, das aus meiner Sicht zu einem der schönsten und bedeutsamsten gehört

YS 1.33 maitrī karuṇā mudito-pekṣāṇāṁ-sukha-duḥkha puṇya-apuṇya-viṣayāṇāṁ bhāvanātaḥ citta-prasādanam

Sich aus innerster Überzeugung emphatisch, mitfühlend, ermutigend, und verzeihend gegenüber Menschen zu benehmen, unabhängig davon, ob sie sich in einer glücklichen oder unglücklichen Lage oder in einer erfolgreichen oder erfolglosen Situation befinden, das führt zu einem friedlichen Bewusstsein.

Dieses Sutra ist wie eine Anleitung zum GelassenSein. Wenn wir nicht mehr in unserem Bewusstsein und unseren Emotionen permanent hin- und hergerissen sind und wir friedlich werden, dann entsteht Freiheit. Wenn wir unser Bewusstsein mit einem Pendel vergleichen wollen, dann besteht die Kunst darin, das Hin- und Herschenken des Pendels zu beruhigen. 

Wir können nicht das eine Extrem mit dem anderen Extrem bekämpfen, das sagt Patañjali. Wenn das Pendel in die eine Richtung ausschlägt, z.B. wenn wir fürchterlich unglücklich sind, dann ist die Lösung aus diesem Leiden nicht, das Pendel in das andere Extrem schwingen zu lassen, denn auch ein Zustand überschwänglichen Glücks ist sehr vergänglich. 

Die einzige Möglichkeit, gelassen glücklich zu werden, ist eben, das Pendel möglichst ruhig werden zu lassen. 

Wir leben aber in der echten Welt mit all ihren Widersprüchen, Fehlern und Konflikten, mit all den anderen Menschen und Tieren und Dingen, die uns umgeben. Wir sind täglich tausendfach verstrickt und verwoben mit dieser Welt, mal reißt sie uns fort, mal nimmt sie uns mit. 

Das Yoga-Sutra 1.33 schlägt hier vor – das kennen wir schon – bei sich selbst anzufangen. Die Übung, allen Wesen liebevoll, mitfühlend, ermutigend und verzeihend zu begegnen, ist das Rezept für ein gelassenes Bewusstsein und ein gelassenes Bewusstsein wiederum führt dazu, dass sich noch mehr Liebe, Mitgefühl und Empathie in uns ausbreiten. Die Übung und das Ergebnis bedingen und durchdringen sich gegenseitig. Je mehr Liebe wir walten lassen, desto größer wird das Gute, das zu uns zurückkommt. Man sagt ja auch, Liebe ist das einzige, das größer wird, wenn man es teilt. Ein mathematisches Paradox.

Auch hier sehen wir durchaus wieder Parallelen zu den Erkenntnissen der Religionen wie des Christentums und des Islam. Aber, wie schon so oft betont, geht es im Yoga nicht um Gebote, „Du sollst nicht, Du darfst nicht etc.“ sondern um eine Notwendigkeit, die sich aus der Erkenntnis ergibt: Was braucht es? Was hilft mir, um in meinem Kopf friedlich zu werden. Denn in meinem Kopf fängt alles an, da beginnt meine innere Welt, meine Perspektive, aus der sich ableitet, wie ich mich gegenüber der äußeren Welt verhalte. Der Anspruch, der hier formuliert wird, ist eine logische Konsequenz, die sich aus dem Yoga ergibt. Ich brauche dafür keinen Papst und keine Bibel und keinen Prediger. Einmal erkannt, muss ich so aus tiefster Überzeugung handeln. 

Es ist hier nicht meine Absicht, die Religionen zu diskreditieren, ich möchte nur den bedeutsamen Unterschied herausstellen: im Yoga gibt es keinen, der Dich straft, und keinen, der Dir verzeiht. Dein Seelenheil hängt nicht von Gnade, Wohlverhalten und nicht von Sünde und Schuld ab. Yoga ist viel pragmatischer: Der Weg zu Wohlverhalten ist deswegen zu gehen, weil er Dir hilft, gelassen zu werden. 

Das ist eigentlich ein ziemlich radikaler Ansatz. Und Ja, Yoga ist auch ein radikaler Weg. Er geht wörtlich an die Wurzel. Das muss man aushalten können. 

Oft wird das aus meiner Sicht missverstanden: 

Wir reduzieren Yoga in unserer Gesellschaft ja oft einerseits auf das Körperliche und andererseits romantisieren wir Yoga mit unserer verborgenen Sehnsucht nach verloren gegangener Spiritualität. Yoga für den Weltfrieden, OM, Yoga für die Umwelt, OM, Yoga für dies, Yoga für das, OM. 

Das ist ja auch nicht falsch und nicht verwerflich und man muss dieser Tage um jeden Menschen glücklich sein, der sich für ein gutes Zusammenleben aller Wesen stark macht. Aber das ist – wie soll ich sagen – sehr weich gespült.

Der Yogaweg kultiviert den Rückzug des Menschen, das frei-Werden durch Weglassen, das Aufhören, zu wählen. Und alles, das dem dient, ist willkommen. 

Dieses Sutra enthält so wunderschöne Wörter, dass ich sie hier noch mal benennen will.

maitrī – die Liebe, die Empathie – übrigens eng verwandt mit dem Wort metta und im Moment sehr angesagt mit Maitri-Meditation und Metta-Meditation

karunā – die Hilfsbereitschaft, das Mitgefühl 

muditā – die Ermunterung, die Bestärkung, die Ermutigung

upekṣā – das Verzeihen, das „Darüber hinwegsehen“, die Fehlertoleranz

Ich empfinde es persönlich so, dass dieser Auftrag, maitrī, karunā, muditā und upekṣā zu üben, die ganz große tägliche Herausforderung ist – und das gegenüber allen Wesen, egal ob sie glücklich oder unglücklich, erfolgreich oder erfolglos, gut oder böse sind. 

Das ist so schwer, oder? Aber es wird Dich befreien. Das ist Yoga.

Teil 16 – Einatmen und Ausatmen – YS 1.34

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Unsere Atmung ist ja eigentlich ein Wunder. Sie ist wie eine gigantische Brücke zwischen unserem Unterbewusstsein und unserem aktiv ansteuerbaren Wesen und zugleich die offensichtlichste Verbindung zur Außenwelt. Die Konzentration auf die Atmung ist eine von vielen Meditationen, die das Yoga-Sutra vorschlägt, um unseren Geist zu beruhigen und sicherlich auch eine der wirkungsmächtigsten. 

Heute machen wir da weiter, wo wir beim letzten Mal aufgehört haben, nämlich bei den alternativen Wegen bzw. Methoden, die uns dabei helfen können, unseren Geist zur Ruhe zu bringen. In der Tat: Patañjali schlägt in den folgenden Sutras viele Methoden vor, um dem großen Ziel der Versenkung näher zu kommen. Diese vorgeschlagenen Methoden kann jeder und jede üben, denn nicht jeder Mensch kann den ganzen radikalen Weg des Yoga bis zum Ende gehen. Die meisten von uns sind in der Welt und mit der Welt untrennbar verbunden und wir brauchen etwas niederschwelligere Angebote.

Das letzte Mal drehte es sich um Liebe und Mitgefühl, heute geht es eher um Fragen der Versenkung durch Meditation. 

Die Konzentration oder Meditation auf eine Sache ist ein bewährtes Mittel, seinen Geist zu beruhigen. Wir sollten uns klar machen, dass „Meditation“ nichts Geheimnisvolles ist oder etwas, was für Dich oder mich nichts ist. Die Ausrichtung des Geistes auf eine Sache ist einfach eine sehr bewährte Methode, das stark hin- und her schwankende Pendel der Gedanken und Emotionen zu beruhigen.

YS 1.34 pracchardana-vidhāraṇa-ābhyāṁ vā prāṇasya

Oder durch Atemübungen mit Ausatmen und Anhalten (kann die Ruhe des Geistes) erreicht werden. 

Dieses Sutra ist der erste tolle Vorschlag von mehreren, wie es klappen kann mit dem ruhigen Geist. Diese Sutras sind wie eine Liste: oder durch dies kann es gelingen – oder durch jenes. Man kann sich zurecht fragen, ob das wirklich eine philosophische Schrift ist oder doch ein Rezeptbuch. Apropos Rezept:

Als ich dieses und die folgenden Sutras zum ersten mMal gelesen habe, habe ich irgendwie an ein Restaurant gedacht: Du guckst in die Karte und findest irgendwie nichts, was Du bestellen willst oder Dir leisten könntest.

Dann kommt ein netter Kellner, der sieht, was los ist. Er  gibt Dir ein paar Empfehlungen des Hauses: „Oder Sie versuchen es mit der Polenta mit Pfifferlingen oder mit den Tagliatelle in Weißweinsauceoder mit dem Fenchel-Risotto mit kandierten Granantapfelkernen. Dazu kann ich Ihnen ein Glas von dem Trollinger empfehlen. Oder einen leckeren Grauburgunder.“  Und schon gelingt die Bestellung. Übrigens würde ich mich in dem Fall für das Risotto entscheiden. Ich hoffe, Du hast gerade keinen Hunger, sonst bist du schon reingetappt in die Falle: Dein Geist, Dein citta, steckt gerade voll in den vṛttis, den Geistbewegungen, und versucht, mitzuwählen, zu bewerten und zu vergleichen. Ihr erinnert Euch? Yogaś-citta-vṛtti-nirodhaḥ. Das Zur-Ruhe-kommen des Geistes ist. Das ist Yoga. 

Meditation auf die Atmung ist hier der erste große Vorschlag. Wir kennen das ja alle, wenn wir einen anderen Menschen beruhigen wollen, der gerade verzweifelt ist. Dann sagen wir: erst mal ganz ruhig atmen … laaang ausatmen. Unsere Atmung ist ja eigentlich ein Wunder. Sie ist wie eine gigantische Brücke zwischen unserem Unterbewusstsein und unserem aktiv ansteuerbaren Wesen und zugleich die offensichtlichste Verbindung zur Außenwelt, zur Allwelt. Wir atmen alle dieselbe Luft. Gehört die Luft zu uns? Ist sie „ich-haft“, oder ist sie schon Außenwelt?

Machen wir doch einfach mal jetzt und hier eine kleine Praxiseinheit. Die nächsten 60 Sekunden versuchen wir, die Augen zu schließen, und nur den Strom unserer Atmung wahrzunehmen. Ganz simpel. Machst Du mit? […]

Ah, so. Wow. Hast Du durchgehalten? Ganz schön intensiv, oder? Das war nur eine Minute! Was würde wohl passieren, wenn Du das eine Viertelstunde übst oder eine Stunde?

Was wir da machen ist, die Verbindung vom Ich, vom wahrnehmenden Bewusstsein, zum (vermeintlichen) Nicht-Ich zu studieren. Im Yoga wird dieser Prozess oft als darśana, als Schau, bezeichnet. Der Schauende bin ich mit meinem Bewusstsein, und ich versuche über Übung und Loslassen immer klarer zu verstehen, ich mit der Welt verwoben bin. Die Bobachtung der eigenen Atmung ist ein gutes und mächtiges Werkzeug, um dieses Terrain zu erkunden. Denn einerseits ist sie uns sehr vertraut — das ist ja meine Luft, die ich atme. Aber andererseits ist sie eben auch sehr außerhalb von mir, ne? Das ist ja das Einatmen und das Ausatmen. Eine permanente Wechselbeziehung mit der Welt. Und die Atmung steht Dir jederzeit zum Yoga üben zur Verfügung.

Der Yoga sagt: darum musst Du Dich kümmern, Mensch. Wie hältst Du es mit der Welt, mit der Umwelt, mit dem, was ist? Wenn wir lernen, wie wir mit der Welt verbunden sind, irrlichtert unser unruhiger Geist nicht mehr so hin und her. Daraus entstehen Freiheit und Unterscheidungskraft. 

Denn eins ist uns ja sicher klar: der Mensch ist noch nicht so lange da, und die Welt hat auch schon ohne den Menschen existiert, ohne seine „Schau auf die Dinge“. Und die Welt und das Universum werden auch noch sicher lange, nachdem wir abgetreten sind, bequem ohne uns auskommen. Also: wozu der ganze Brassel? Am Ende sind wir doch auf uns selbst zurückgeworfen. Da ist keiner, der uns rettet, da ist niemand der uns Sinn gibt. Es gibt keinen Sinn. Es gibt nur das „so sein“, das wir mit dem Mittel der Meditation ergründen können. Das ist Yoga.

Teil 17 – Kontemplation auf das, was da istYS 1.35

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Es geht weiter mit den Vorschlägen, wie wir unseren Geist beruhigen können. Mit den äußeren und inneren Sinneseindrücken stehen wir ohne Unterlass in einer Wechselbeziehung. Den ganzen Tag und auch die Nacht, 24h am Tag. Was ist also näherliegend, als diese Eindrücke und Objekte für die Meditation zu nutzen?

Heute geht es weiter mit den alternativen Wegen. Wir sind ja mittlerweile im sehr praktischen Teil des ersten Kapitels angekommen. Patañjali nimmt uns sozusagen an die Hand und breitet vor uns eine Schatzkarte aus. Der Schatz, den wir finden wollen, ist in Dir selbst versteckt: nämlich das gelassene Bewusstsein, der ruhige Geist.

Und wenn Du — so wie ich auch — dafür etwas tun musst, und Dir das nicht von Natur aus geschenkt ist – solche Leute soll es ja geben – also, wenn Du den ruhigen Geist trainieren musst, dann gibt es viele Möglichkeiten. Zum Beispiel die Kultivierung von Liebe und Mitgefühl oder die Atemübungen. Das hatte ich Dir in den letzten beiden Folgen vorgestellt. 

Das ist aber noch nicht alles. Die folgenden Sutras zeigen vier weitere spannende Vorschläge auf, wie Du den Schatz heben kannst. Bestimmt ist auch für Dich etwas dabei. Heute geht es um Kontemplation:

YS 1.35 viṣayavatī vā pravṛtti-rutpannā manasaḥ sthiti nibandhinī

Oder durch Kontemplation über Objekte und Eindrücke, was eine Stabilität und Bündelung des Geistes bewirkt.

Um es noch mal klar zu machen: der Yoga-Weg bedeutet: „Erfahrungen sammeln“ und „Üben“ – er ist viel pragmatischer und unesoterischer als der Ruf, den Yoga hierzulande oft hat. Nimm Dir das, was passt. Sei nicht dogmatisch und verbissen, das entfernt Dich nur vom Ziel. Löse Dich von der Moral des „Du musst dies“ und „lass jenes“. 

Und so, wie es auf einer Schatzkarte viele Wege gibt, gibt es eben auch im Yoga viele Wege … nicht jeder ist für Dich gemacht. Du musst es ausprobieren. Lieber den langen, steinigen Weg, oder die steile Abkürzung? Oder ist es einfach nur der markierte Wanderweg?

Im heutigen Sutra wird die Möglichkeit vorgestellt, den Geist zu beruhigen, indem man sich auf Objekte und Eindrücke konzentriert.

Das klingt erst mal seltsam. Was ist gemeint? Du weißt ja schon: unser Geist ist immer in Bewegung, wir können die Geistbewegungen, die Gedanken, die Regungen des Bewusstseins nicht einfach anhalten. 

Stattdessen erkennen wir an: unsere Gedanken, die vṛttis, sind in ständiger Bewegung und hüpfen von einem Objekt zum Nächsten. Diese Objekte und Eindrücke – gemeint sind Sinneswahrnehmungen – können sich auf die Außenwelt beziehen, z.B. ein Baum, eine Blume, einen anderer Mensch, ein x-beliebiger Gegenstand; oder sie beziehen sich auf innere Objekte. Ein Körpergefühl, eine Emotion, ein Geräusch im Körper. Mit den äußeren und inneren Objekten stehen wir ohne Unterlass in einer Wechselbeziehung. Den ganzen Tag und auch die Nacht, 24 Stunden am Tag. 

Für die Außenwelt ist das ja noch klar: wir nehmen etwas mit unseren Sinnesorganen wahr, leiten die Wahrnehmung an unser Gehirn und das Gehirn interpretiert auf Basis vieler Faktoren und findet eine angemessene oder auch weniger angemessene Bewertung und veranlasst uns, wieder um zu handeln. 

Muster: bellender Hund im Wald läuft auf uns zu – Wahrnehmung – Stressreaktion – Interpretation – Aktion: Weglaufen. Einfach gesagt. 

Oder: Blick in den Himmel, Wahrnehmung von dunklen Wolken, Interpretation, Aktion: Schirm mitnehmen. 

Aber auch die inneren Objekte sind Gegenstand unserer Wahrnehmung. Das ist ja eigentlich irre, ne? In uns ist eine wahrnehmende Instanz, die uns permanent selbst beobachtet. 

Die meisten Prozesse in uns laufen ganz automatisch ab, ohne, dass wir sie in der Regel bemerken Hormone, P-Werte des Bluts, Kreislauf, usw. 

Hier interessiert uns der Rest: das, was wir bewusst wahrnehmen können, ein Gefühl zum Beispiel – oder ein Gedanke. 

Genau! Wir können uns selbst beim Denken zuschauen. Wir sind uns sicher einig, dass unser Gehirn diese Denkleistung vollbringt. Zum Beispiel denke ich gerade darüber nach, wie ich Euch dieses Sutra nahebringe. Ich beobachte mich beim Denken und dann schreibe ich diesen Text, denke wieder, verändere, ergänze. Wenn aber das Gehirn das Denkorgan ist, wer ist dann  noch eine Instanz dahinter? Wer beobachtet das Gehirn bei seiner Arbeit? Es muss auch das Gehirn sein, das sich selbst reflektiert. Ahh! Das ist Wahnsinn, wenn man darüber lange nachdenkt. Ok, jetzt denke ich gerade darüber nach, wie mein nachdenkendes Gehirn sich beim Nachdenken beobachtet.

Das ist so wie in einem Spiegelkabinett. Egal wo man hinschaut, sieht man unendliche Spiegelungen der eigenen Person. Kennst Du, oder?

Dieses sich schnell drehende Rad an Eindrücken und Objekten wollen wir etwas anhalten. Wir können es nicht komplett ausschalten, dann müssten wir uns umbringen, aber etwas langsamer drehen lassen, das geht vielleicht. 

Dann entsteht „sthiti“ – mehr Stabilität, mehr Resilienz, um ein zeitgemäßes Wort zu benutzen. 

„Viṣayavatī pravṛtti“ heißt wörtlich „eine sinnesobjekt-zentrierte Aktivität“. Ich nehme mir ein Objekt heraus und beobachte, wie sich mein Geist (manas) mit diesem Objekt verbindet (das ist nibandhini – darin steckt auch das Wort bandha, das Ihr vielleicht aus der Yogapraxis kennt). Diese Bindung lässt das Objekt immer deutlicher in meinem Bewusstsein erscheinen, ich ergründe es, versuche all meine Konzentration und Achtsamkeit auf dieses eine Objekt zu lenken. Dadurch wird mein Geist stabiler und nicht mehr so abgelenkt. Warum ist das so? Ganz einfach: trotz vieler gegenteiliger Bekundungen kann man nur eine Sache zu einem Zeitpunkt denken. Wenn ich meine Konzentration auf ein Objekt richte, dann ist mein Kopf nicht so abgelenkt mit all den anderen Gedanken, die mir so durch den Kopf rauschen. Das ist ganz schön herausfordernd und man braucht Zeit, um das zu lernen.

Man nennt es auch Meditation. Meditation ist ja nicht nichts-tun. Meditation ist Bündelung der Geistesaktivität auf eine Sache. Da sind wir jetzt. 

Und das Tolle ist: Gegenstand der Kontemplation kann alles sein. Ein Baum, ein Stein, ein Gefühl. Das was passt. 

Wollen wir es probieren? Eine Minute, wie beim letzten Mal mit der Atmung? Nur diesmal suchst Du Dir irgendeinen Gegenstand aus, etwas Schönes. Vielleicht etwas in der Natur oder einfach etwas, was gerade vor Dir ist. Der Gegenstand muss nicht mal da sein, er kann auch nur in Deinem Kopf sein, dann schließt Du aber besser die Augen. In der nächsten Minute versuchst Du, mit Deiner Aufmerksamkeit so gut wie möglich bei diesem Objekt zu bleiben. Es gibt nichts, was Du falsch machen kannst. Auf geht’s …

Soooo, wie war es? Vielleicht hast Du bemerkt, dass es schon ganz schön herausfordernd ist. Ich habe z.B. gerade einen sehr schönen Baum beobachtet, der draußen vor unserem Haus steht. Erst war es schwierig, dann – nach einer Weile – bemerkte ich, dass zwar mein Blick auf dem Baum bleib, aber ich in meinen Gedanken schon weg war. Dann bin ich wieder zurückgekehrt zum Baum. In der letzten Phase fühlte es sich dann ganz entspannt an. Das war eine Minute. Es kann alles mögliche passieren, wenn man so etwas macht und es ist sehr interessant, so etwas zu üben. Vielleicht hast Du Lust bekommen, diesen Weg zu üben.
Du brauchst keinen Guru dafür, es ist alles ganz einfach. Yoga ist simpel. Man muss es nur machen. Toll, oder?

Teil 18 – Alles ist Licht – YS 1.36

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Sich auf die Energie des Lichts zu konzentrieren, aus dem unser ganzes Universum gebaut ist, auch Du, ist eine weitere unerschöpfliche Quelle für die Meditation. Und eine sehr schöne Möglichkeit, sich seines Verbunden-Seins klarzumachen - z.B. mit der Orange, die Du beim Frühstück isst.

Wir sind — zur Erinnerung — bei den alternativen Wegen, die uns helfen, unseren Geist zur Ruhe zu bringen. Das große Wort „Meditation“ begleitet uns stetig bei diesem Abschnitt des Sutra. Meditation ist ja nicht nichts-tun. Meditation ist Bündelung der Geistesaktivität auf eine Sache. Da sind wir jetzt. 

Und das Tolle ist: Gegenstand der Kontemplation kann alles sein: Ein Baum, ein Stein, ein Gefühl. Das, was passt.

Heute geht es um das „innere Licht“ .Das ist auch so eine schöne Idee. Hier wird ein Objekt sogar kreiert, das so offensichtlich gar nicht da ist – oder doch?

YS 1.36 viśokā vā jyotiṣmatī 

Oder durch Kontemplation auf das innere Licht, das frei von Leiden ist (kann der Geist beruhigt werden)

Ich erinnere mich an eine Yoga Klasse vor langer Zeit. Die Aufgabe war, genau dieses innere Licht zu spüren. Spürst Du die Wärme des Lichts? Welche Farbe hat es? Spürst Du, wie es sich in Dir ausbreitet? Versuche nun zu erkennen, wie es über Dich hinaus strahlt. So in diesem Sinne … Und: was soll ich sagen. In mir strahlte gar nix und schon gar nicht darüber hinaus. Wohin ich auch schaute, kein Licht, nirgendwo.

Ich unterrichte seit vielen Jahren Yoga und ich oute mich mal hier: immer, wenn ich was spüren soll, passiert nicht viel. Es muss an meinen robusten westfälischen Wurzeln liegen oder an einer gewissen Lust am Trotz. Wenn es Dir auch manchmal so geht, dann sei nicht betrübt. Meditation ist etwa sehr Individuelles, und es gibt Vieles, das bei Dir vielleicht nicht funktioniert. Der Spaß ist, etwas zu finden, das zu Dir passt. Und da Du jetzt schon gut vertraut bist mit der Idee der inneren Freiheit, die Patañjali im Yoga-Sutra beschreibt, brauchst nichts weiter zu tun, als weiter zu probieren. 

Wenn Du etwas findest, worauf Du Deinen Geist ausrichten kannst, dann winken großartige Erfahrungen und nachhaltige Fortschritte in Sachen Gelassenheit. Das bestätigen auch moderne neurowissenschaftliche Studien mit Leuten, die viel Erfahrung mit Mediation haben. 

Kehren wir zurück zum Licht. Was ist gemeint mit „Licht, das frei von Leiden ist“? Es geht also offenbar um ein spezielles Licht. Gibt es auch ein Licht „mit Leiden“ könnte man fragen? Yoga-philosophisch betrachtet wollen wir unser Ich befreien von all den überlagernden Schichten, die uns ablenken von unserem wahren Selbst. Dieses wahre Selbst ist wie ein klarer Kristall, ungetrübt und rein. Und indem wir durch Yoga und Meditation den ganzen Schmodder unserer Bewusstseins-Trübungen wegwischen wie ein Scheibenwischer eine dreckige Windschutzscheibe klar wischt, können wir vordringen zu diesem klaren, reinen Licht, das in uns scheint. 

Klingt esoterisch? Muss gar nicht. 

Schauen wir mal von der naturwissenschaftlichen Richtung auf das Thema.

Wir sind alle aus Licht gemacht. Wenn man so will. Ohne Licht ist nichts. Die Elemente, die unser Universum, unseren Planeten und jedes Ding und Wesen bilden, haben ihre Quelle in den wärmenden Strahlen des Sonnenlichts. 

Chlorophyll ist der einzige bekannte Stoff in der Natur, der Sonnenlicht speichern kann. Es fängt dessen Energie ein und speichert sie in Pflanzen. Ohne diesen Vorgang könnte überhaupt kein Leben exis­tieren. Weil sich alle Tiere und Menschen direkt oder indirekt von Pflanzen ernähren, essen wir eigentlich indirekt Sonnenlicht. Sonnenlicht ist damit gewissermaßen der Schlüssel des Lebens.   

Und schon sehen wir, dass dieses Licht, das alles durchdringt, das universale Licht sozusagen, in uns ist. Beziehungsweise, dass wir nicht getrennt sind. Dieses Licht ist nicht abhängig von unserem Ich und unseren Identifikationen, es ist rein und klar und ohne Leiden und immer da. 

Ja, so kann man sich das auch erschließen, oder? 

Essen wir eine Orange, nehmen wir indirekt auch die Sonnenener­gie auf, die nötig war, um die Orange zu dem saftigen Obst zu machen, das wir genießen.

Jetzt hat es mit dieser Versenkung in das Thema auch bei mir geklappt mit dem inneren Licht, und es ist tagtäglich praktisch anwendbar. Ich kann mich bei jedem leckeren Bissen verbunden fühlen und mich freuen und glücklich sein über diesen Gedanken, dass alles in mir und über mich hinaus Licht ist. Du kannst das ja mal bei dem nächsten Stück Obst, das Du isst, probieren. Schau es an, mach Dir klar, wie viel Zeit, Energie und Licht, wie viel Arbeit und Ressourcen in dieses Stück Obst eingegangen sind, damit Du es es jetzt essen kannst. Und wenn Du reinbeisst, dann wirst Du eins mit diesem Stück Obst. Die Nahrung wird Teil von Dir. Das Licht, dass in diesem Stück Obst steckt, wird Dein Licht. 

Das ist Yoga. 

Teil 19 – Vorbilder finden, um die eigene Resilienz zu stärkenYS I.37

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Manchmal hilft es sehr, sich auf Menschen zu konzentrieren, die schon ganze andere Sachen erlebt haben, die als Vorbild dienen können und die Dein eigenes Hadern und Leiden relativieren und weniger wichtig erscheinen lassen. Dann kannst Du wieder Distanz zu Dir aufbauen und Dich nicht so wichtig nehmen. Das wird deinen Geist beruhigen.

Wir sind – zur Erinnerung – immer noch bei den alternativen Wegen, die uns helfen, unseren Geist zur Ruhe zu bringen.

Wenn das bei Dir mir der Meditation bislang trotz der tollen Vorschläge seit YS 1.33 nicht so richtig geklappt hat, dann hätte Patañjali weitere zur Auswahl, heute:

YS 1.37 vītarāga viṣayam vā cittam 

Oder (durch Meditation auf) Menschen, die Gier und Leiden überwunden haben.

Wir sehen hier wieder einmal den pragmatischen Charakter des Yoga-Sutra wie überhaupt den Pragmatismus von Yoga. Yoga ist eine Erfahrungslehre, die von Menschen für Menschen gemacht ist. Sie betrachtet zu Recht die subjektive Weltwahrnehmung zwar nicht als zuverlässige, aber eben einzige Perspektive des Erkenntnisgewinns. Was bleibt uns auch andere übrig, wir können die Brille unseres citta-vṛtti unseres denkenden und bewertenden Bewusstseins, nicht oder nur sehr schwer abnehmen.

Das treibt uns auch oft zur Verzweiflung, denn wir wissen alle, Du und Du und ich und alle, dass es nicht so leicht ist, sich glücklich und frei zu fühlen. Wir müssen das üben. Wir können das kultivieren, was uns stark macht und das, was uns dabei bremst, nicht weiter nähren. Vielleicht gelingt es uns dann allmählich, leichter aus den Verstrickungen unseres Egos rauszukommen. 

Der radikale Yogaweg würde da noch weiter gehen bis hin zur Überwindung des Ego, aber ich habe ja schon oft erläutert, dass diesen Weg nicht jeder Mensch gehen kann und muss. 

Manchmal, wenn es mir nicht so gut geht, dann habe ich das Gefühl, in so einer Ich-Schleife zu kreisen wie ein Flugzeug, dass noch nicht landen darf und ein paar Extrarunden drehen muss. Ich beziehe dann leichter alles was passiert, auf mich oder denke, es passiert wegen mir oder gegen mich, ich bin leichter reizbar oder sogar, was ich in der Regel sehr zu vermeiden suche, sogar leichter zu beleidigen. Dann hilft ein Trick, der hier in Sutra 37 beschrieben wird. Stell Dein Ego mal für einen Moment in die Abstellkammer und geh ein paar Schritte auf Distanz zu Dir selbst. Betrachte Dich von außen und nimm Dich nicht so wichtig. Patañjali empfiehlt, sich stattdessen auf Menschen zu konzentrieren, die diese Kunst schon besser beherrschen oder beherrscht haben und deren Glück und Freiheit nicht abhängig ist von den permanenten Schwankungen des Bewusstseins. Tja. Aber wer könnte das sein?

Normalerweise höre ich Yogalehrer und Yogalehrerinnen dann oft von Buddha, Gandhi oder Mutter Theresa oder gar Osho reden. Aber … da bin ich mir nicht sicher. Buddha ist mir zu sehr Symbolfigur, Gandhi war kein einfacher Charakter, so viel wir wissen. Mutter Theresa stellte in ihren späten Jahren dar, wie unglücklich und zweifelnd sie Ihr ganzes Leben war. Und Osho, dazu sag ich jetzt lieber mal gar nichts. 

Ich erzähle Euch stattdessen die Geschichte von Aaraon Antonovsky und der Salutogenese. Aaron Antonowksi war ein amerikanisch-israelischer Wissenschaftler, der sich nach dem 2. Weltkrieg in Studien mit Frauen beschäftigt hat, die Konzentrationslager der Nazis und andere fürchterliche Leiden überlebt hatten. Dabei fiel auf, dass viel der ehemals internierten Frauen sich trotz der extremen Stressoren, denen sie während ihres Lebens ausgesetzt waren, in einem guten mentalen Zustand sahen. Dies führte ihn zu der Fragestellung, was Menschen gesund hält, aus der letztlich das Konzept der Salutogenese hervorging.

Die Salutogenese verfolgt – vereinfacht gesagt – nicht die Frage „Warum wird der Mensch krank“, sondern eben mit der Fragestellung: „Was hält ihn gesund.“ Antonowsky kam in seinen Studien zu drei wesentlichen Bedingungen für mentale Gesundheit oder auch Resilienz, wie man heute eher sagen würden. Diese drei Faktoren sind „Verstehbarkeit“, „Handhabbarkeit“ und „Sinnhaftigkeit“. Einfach gesagt: Ich verstehe, was ich tue, Ich weiß, was ich zu tun haben und ich halte für sinnvoll, was ich tue.

Offenbar sind Menschen wie Du und ich in der Lage, selbst in schwierigen und völlig traumatischen Situationen, die wir uns nicht einmal vorstellen können, resilient zu bleiben. 

Die Salutogenese ist einer Zweig der Glücksforschung geworden, und ich kann hier heute nur kurz darauf eingehen. Was ich sagen will: wenn Du Dich um diese Zutaten kümmerst, dass Du dich orientieren kannst und Dir die Welt erklären kannst, wenn Du Dich handlungsfähig fühlst und einen Sinn für Dein Handeln siehst, kannst Du auch trotz großer Krisen gesund bleiben. 

Okay, das war jetzt ein weiter Bogen von meinen kleinen Krisen ausgehend. Aber hey! Wenn man sich scheiße fühlt ist ja gleich auch die ganze Welt scheiße. Ist sie aber gar nicht. Lenke Deine Empathie und Deinen Fokus auf Leute, die wirklich hart getroffen sind trotzdem aufrecht sind, auf Menschen, die weiß Gott anderes überlebt haben und mach Dir Dein eigenes Glück und Deine Freiheit klar. Das kann helfen. 

Das ist Yoga.

Teil 20 – Schlaf und Liebe YS 1.38 – 1.39

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Aus Träumen lernen und tiefes Wissen erlangen - das hat nicht Sigmund Freud erfunden. Das Yoga-Sutra bietet es als eine bewährte Methode an, um mehr über sich und seinen Geist zu lernen. Eine noch schönere Methode ist vielleicht, sich auf die Liebe zu konzentrieren. Die Liebe ist eine unerschöpfliche Quelle für die Erlangung tiefen Wissens über die Welt. Wie toll.

Heute geht es um Schlaf und Liebe. Bei der Frage, mit welchen Methoden wir unseren Geist beruhigen und Wege zur Versenkung beschreiten können, haben wir schon einige Vorschläge gehört in den letzten Sutras. Das der Schlaf und Träume dabei eine Rolle spielen können, ist erst mal verwunderlich. Oder? 

YS 1.38 svapna-nidrā jñāna-ālambanam vā

Oder durch Wissen, das aus einem Traum im Schlaf entsteht. 

Das Wort nidrā ist uns schon einmal ganz am Anfang des Sutra begegnet, wenn Du magst, kannst Du das in Teil 6 noch mal nachhören. 

Die alten Yogis unterschieden ja schon durch genaue Beobachtung zwischen Traum, svapna, und Tiefschlaf, nidrā. Durch Meditation auf Traum und Schlaf erlangt man tieferes Wissen (jñāna).

Jñāna ist ein super interessantes Wort mit einer tiefen philosophischen Tradition in Indien. Es bedeutet durch Erfahrung erworbenes Wissen. 

Jñāna heißt aber auch, dieses Wissen mit unserer Intelligenz immer wieder zu überprüfen. Und dann müssen wir noch über dieses Wissen meditieren, damit es zu einem intuitiven Verständnis kommen kann, das Teil unserer Persönlichkeit und unseres Wirkens werden kann. 

Wissen zu erwerben, ist ein Königsweg im Yoga; es gibt sogar eine eigene Yoga-Richtung, die Jñāna-Yoga genannt wird. 

Den Traum als Quelle zu betrachten, aus der ich Wissen schöpfen kann, ist uns zumindest seit der Traumforschung und Sigmund Freud durchaus vertraut. Unglaublich dennoch, dass die Yogis das als Bestandteil ihrer Philosophie entwickelt haben. Es wirft mich immer wieder um: diese Vielfalt und Schlauheit, mit der die Yogis zu großen Erkenntnissen gekommen sind.

Und dennoch. Was soll es mir genau bringen, über meine Träume zu meditieren? Wie geht das? Ich weiß nicht, ob Ihr viel träumt. Bei mir ist es so, dass meine Träume oft nicht unbedingt dazu beitragen, meinen Geist zu beruhigen. Oder ist gemeint, durch Meditation den Geist auch am Tag in eine Art Traumzustand zu versetzen, in Träumereien sozusagen, deren Betrachtung uns beruhigen kann? Oder, wie manche Kommentare nahelegen, die Fähigkeit zu entwickeln, sich in luziden Träumen selbst zu beobachten? 

Schwierig ist auch die Vorstellung, sich selbst beim Tiefschlaf zu beobachten. Aber da reichen vielleicht meine Fähigkeiten einfach nicht oder noch nicht aus. Fürs Erste tröste ich mich damit, mich auf den Übergang von Wachzustand zu Schlafzustand zu konzentrieren. 

Diesen Übergang können wir ja auch gut am Tag studieren, wenn wir mal so ein bisschen wegdösen. Das kennst Du auch, ne? Aber denk dran, im Online-Meetings vorher immer die Kamera auszustellen. Soweit zum Thema Traum und Tiefschlaf. 

YS 1.39 yathā-abhimata-dhyānād-vā 

Oder durch Versenkung auf Liebe. 

Der letzte Vorschlag hingegen, in Yoga Sutra 1.39, ist dagegen ein Joker. Falls bislang noch keine Methode für Dich funktioniert, dann, sagt Patañjali, meditiere und reflektiere über irgendetwas, das Du liebst. 

Ich stelle mir da so einen etwas genervten Patañjali vor, der vor seinen Schülern sitzt, die rumjammern. Nee, das klappt bei mir nicht mit den Träumen, Nee, das mit dem inneren Licht ist blöd, Atem anhalten ist voll doof … Ja, mein Gott, dann nehmt halt irgendwas anderes und lasst mich endlich in Ruhe!

So war es sicher nicht, aber die Vorstellung ist schon nett. 

Wie auch immer: Dieses Sutra erinnert uns, so mein Verständnis, sich auf die positive und beruhigende Kraft der Liebe und Zuneigung zu stützen. Das Sutra richtet sich ja an die Übenden, also an Dich und an mich. Und die Konzentration auf etwas, das wir lieben, gerade dann, wenn wir vielleicht aufgewühlt, ungeduldig, wütend oder verbissen sind, kann uns von jetzt auf gleich das Herz aufgehen lassen und uns ein Lächeln auf das Gesicht zaubern. 

Natürlich kann sich diese Liebes-Meditation auf einen Menschen beziehen, aber auch auf Deine Katze, Deinen Hund, einen Baum, eine Frucht, oder auf andere Dinge und Wesen. Was würde Dir so als erstes einfallen? 

Unsere Fähigkeit zu lieben ist unendlich, und diese Fähigkeit zu kultivieren, ist sicher eine der schönsten Yogaübungen, die uns zur Verfügung stehen. Am besten täglich. Mehrmals.

Das ist Yoga.

Teil 21 – Meisterschaft erlangen – YS 1.40

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Ein stabiler Geist, der nicht gleich bei der ersten Ablenkung fortgerissen wird, ist die Voraussetzung dafür, die Dinge klarer zu sehen und ihre wahre Natur zu erkennen. Dann kann man die Dinge so sehen, wie sie wirklich sind. Diese Beherrschung des Geistes wird uns frei machen und die kleinsten und die größten Herausforderungen meistern lassen.

Hallo, Ihr Lieben, wenn Ihr mir bis hierhin gefolgt seid (oder das noch tun werdet), dann schauen wir jetzt schon auf eine ganz schöne Wegstrecke durch das Yoga-Sutra zurück.

Wir sind immer noch im ersten Kapitel des Sutra, in dem der Weg zur Versenkung, zur völligen Ruhe des Bewusstseins, beschrieben wird. 

Über die Analyse der Bewusstseinszustände sind wir zu den zwei Grundpfeilern „Übung und Loslassen“ und dann weiter zu den „Hindernissen und Schwierigkeiten“ auf dem Weg gereist. Zuletzt haben wir uns einige wichtige praktische Vorschläge angesehen, wie wir jetzt und hier anfangen können. Das alles waren vor allem Konzentrations- und Meditationstechniken, die ein Ziel haben: unseren Geist auszurichten auf eine Sache, und durch diese Fokussierung unser Bewusstsein zu stabilisieren und zu beruhigen. 

Wir sagen im Deutschen so schön: bei der Sache bleiben. Das ist gemeint. Und auch noch in einem Meer von Ablenkung bei der Sache zu bleiben, dass ist der Zustand des Yoga. 

Ich habe das jetzt noch mal in aller Kürze zusammengefasst, um Euch vorzubereiten auf die letzten zehn Sutras des Kapitels. 

Denn jetzt werden wir ein bisschen weiter gehen in die verschiedenen Stufen und Qualitäten der Versenkung. Das ist nicht so einfach, denn wir dringen in tiefere Schichten des Selbst vor, und vielleicht wird es jetzt etwas komplizierter. Aber was hast Du erwartet, ne?

YS 1.40 paramāṇu parama-mahattva-anto-’sya vaśīkāraḥ 

Die Meisterschaft eines Menschen, der dieses Ziel (vom ruhigen Geist) erreicht hat, umfasst alles vom kleinsten Atom bis zum großen Universum

Wow. Okay. Das ist ein Versprechen. Ein Versprechen auf den Lohn der Mühe, Yoga zu üben. Die Aussicht auf diese Qualität der Geistesbeherrschung scheint uns erst mal etwas – vorsichtig gesagt – übertrieben, abgedreht, esoterisch. Aber wir haben schon gelernt, dass Yoga pragmatisch ist. 

Machen wir uns nichts vor: wir erleben die Welt und uns selbst nur durch unsere geistigen Projektionen, durch die Brille unseres Bewusstseins. Das Bewusstsein – citta – ist der große Interpret der Realität. Alles, was auf uns eindringt, wird verarbeitet, bewertet, ausgewählt oder abgewählt, befürwortet oder abgelehnt. Über diesen Prozess der citta-vṛtti haben wir schon viel gelernt. Die Idee des Yoga ist ja, diese Fluktuationen des Geistes zur Ruhe zu bringen. Eine Möglichkeit, dies zu tun, ist, den Fluss der Gedanken zu verlangsamen und die Abstände zwischen Geistbewegungen zu verlängern. Und durch Konzentration können wir uns genau dabei beobachten. Dann wird unser Geist stabiler. Und ein stabiler Geist, der nicht gleich bei der ersten Ablenkung fortgerissen wird, ist die Voraussetzung dafür, die Dinge klarer zu sehen und ihre wahre Natur zu erkennen. 

Mist, ich weiß, das klingt abgedreht und abstrakt, aber es ist nicht abstrakt. 

Wenn ich zum Beispiel sehr unruhig bin und Wut oder Ungeduld in mir aufsteigen, dann kann ich mich fortreißen lassen von diesen Gefühlen und mich so richtig darin baden. Kennt Ihr, oder? Passiert schon mal. Dann „überwältigen einen die Gefühle“ – sagen wir ja auch so.

Ich kann aber auch meine Konzentration auf diese Gefühle ausrichten und sie beginnen, zu beobachten. Wenn ich geübt darin bin, werde ich auf Dauer immer besser, die Natur und die Ursache und Folgen dieser Gefühle zu erkennen und im wahrsten Sinne zu durchschauen. Ich kann mich bemühen, mich nicht mit ihnen, diesen citta-vṛtti zu identifizieren. Dieses „Durchschauen“ ist aus Yoga-Sicht ganz wörtlich gemeint. Dieses Durchschauen der Identifizierungen und Verstrickungen. Wenn mir das gelingt, auch wenn es nur kurz ist, dann scheint meine wahre Natur, mein wahres, ungetrübtes Bewusstsein durch.

Dann kann ich Dinge so sehen, wie sie wirklich sind. Diese Beherrschung des Geistes wird mich frei machen und mich die kleinsten und die größten Herausforderungen meistern lassen. 

Um diese klare Sicht geht es im Yoga.

Aber keine Sorge, selbst einer der berühmtesten Yogalehrer der Moderne, Krichnamarcharya, hat gesagt, dass wir sehr viel Aufwand betreiben müssen, um (Zitat) „einen kleinen Moment von „Yogaerfahrung“ zu machen.“ Und weiter: „Es ist nicht möglich, kontinuierlich in einem Zustand zu verweilen, in dem das (reine) Bewusstsein dominiert. Aber dieser Moment ist den Versuch wert“ Dieses reine Bewusstsein wird im nächsten Sutra mit einem klaren Kristall verglichen. 

Also, bleib bei der Sache. Das ist Yoga.

Teil 22 – Teil des Ganzen sein – YS 1.41

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Ständig tritt unser Geist in Verbindung mit äußeren und inneren Objekten. Wir nehmen die Welt wahr durch unser subjektives Bewusstsein. Diese Beziehung zu verstehen, ist eine wichtige Voraussetzung, um unseren Geist transparent wie einen Kristall zu machen und seine Arbeit besser zu verstehen.

Sind die seelisch-geistigen Vorgänge zur Ruhe gekommen, wird der Geist transparent wie ein Kristall. Dann ist das Wahrnehmende, die Wahrnehmung, das Wahrgenommene miteinander verschmolzen. Diese Einheit und dieses Durchdringen wird samāpatti genannt.

In der letzten Folge hatten wir darüber gesprochenen, dass ein Mensch, der seinen Geist beherrscht, alles durchdringen kann — vom kleinsten Element bis zum Universum. 

In dem heutigen Sutra wird das noch mit dem Bild eines Kristalls veranschaulicht. Der Kristall spiegelt und reflektiert nicht, sondern durch ihn scheint das Licht durch und bricht in vielen Farben. Versinnbildlicht ist hier die Idee vom reinen Sehen, ungetrübt von citta, dem wandelbaren Bewusstsein.

Die Schlüsselwörter in diesem Sutra sind der Dreiklang von grahītṛ-grahaṇa-grāhyeṣu. Und es ist ganz wichtig, diesen Akkord zu verstehen. Das ist – verzeiht mir die rheinische Allegorie – sozusagen das Dreigestirn der Yoga-Erkenntnis.

Also: Wahrnehmende Instanz — der Prozess des Wahrnehmens — und das Wahrgenommene. Letztlich kann man das nicht auseinandernehmen, es ist ein Dreiklang, eine Einheit. 

Wir haben zunächst grahītṛ, das Wahrnehmende, das ist cit, Dein klares Bewusstsein. Wir haben grahaṇa, den Prozess des Wahrnehmens, das ist das meinende und wertende Bewusstsein, citta . Und wir haben grāha, das Objekt, das wahrgenommen wird. 

Citta, das meinende Bewusstsein, unser Interpret, ist also nicht gleich dem reinen Bewusstsein. Citta ist auch Teil des Bewusstseins, aber sozusagen in diesem Konzept vorgelagert. Citta ist die Instanz, die uns gewissermaßen ständig vorgaukelt, unser wahres Bewusstsein zu sein. Aber es sind nur … genau … die Summe der Wahrnehmungen und Interpretationen aus der Vergangenheit. Wenn wir z.B. einen Baum betrachten, dann sehen wir nicht die wahre Natur des Baumes, sondern unsere gesammelte Vorstellung von dem, was wir für einen Baum halten. Kein Mensch sieht den gleichen Baum. Dennoch können wir natürlich nicht ohne unser citta, leben. Ohne citta könnten wir uns unser selbst nicht gewahr sein. 

Keiner von uns will seine dicken Schichten von Bewusstheit, Erfahrung, Erinnerungen und Wissen gänzlich abstreifen, wir wären dann nicht mehr in der Lage, ein Taxi zu bestellen oder uns ein Brot zu schmieren. ABER die Yoga-Philosophie geht davon aus, das dahinter noch eine Schicht liegt, die nicht beeinflusst ist von den Lebenserfahrungen unseres wertenden Bewusstseins.

Und Yoga hilft uns, diese Schichten zu erkennen und zu durchschauen, denn diese Schichten sind immer unsere geistige Projektionen. Der Baum ist eine geistige Projektion, ein Gefühl, ein Gedanke, einfach jedes Objekt. Selbst Gott ist eine geistige Projektion. Unabhängig davon, ob es Gott gibt oder nicht. Wenn Du das kapiert hast, ist schon unglaublich viel gewonnen, denn dann weißt Du, dass der Baum, den Du betrachtest eben nicht der wahre Baum ist. Der Baum ist ein Abbild des Baums in Deinem Kopf. Nimm das, Yogi und Yogini.

Das ist einfach eine nüchterne Analyse dessen, was mit uns passiert, wenn wir in Beziehung zu Dingen und Wesen inklusive unseres eigenen Wesens treten. Ich hoffe, das ist einigermaßen verständlich. 

Also: Der Dreiklang aus wahrnehmender Instanz, Wahrnehmung und Wahrgenommenem ist eine unauflösliche Einheit. Diesen Zusammenhang zu erkennen und zu durchdringen, wird samapatti genannt. Denn dann verschmelzen die scheinbaren Grenzen von Wahrnehmer und Wahrgenommen. Das ist die erste Stufe der Versenkung oder Erleuchtung. 

Ich weiß genau, was gemeint ist, weil ich das manchmal auch erlebe. Du sicher auch. Das sind Zustände höchster Zufriedenheit und ein Gefühl des Eins-Sein. Mir passiert das eigentlich nur in der Natur. Ich muss dazu rausgehen, und es klappt nicht immer. Aber wenn, dann ist klar, ich bin nicht in der Natur, ich bin nicht „in der Umwelt“ — sondern ich „bin Natur“ — ich bin da drin, Teil von ihr, Teil des ganzen Kosmos, kurzzeitig in Menschform, Ergebnis von Natur und Bedingung von Natur, Allwelt, universales Bewusstsein. Asche zu Asche, Staub zu Staub. 

Bei Dir funktioniert es vielleicht bei anderen Gelegenheit, viele sagen, dass sie kurz so etwas spüren, wenn sie ihren Hund oder ihre Katze streicheln. Alles ist klar, der Geist ist stabil und ruhig. Es gibt kein Getrennt-sein. „Selbstvergessen“ wäre ein Wort, das diesen Zustand beschreibt, aber es braucht gerade kein Wort zur Beschreibung, weil es einfach so ist … und dann ist dieser Moment schon wieder vorbei und unser Kopf springt wieder an. Kennst Du, oder?

Das ist Yoga.

Teil 23 – Apfelmus und Erleuchtung – YS 1.42 – 1.46

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Manchmal können wir es schaffen, ohne Worte tiefe emotionale Beziehungen herzustellen zu Objekten, die unser Bewusstsein wahrnimmt. Der Weg zur Erleuchtung führt über viele Stadien. Meistens braucht unser Geist noch Hilfen und Krücken, manchmal geht die Verbindung direkter, ganz ohne Worte und Bindungen.

In der heutigen Folge geht es um Apfelmus und Erleuchtung. 

Tja, wie geht das. Treue Hörer*innen wissen schon, dass ich hin und wieder über leckere Sachen spreche, um die Ideen des Sutra zu erläutern. 

Die nächsten fünf Sutras – heute spannen wir einen großen Bogen – beschäftigen sich mit den nächsten Stufen hin zur Erleuchtung, die unter dem Begriff der „sabīja samādhi“ laufen. Sabīja heißt wörtlich „mit Samen, mit Keim, keimhaft“. Das bedeutet, dass dieser Zustand der Versenkung noch geistiger Objekte bedarf, er bedarf noch der Bezüge zur Welt.

Samādhi ist das Sanskrit-Wort für Erleuchtung. Und so langsam führe ich den Begriff auch hier in meinen Podcast ein, denn Ihr versteht mittlerweile sicher besser, dass man diesen Begriff nicht abwehren muss als etwas, das nichts mit uns zu tun hat oder das wir nicht erreichen könnten. Hätte ich zu früh von Yoga als dem Weg zur Erleuchtung gesprochen, hättet Ihr womöglich wieder ausgeschaltet, oder?

Schauen wir uns YS 1.42 und 1.43 an:

YS 1.42 tatra śabdārtha-jñāna-vikalpaiḥ saṁkīrṇā savitarkā samāpattiḥ 

Wenn die Betrachtung eine Mischung aus Wortwissen, Objektwissen und Vorstellung ist, dann ist sie eine mit dem Denken verbundene Meditation. Das ist Savitarkā Samāpatti.

YS 1.43 smṛti-pariśuddhau svarūpa-śūnyeva-arthamātra-nirbhāsā nirvitarkā 

Wenn alle Vorprägung (Smriti) gereinigt, die eigene Natur klar ist, dann leuchtet nur das betrachtete Objekt selbst. Diese Betrachtung wird eine vom Denken freie Meditation genannt. Dies ist Nirvitarka-Samapatti. 

Das Wort samāpatti tauchte schon in der letzten Folge auf. Das bezeichnet den Zustand eines durchlässigen transparenten Zustand des Geistes, der mit einem Kristall verglichen wird. Salopp könnte man sagen, vor der Erleuchtung kommt die Durchleuchtung. Hinter dem Kristallbild steht die Idee, dass ein Objekt, das wir wahrnehmen, möglichst ohne weitere Interpretation mit uns in Beziehung tritt, also ohne unsere Vor-Urteile. 

Wir sehen hier die Sehnsucht der Yogis, mit der wahren Welt, wie sich wirklich scheint, in Verbindung zu treten und diese Verbindung zu halten. Diesen Zustand streben die Yogis und Yoginis an, denn er ermöglicht — so die Idee — eine ungetrübte Sicht der Dinge. Das ist immer wieder das Motiv, die Verstrickungen des Geistes zu durchdringen und eine Vereinigung von Betrachter und Betrachtetem zu finden. 

Im ersten Fall ist noch unser Denken mit einbezogen. 

Im zweiten Fall geht es noch eine Etage tiefer und wir verbinden uns mit einem Objekt ohne Denken.

Ich finde es ganz schwer, mir diese Ebene der Versenkung ohne Denken vorzustellen. Ich will auch gern glauben, dass es bei den Meditationsprofis solche Zustände geben kann. 

Wir sollten uns auch klar machen, dass wir hier schon über sehr fortgeschrittene Stadien der Versenkung reden. Vielleicht hilft es, sich einmal auf Eindrücke zu konzentrieren, die nicht so sehr des Denkens und der Worte bedürfen. 

Hier kommt das Apfelmus ins Spiel.

Vorgestern hat meine Frau aus wunderbaren Äpfeln vom Obstgut hier bei uns um die Ecke in Leverkusen Apfelkompott gekocht. Es roch natürlich fantastisch. 

Da sagte Claudia diesen Satz: wenn ich das so rieche, dann sitze ich direkt wieder als kleines Mädchen in der Küche meiner Oma. Genau. Das meine ich. Die Wahrnehmung eines Objekts (Apfelmus) über den Prozess der Wahrnehmung (Riechen) löste bei der Wahrnehmenden (Claudia) eine unmittelbare, direkte Verbindung aus. Dieser Moment der Verbindung, der noch ohne Worte auskommt, ist kurz, aber super intensiv. Das ist nirvitarka-samapatti. Dann bildet aber citta schon Worte und verknüpft sie mit dem Wissen und der Erinnerung und der Vorstellung und Claudia sagt zu mir diesen Satz. Das ist dann schon „mit Worten“, savitarkā samāpatti.

Ja, ich weiß, erleuchtete Yogis würden sagen, nee, nee, das ist nicht gemeint, es geht um viel tiefere Meditation und Versenkung. Das stimmt sicher. Aber ich versuche, es mit meinen Mitteln zu durchdringen und Euch näher zu bringen. Ich habe ein eher demokratisches Verständnis des Yogawegs, und nicht so ein elitäres.

Schauen wir noch auf YS 1.44 bis 46

YS 1.44 etayaiva savicārā nirvicārā ca sūkṣma-viṣaya vyākhyātā 

Handelt es sich bei dem betrachteten Objekt um etwas Subtiles, so heißen diese beiden beschriebenen Zustände Savichara- und Nirvichara-Samapatti. 

YS 1.45 sūkṣma-viṣayatvam-ca-aliṇga paryavasānam 

Ein Objekt kann bis zum Undefinierbaren subtil sein.

 YS 1.46 tā eva sabījas-samādhiḥ 

All diese Bewusstseinszustände heißen Sabija-Samadhi. 

Die keimhafte Versenkung hatte ich ja schon am Anfang erklärt. Also eine Meditation, die noch einen Bezug zu etwas benötigt. Hier werden jetzt weitere Unterstufen der Versenkung erläutert. Das muss uns eigentlich in dieser Phase auch nicht weiter beschäftigten, außer dass dieser Passus wieder ein wunderbares Bespiel für die Liebe des Yoga zu Listen und Aufzählungen ist. Es gibt also

  1. die Versenkung mit Denken
  2. die Versenkung mit Denken auf ganz subtile Objekte
  3. die Versenkung ohne Denken
  4. die Versenkung ohne Denken auf ganz subtile Objekte

eWeißte Bescheid. 

Ich bin hier etwas beunruhigt, ehrlich gesagt. Wenn auf dieser fortgeschrittenen Stufe die Meditation ohne Denken und mit super subtilen Objekten dennoch „keimhaft“ sein soll, was erwartet uns dann erst in der nächsten Stufe?

Wenn Du jetzt das Gefühl hast, die Orientierung verloren zu haben, dann fühl Dich in guter Gesellschaft. Geht mir auch so. 

Die wunderbare Nitha Mohan, eine Yogalehrerin aus einer berühmten Yoga-familie aus Indien, hat mal in einem Workshop diesen schönen Satz gesagt, den ich mir gleich in mein Buch geschrieben habe: Wichtig ist, sich zu entspannen. Jeder kleine Schritt Richtung Samadhi ist ein guter Schritt.

Das ist Yoga.

Teil 24 – Alle Limits überwinden- oder doch nicht! YS 1.47 – 1.51

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Freiheit ist eine Übung in Subtraktion. Weniger Grübeln, weniger Ablenkung, weniger Identifizierung. Man kann diesen Weg auf die Spitze treiben und versuchen, sich radikal von allen Bindungen zu befreien. Eine Versenkung, die hinter allem liegt, was Ego, Prägung, Worte, Erinnerungen und Schlussfolgerungen ist. Ob wir das wollen?

Heute ist ein großer Tag. Denn heute endet der erste Teil unserer Reise durch die Welt des Yoga. Zumindest die Reise durch das erste Buch des Yoga-Sutra, es kommen ja noch drei weitere. Aber das erste Buch heißt ja: Samādhiḥ Pada, der Weg zur Versenkung, und gibt einen Überblick über den gesamten Weg. 

Wir haben angefangen mit der Aufforderung, aktiv zu werden, nicht zu warten mit dem Yoga-Üben. Denn nur, wenn Du Gelassenheit übst, kannst Du einen ruhigen Geist erreichen. Von nix kommt nix. Wir haben die Bewusstseinszustände analysiert, haben uns mit Übung und Loslassen auf den Weg zur Freiheit gemacht. Und wir sind großen Hindernissen begegnet, die wir durch Vertrauen und Leidenschaft zu überwinden versuchten. Wir haben alles mögliche ausprobiert, um herauszufinden, welche Methode, welche Technik zu uns am besten passt. Immer wieder sind wir um die Frage gekreist, wie wir uns aus den Verstrickungen unseres unruhigen Geistes befreien können. Wie wir unsere immer wertendes und wählendes Bewusstsein einer Diät unterziehen können. Freiheit ist eine Übung in Subtrahieren. Weniger Grübeln, weniger Anhaftung, weniger Ablenkung, weniger Identifizierung. Um das zu sehen, was zählt: die reine Sicht unseres ruhigen und kristallklaren Geistes auf die Dinge, wie sie wirklich sind. 

Manchen gelingt es, noch tiefer zu gehen und diesen Zustand innerer Freiheit zu halten, sie benötigen aber noch ein Grundkern, einen Samen, ein auch noch so subtiles Objekt, um sich mit der Welt zu verbinden. Das war die so genannte „keimhafte Versenkung“. 

Mit den nächsten fünf Sutras laufen wir nun ins Ziel ein der „keimlosen Versenkung“, wo jegliche Bezüge des wählenden Bewusstseins gelöst sind und absolute Wahrheit und Freiheit entsteht:

1.47 nirvicāra-vaiśāradye-‚dhyātma-prasādaḥ

Wenn Nirvichara-Samapatti, der Klarste der vier genannten Zustände, regelmäßig erfahren wird, dann steht die Erfahrung des Absoluten in Klarheit direkt vor einem.

1.48 ṛtaṁbharā tatra prajñā

Dann wird das Bewusstsein von Weisheit erfüllt.

1.49 śruta-anumāna-prajñā-abhyām-anya-viṣayā viśeṣa-arthatvāt

Diese Weisheit unterscheidet sich von der Intelligenz der Worte und Schlussfolgerungen, denn sie hat eine besondere Bedeutung.

1.50 tajjas-saṁskāro-‚nya-saṁskāra pratibandhī 

Aus dieser Erfahrung entsteht eine Prägung (Samskara), die andere Prägungen (Samskara) ersetzt. 

1.51 tasyāpi nirodhe sarva-nirodhān-nirbījaḥ samādhiḥ 

Wenn sogar diese Prägungen zur Ruhe gekommen sind, dann kommt alles zur Ruhe; dann ist Nirbiija- Samadhi erreicht.

Diese letzten Sutras zeigen uns auf, was noch jenseits der keimhaften Versenkung auf diejenigen wartet, die den Weg radikal zu Ende gehen. Wobei von aktivem Weg schon keine Rede mehr sein kann. Das Wort rtam in Sutra 48 ist hier der Schlüssel für das Tor, das sich zur vollkommenen, keimlosen Versenkung öffnet. Dieser neue Zustand des Geistes kreiert eine völlig neue Realität und Intelligenz, die sich von allem vorigen Zuständen unterscheidet. Rtam ist— in dieser Idee — ein Zustand, der weder Sein, noch Nicht-Sein ist. Rtam ist ein Zustand, der keinen Mittelpunkt und keine Form mehr braucht. Auch das Ich, das Festhalten an der Ich-Haftigkeit des Seins spielt keine Rolle mehr. Während es in der keimhaften Versenkung noch eine Erinnerung an das Nicht-Wählen, an die Ruhe im Geist, gibt, ist dieser Zustand nicht mehr gebunden an irgendwelche Spuren und Eindrücke von unserem vorherigen Leben. Das Wort für diese Prägungen ist „samskara“, das sind die letzten Hindernisse, wenn man so will. 

Das klingt alles sehr magisch, und das ist es auch! Es ist die verstörende Aussicht auf eine tiefe Versenkung, die hinter allem liegt, was Ego, Prägung, Worte, Erinnerungen und Schlussfolgerungen ist. Was sollen wir Menschen, die ein Leben leben, damit anfangen? Das ist doch Quatsch oder? Wenn wir unser Ego hinter uns lassen, kriegen wir dann überhaupt noch mit, wenn wir diesen Zustand jemals erreichen sollten? Vielleicht ist das der dem Sutra innewohnende Witz. Die Pointe sozusagen. 

Es könnte sein, dass es diesen Zustand einfach nicht gibt bzw., dass er Menschen gar nicht offen steht, das ist zumindest meine Vermutung. Dennoch zählt die Idee, es ist die Richtung, in die wir denken können, besonders dann, wenn wir uns wieder mal zu sehr verstricken und verfangen in den Dschungel unserer Existenz.

Und — das muss ich der Liebe zur Logik willen sagen — ist es nur konsequent: wenn es denn eine Versenkung gibt, die uns tief verbindet mit einem Objekt, dann muss es doch auch eben einen Zustand geben, der dieser Objekte nicht mehr bedarf, oder?

Ich persönlich habe nicht den Anspruch, dorthin zu kommen … Du? Ich würde jedem misstrauen, der sich in diesem Sinne für erleuchtet hält, allein weil das Bekenntnis dazu schon ein Widerspruch in sich wäre. In diesem Sinne könnten die letzten fünf Sutras auch als Versicherung verstanden werden, dass keiner je auf die Idee kommt, sich für erleuchtet zu halten – ganz mein Humor!

Und deswegen bin ich dankbar und begeistert über die Poetik, die in dieser Logik der Befreiung liegt. Es ist einfach toll, sich nicht von den vermeintlichen Grenzen der Existenz im Denken limitieren zu lassen. 

Jetzt haben wir einen Blick auf den ganzen Yogaweg geworfen. Patañjali weiß natürlich, dass es um die Praxis geht. Was können wir denn bitte noch tun, damit wir ein wenig weiterkommen? Gibts nicht ‚ne einfachere Bedienungsanleitung? 

Genau, das kommt im nächsten Buch. Das Buch Sadhana Pada. Der Weg der Praxis. 

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Teil 25 – Sadhana Pada – das 2. Kapitel des Yoga Sutra

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Diese Folge gibt einen Überblick über das 2. Kapitel des Yoga-Sutra - Sadhana Pada, der Weg der Übung.

Hallo und Namaste, Ihr Weisheitssuchenden. Heute schlagen wir das zweite Kapitel des Yoga-Sutra auf. Es trägt den Titel Sadhana Pada, was wir übersetzen können mit „Der Übungsweg“ oder „der Weg der Verwirklichung“. Und das hier ist der Trailer zu Staffel 2, um es in ein modernes Bild zu fassen. Wobei: aus dem Sutra eine Serie zu machen, wäre schon eine Herausforderung, aber wer weiß.

In jedem Fall wird es im zweiten Teil des Sutra praktischer und vielleicht auch ein bisschen greifbarer. Im ersten Teil haben wir die große Landkarte des Yoga ausgerollt und uns einen Überblick über das Terrain verschafft. Es ist wichtig, auf dem eigenen Yogaweg diese gesamte Landkarte im Kopf zu haben, auch wenn einem der eine oder andere Bereich rätselhaft, unverständlich oder magisch erscheint. 

Und hier noch mal das Wesentliche: Yoga beruht auf Erfahrung. Die Lebenserfahrung lehrt, dass wir Menschen einerseits mit einem hoch entwickelten Geist ausgestattet sind, der uns Unglaubliches ermöglicht, der aber andererseits auch dazu führt, dass eben dieser Geist, dieses immer wählende und bewertende Bewusstsein, nie richtig zur Ruhe kommt. Immer neigen wir dazu, uns eher im Blick aufs Detail zu verirren, statt uns als Teil des Ganzen zu betrachten. 

Unser Bewusstsein und die Summe der Erfahrungen und Erinnerungen lässt uns eine Welt von Vorstellungen, Träumen, Erwartungen und Befürchtungen konstruieren. Diese unsere konstruierte geistige Ich-hafte Innensicht führt zu Spannungen, Konflikten und Leiden.

Das Organ, das die gesamten Reize der Welt aufnimmt, ist citta, das wertende Bewusstsein. An citta hängt die Art und Weise, wie wir mit der Welt in Verbindung treten. Citta ist der Ich-Kreator. Citta verwurstelt fortwährend alles, was es empfängt.

Eigentlich ist die Idee, dass wir uns durch Yoga aus diesem Zustand der Identifizierung und des Getrennt-Seins befreien, in dem wir gelassener und ruhiger werden. Das beginnt vor allem im Kopf und kann unterschiedlich intensiv sein bis hin zur höchsten Loslösung, die Samadhi genannt wird. Yoga ist eine Diät für den Geist. 

Das ist der Dreiklang yogaś-citta-vṛtti-nirodhaḥ, das Zur-Ruhe-Kommen des wählenden Bewusstseins, wie wir es in Kapitel 1 schon so oft besprochen haben. Dieser Dreiklang wird gespiegelt in der Yogapraxis durch das Studium von wahrnehmender Instanz, Wahrnehmung und Wahrgenommenem. Die wahrnehmende Instanz, das ist Dein cit, Deine tief liegende reine Ebene der Wahrnehmung, der Prozess der Wahrnehmung ist Citta-vṛtti. Und das Wahrgenommene ist jedes Objekt, mit dem sich Dein Geist verbindet. Wenn wir diszipliniert und leidenschaftlich diese permanent dahinfließende Wechselbeziehung verstehen lernen, dann können wir tiefer in das Wesen der Dinge eindringen und klar wie ein Lichtstrahl unseren Geist auf die wahre Natur der Dinge lenken. Das Schlüsselwort für diesen aktiv übenden Teil des Yoga lautet „abhaysa“. Das aktive Üben hat aber Grenzen, denn es ist auch wieder sehr viel Wollen. Jenseits dieser Grenze, wo wir nicht mehr aktiv weiterkommen und sich vielleicht auch eine Enttäuschung breit macht, dass man vielleicht nicht weiterkommt, jenseits dieser Grenze liegt „yairāgya“ das Loslassen.

Freiheit kommt, Freiheit des Geistes ist keine äußere Qualität, sondern etwas, das in Dir entsteht. Das ist eine faszinierende Erkenntnis, in der das Potenzial zur noch weitergehenden Erleuchtung steckt.

Wir sollten uns nicht abschrecken lassen und denken, dass wir das doch nicht erreichen können. Das ist nicht der Punkt. Jeder Schritt zählt. Es ist kein Dilemma, wenn wir unser Ego nicht auflösen möchten – will ich auch nicht. 

Das, was wir bewusst üben können, wird Inhalt des zweiten Kapitels sein. Freu Dich in diesem zweiten Teil auf „kriya yoga“, den Yoga der Tat. Manche Geschichte aus dem ersten Teil wird hier wieder aufgegriffen und vertieft werden. Wir werden weitere Hindernisse auf dem Weg zur Freiheit umschiffen, wir werden lernen, wie sich Leiden, das noch gar nicht passiert ist, präventiv vermeiden lässt und weiter das Wesen der menschlichen Psyche studieren. Schließlich werden wir den berühmten achtfachen Weg des Yoga beschreiten, den Ashtanga Marga, der dann als Cliff-Hanger überleitet in den dritten Teil des Yoga-Sutra. Mehr sei hier noch nicht verraten. 

Bist Du dabei?

Kapitel 2:
Sādhana Pāda – Der Weg der Übung

Teil 26 – Bleib dran! Mit Maß und Hingabe – YS 2.1 – 2.2

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Der Dreiklang von Leidenschaft, Selbststudium und Hingabe bildet die Grundlage des praktischen Yoga-Übens. Dran bleiben mit Maß und Hingabe, das ist wie ein Geländer, an dem wir uns festhalten können, um die Herausforderungen des Lebens immer wieder zu meistern und dabei gelassen zu bleiben. 

Da sind wir nun am Anfang des zweiten Kapitels des Yoga-Sutra, in dem es um den praktischen Weg der Übung geht. 

Und wie könnte man es anders erwarten: es beginnt gleich mit einem Paukenschlag und einer Aufforderung. Macht ja auch Sinn, denn wenn es um den praktischen Weg gehen soll, dann muss man dazu auffordern, was zu tun, ne?

YS 2.1 tapaḥ svādhyāy-eśvarapraṇidhānāni kriyā-yogaḥ 

Eine Praxis mit Strenge und Achtsamkeit sich selbst gegenüber, ohne Verhaftung an das Resultat, wird Kriya-Yoga genannt. 

YS 2.2 samādhi-bhāvana-arthaḥ kleśa tanū-karaṇa-arthaś-ca 

Ist die Praxis auf das Ziel (Samadhi) ausgerichtet, dann werden die Bürden auf dem Weg (kleśa) verschwinden und das Ziel letztendlich erreicht. 

Auch das erste Kapitel des Sutra begann mit einer Aufforderung: „atha yoga-anuśāsanam“: Jetzt beginnt die Erfahrung des Yoga. Und dann kam „yogaś-citta-vṛtti-nirodhaḥ“. Yoga ist das zur Ruhe kommen des Geistes, einfach übersetzt. 

Jetzt beginnt Patañjali wieder mit einer Aufforderung und wieder gibt es den so beliebten Dreiklang. Nur diesmal geht er nicht der Frage nach, was geübt werden soll (nämlich das zur-Ruhe-kommen), sondern wie es geübt werden soll. Es geht hier um den Yoga der Tat. 

Das Sanskrit Wort kr steht dafür. Allein dieses Wort ist so interessant. kr stammt aus der gemeinsamen indoeuropäischen Ursprache. Die Wurzel des Wortes ist ker. Ihr wisst sicher, dass unsere deutsche Sprache, alle romanischen und slawischen und natürlich das Sanskrit und viele weitere Sprachen aus einer gemeinsamen Sprachfamilie kommen. Die Wurzel ker steckt bei uns noch in in Wörtern wie „kurieren“, to „care“ und „kreativ“.

Hier geht es also ums Machen und Tun, ums Verwirklichen, damit wir das in YS 2.2 angestrebte hohe Ziel der tiefen Versenkung wirklich erreichen und die letzten Bürden und Hindernisse überwinden können.

Alles was wir tun, um Yoga zu üben, sollte im Geiste dreier Qualitäten erfolgen:

tapas – Leidenschaft, Askese, Dranbleiben
svādhyāya – sich selbst näher kommen, Selbststudium , vernunftsbezogen, Mäßigung
Iśhvarapranidana – dem Größeren ganzen zugewandt, Hingabe, Demut

Für mich bedeutet dieses Sutra: Bleib dran mit Maß und Hingabe. Yoga ist ein Lebensweg, nicht Turnen auf der Matte. Diese Erinnerung „Bleib dran mit Maß und Hingabe“ ist für mich durch Yoga ein Geländer geworden, an dem ich mich bei Bedarf festhalten kann — in jeder Alltagssituation. 

Z.B. heute: Ich schreibe gerade diese nächste Folge des Podcasts und habe gerade ganz viele andere Sachen um die Ohren. Es macht halt auch ein paar Stunden Arbeit, diesen Podcast zu schreiben, aufzunehmen, zu produzieren und live zu schalten. Das macht viel Spaß, sonst würde ich es ja nicht machen. Aber heute hätte ich mich auch gut rausreden können mit wirklich wichtigeren Dingen. Kennt Ihr, so was, oder? 

Dann kommt Yogsutra 2.1: Bleib dran — mit Maß und Vernunft — und mit Hingabe. Es hat geklappt, sonst würdet Ihr diese Folge jetzt nicht hören. 

Ich glaube, für uns alle ist „tapas“, das Brennen für etwas, das Dranbleiben, die Disziplin, leicht verständlich; es passt sehr gut zu unserer Kultur. Wird aber oft auch missverstanden. Es meint nicht auspowern, ganz im Gegenteil. Tapas ist immer auch Askese, Verzicht. Manchmal muss man sich erst mal zurückziehen und klären, was man eigentlich will und braucht. Es ist oft besser, erst mal was wegzulassen und das Feld zu bereinigen und nicht in blinden Aktionismus zu verfallen. 

Das können wir aber nur, wenn wir auch svādhyāya praktizieren. Svādhyāya ist super interessant: sich selbst nahe kommen. Es ist kein Widerspruch zu Tapas, im Gegenteil. Das Selbststudium ist ein Blick nach innen, ein „sich selbst spüren und einschätzen können“. Die Selbstfremdheit überwinden. Das kann auch geschehen durch das Studium gelehrter Schriften. Wenn wir uns in große gute Gedanken anderer Menschen oder Wesen vertiefen, dann merken wir auch, dass wir nicht der Mittelpunkt des Universums sind. Das ist Iśvaraprandhana.Iśvaraprandhana hatten wir schon in einer vorherigen Folge. Es meint hier auch, nicht übers Ego-Ziel hinauszuschießen. Es geht nicht um Performance. Wenn man sich auf das große Ganze konzentriert, wird das Ego etwas kleiner, und das tut den meisten von uns ganz gut, oder?

Also: Wenn Du Dir das nächste mal etwas vornimmst: mehr Sport, Mehr Yoga, mehr Lesen, mehr dies, mehr das, dann fang mit Yoga-Sutra 2.1. an, um Deinem Ziel näher zu kommen: Bleib dran, mach nicht zu dolle, sonst scheiterst Du an Deinen eigenen Zielen, und nimm Dich bei allem nicht so wichtig. 

Das ist Yoga.

Teil 27 – Die Komfortzone des Unwissens – YS 2.3

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Der Yogaweg listet 5 große Hindernisse auf, die jedem Übenden begegnen werden. In dieser Folge geht es um „falsches Wissen“ oder „Nicht-Wissen“ - davon sind alle Menschen voll. Wir haben eigentlich erstaunlich wenig Ahnung von den meisten Dingen, obwohl wir es oft gar nicht realisieren. Kommen wir raus aus der Unwissenheits-Falle?

YS 2.3 avidyā-asmitā-rāga-dveṣa-abhiniveśaḥ panca kleśāḥ 

Falsches Wissen (Avidya), Ichverhaftung (Asmita), Gier (Raga) Abneigung (Dvesha) und eine tief sitzende Angst (Abinivesha) sind die Bürden auf dem spirituellen Weg (Klesha).

In der letzten Folge haben wir das Kapitel 2 des Sutra aufgeschlagen und haben uns auf den Weg der Übung gemacht. Um citta-vṛtti-nirodhaḥ, die Ruhe im Geist zu erreichen, sollten wir diszipliniert, maßvoll und mit Hingabe üben. 

Wenn wir das tun, dann begegnen wir sehr vielen Widerständen und Hindernissen, und damit meine ich diejenigen, die uns von innen begegnen. 

In den nächsten neun Sutras analysiert das Sutra grundlegenden psychischen Kräfte, die uns immer wieder hindern werden, die innere Freiheit und tiefe Versenkung zu erreichen. 

Wir werden heute und in den nächsten Folgen die Tür weit öffnen in die Tiefen unserer Existenz, denn wir befinden uns gerade an der Schwelle zu einem der wichtigsten Abschnitte des Sutra.

Das Stichwort heute ist das Nichtwissen, die Täuschung oder auch die mangelnde Erkenntnisfähigkeit. Das Sanskritwort dafür ist avidyā und das ist eines dieser Wörter, dass man sich gleich mal dick und fett rot markiert. In dem Wort steckt die wiederum Wurzel „vid“, „Wissen“, oder „das Gewusste“. Wissen ist genau genommen das gleiche Wort, unser Wort Wissen oder in slawischen Sprachen viedza leitet sich ebenfalls aus dieser gemeinsamen Wurzel ab. Toll, oder? A ist die Vorsilbe für Negation. Also a-vidya ist Nicht-Wissen. So wie normal und a-normal. Gott, ich liebe diese Sprachzusammenhänge. 

Avidyā ist die Quelle aller weiteren folgenden Hindernisse. Ihre Kinder sind asmitā, die Ichverhaftung, rāga, die Begierde, dveṣa, der Hass, die Abneigung, und abhiniveśa, der Selbsterhaltungstrieb. 

Wir werden uns dafür viel Zeit nehmen. Keine Sorge. 

Avidya, das Nicht-Wissen weist uns auf ein grundlegendes Dilemma der menschlichen Existenz hin: Ein jeder Mensch bewegt sich — gewollt oder nicht gewollt — in seinem gedanklichen Universum mit seinem ganz persönlichen Wissen, wie die Dinge vermeintlich sind oder zu sein haben. Wir navigieren durch unser Leben mit diesem Wissen. Dass dieses Wissen falsch sein kann, haben wir schon in einer früheren Folge gehört (wer noch mal nachhören will: das war in Folge 3). Nun aber müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass der Zustand von Unwissen und Täuschung keine Momentaufnahme ist. Nein, dieser Zustand des Nicht-Wissens ist ein lebenslanger Dauerzustand , der uns bis zum letzten Atemzug begleitet. 

Eigentlich haben wir überhaupt keine Ahnung von irgendwas, wir wissen nicht einmal, wie und warum wir überhaupt hier sind. Wir haben null Plan, nada, niente, nicevo. Wenn wir ehrlich sind, müssen wir das zugeben. Alle Erkenntnisphilosophien der Menschheit sind sich darüber im Klaren, der Yoga auch. Eben „Ich weiß, dass ich nichts weiß“.

Wir wollen aber gerne wissen. Unwissen, wenn uns Unwissen bewusst wird, ist kein Zustand, den der Mensch gut aushält. Wir brauchen, um uns zu orientieren, eine Illusion, die Dinge zu verstehen. Aber sobald etwas Ungewöhnliches passiert – das haben wir alle schon erfahren – bricht das Kartenhaus unseres Weltbilds im Nu zusammen. 

Während aber aus der europäischen Philosophie aus der Erkenntnis der eigenen Unwissenheit ein Appell zur Aufklärung wächst, erkannten die Yogis, dass dieser Kampf letztlich nicht zu gewinnen ist. Unser Geist wird niemals in der Lage sein, die Grenzen seines eigenen citta zu durchbrechen. Auch erobertes Wissen wird immer nur ein Abbild der Wahrheit sein. Nicht falsch verstehen: Yoga ist kein Appell zur Verblödung, im Gegenteil. Yoga stellt nur eine andere Frage: Was sind die emotionalen Ursachen für den Zustand des Unwissens? 

Unsere tolle deutsche Sprache hat dieses Dilemma lange verstanden. Wir kennen und nutzen alle das Wort „Enttäuschung“. Denkt mal drüber nach. Zunächst haben wir also die „Täuschung“ – hier geht es nicht darum, dass andere uns täuschen, sondern dass wir uns – selbst täuschen. Die Täuschung ist meist eine Verwechslung: Wir halten Wichtiges für unwichtig, Unwesentliches für Wesentliches, Unnützliches für nützlich usw. Die Täuschung ist ein falscher Freund, weil sie uns einen Zustand vorgaukelt, der uns angenehm scheint oder der uns eine Erklärung liefern soll für etwas, was wir nicht verstehen. 

Wenn wir nicht verstehen, dann reagiert unser Geist in einer Art Selbstschutz. Er leugnet und täuscht uns, das wiegt uns in Sicherheit und gibt uns ein Erklärungsmuster. 

Die Täuschung liefert also meist eine beruhigende Erklärung. Die Konfrontation mit der Wahrheit hingegen ist eine Enttäuschung. Eine Enttäuschung ist etwas was wir eigentlich nicht wollen, eine Enttäuschung ist leidvoll d.h. der Prozess der Erkenntnis ist mit Schmerzen verbunden. Das ist ein wichtiger psychischer Reflex: Wir richten uns gerne ein in avidyā, dem Zustand des nicht-Wissens, denn er kann sehr bequem sein. 

Als Yogis dürfen wir uns nicht damit zufrieden geben. Und als Yogis gehen wir noch einen Schritt weiter und erkennen, dass auch der Zustand des vermeintlichen Wissens nach dem Motto: „jetzt habe ich es verstanden“ uns weiterhin nicht ans Licht der Wahrheit führt, weil auch diese Wahrheit wieder begrenzt wird durch die Grenzen unseres citta-vṛtti, unseres wählenden Bewusstseins. 

Wir können auch nicht den Anspruch haben, alles zu verstehen, denn das wird nicht gelingen. Wir können uns nicht alles Wissen der Welt aneignen. Das wäre zu viel und darüber hinaus im Moment der Aneignung auch schon wieder mit einem kurzen Verfallsdatum versehen.

Was können wir machen, gegen avidyā? Eigentlich nichts. Aber wir können den Spieß umdrehen. Sich bewusst zu machen, dass die Erkenntnisfähigkeit Grenzen hat, kann zu einer großen Ruhe führen, wenn wir die ursächlichen psychischen Muster dahinter diszipliniert, maßvoll und mit Hingabe studieren. So können wir auch die Selbst-Täuschungen vermindern und weniger unter den Enttäuschungen leiden.

Das ist Yoga.

Teil 28 – Unsere Sicht auf die Welt ist nur ein Abbild der Wirklichkeit – YS 2.4 – 2.5

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Avidyā, die Täuschung, sucht uns auf Schritt und Tritt heim. Das liegt auch daran, dass wir meinen, die Wirklichkeit zu sehen und in der Gegenwart zu leben. Tatsächlich aber sind wir gefangen in unserer Erinnerungen und Erfahrungen, mit denen wir die Gegenwart interpretieren. Der einzige Weg, dieses Hamsterrad anzuhalten, ist, diese Zusammenhänge zu durchschauen und das Wählen und Bewerten zu reduzieren.

Kriya-Yoga – Yoga der Tat, das ist das große Thema des 2. Kapitels des Yoga-Sutra.

Yoga beruht auf Erfahrung und Erfahrung kann man nur selbst gewinnen, durch diszipliniertes Üben, Mäßigung und Hingabe. Die Sprunghaftigkeit unseres Geistes, die Neigung zur Abgelenktheit und die mangelnde Durchdringung der Dinge führen uns immer wieder weit weg von einem Zustand der Gelassenheit. 

Patañjali zeichnet fünf große psychische Spannungen auf, die allen Menschen zu Grunde liegen: Nichtwissen, Ichverhaftung, Begierde, Hass und Selbsterhaltungstrieb. 

Diese Hindernisse werden auf Sanskrit „kleśas“ genannt. YS 2.4 geht – in der uns durchaus schon bekannten Art und Weise auf die unterschiedliche Intensität dieser kleshas ein:

YS 2.4 Avidyā kṣetram-uttareṣām prasupta-tanu-vicchinn-odārāṇām

Nichtwissen ist der Nährboden für die übrigen kleśas. Avidya kann schlummernd, keimend, ausgewachsen oder übermächtig sein.

Das folgende Sutra nun wendet sich noch einmal avidyā, dem nicht-Wissen zu:

YS 2.5 anityā-aśuci-duḥkha-anātmasu nitya-śuci-sukha-ātmakhyātir-avidyā 

Unwissen bedeutet, Vergängliches mit Unvergänglichem, Unreines mit Reinem, Leid-Bringendes mit Freudvollem und das Vergängliche des Menschen mit dem unveränderlichen Kern zu verwechseln.

In der letzten Folge habe versucht, das Wort avidyā ein bisschen von der erkenntnisphilosophischen Seite von Täuschung und Enttäuschung zu beleuchten. Heute will ich noch mal darauf zurückkommen. Denn avidyā ist zentral für das Verstehen der psychischen Fallstricke, mit denen wir uns das Leben schwer machen können. 

Menschen sind Sprachtiere. Wir benötigen Worte, um uns und anderen die Welt zu erklären. Kein Gefühl, keine Erinnerung, keine Befürchtung, kein Gedanke kann ohne Worte sein. Unsere gesammelte Erinnerung und Erfahrung kreiert unser Weltbild und das Bild, das wir uns von uns selbst zeichnen. 

Diese Sicht auf uns und die Welt ist aber nur ein Abbild. Ein Abbild der Wirklichkeit, nicht die Wirklichkeit selbst. Wenn wir etwas zu wissen glauben, dann schöpfen wir eigentlich nur aus dem riesigen Fundus vergangener Eindrücke, die eigentlich tot und vorbei sind. Unsere Existenz ist aber nur gegenwärtig in diesem Augenblick. Um den Strom der gegenwärtigen Eindrücke überhaupt verarbeiten und verdauen zu können, müssen wir auf die bereits verdauten Erinnerungen, Schlussfolgerungen und Erfahrungen zurückgreifen und diese mit Worten verknüpfen, damit wir uns sicher und kompetent fühlen. Aber natürlich ist jeder gegenwärtige neue Eindruck eben neu und noch nie da gewesen. Auch wenn ich schon 25 Jahre mit dem selben Menschen verheiratet bin, ist der Moment, in dem ich diesen geliebten Menschen heute treffe, noch nie da gewesen. Jedes Gespräch, jeder Blick, jedes Gefühl, einfach alles, ist immer wieder flatschneu. Der Strom der immer neuen Gegenwart reißt niemals ab und ist sofort schon wieder vergangen, so wie kein Tropfen eines Flusses jemals ein zweites mal an Dir vorbeifließen wird. 

Wir könnten versuchen, diesen Moment der reinen Wahrheit, der unmittelbaren Eindrücke des jetzt gerade Gegenwärtigen, immer wieder frisch und klar einzufangen. Aber das gelingt natürlich nicht. Deswegen bedienen wir uns der Worte und Erfahrungen der Vergangenheit.

Jetzt wird vielleicht klar, dass es es sich hierbei nur um eine Täuschung handeln kann! 

Das ist im Sutra mit khyati avidyā. Wir halten das Unbeständige für beständig (z.B. uns selbst), Unreines für rein, Leidvolles für Glück bringend usw. Wir täuschen uns, um mit den Eindrücken der komplexen Gegenwart Schritt zu halten. 

Da das hier ja schon in einer alten Schrift steht, lernen wir zudem, dass diese Probleme eben urmenschlich sind, relevant zu allen Zeiten und in allen Kulturen und nicht erst ein Problem der Postmoderne.

Wir können den Verstrickungen von avidyā also nicht entkommen. 

Wir haben keine andere Wahl, könnte man sagen. Richtig. Oder wir hören einfach auf, zu wählen. Geht das? Ihr erinnert euch: yogaś-citta-vṛtti-nirodhaḥ. Yoga ist das zur-Ruhe-kommen des wählenden Bewusstseins. Die einzige Möglichkeit, die der Yoga sieht, sich aus den Fängen der Täuschung zu lösen ist tatsächlich, das Wählen, das Interpretieren, das citta-vṛtti zu reduzieren, um die Täuschung, um avidyā auszubremsen und dahinter zu schauen, wo unser wahres, reines Selbst durchleuchtet und erleuchtet. 

Die Psycho-Analyse des Yoga-Sutra ist einfach schonungs- und kompromisslos. Fast kann es einen frustrieren oder entmutigen. Vielleicht kann die zunächst erschütternde Erkenntnis von avidyā uns aber auch demütiger machen.

Wir können dem Sutra vielleicht nicht kompromisslos folgen, weil wir dazu zu sehr in unser Leben verstrickt sind und auch verstrickt sein wollen. Aber wir können vielleicht besser akzeptieren, dass wir nur ein kleiner Teil vom Ganzen sind und uns in unserer grenzenlosen Fehlbarkeit nicht so wichtig nehmen. Als Sprachtiere, die wir sind, sind wir genauso in unserem Sein gefangen wie jedes andere Wesen auf diesem Planeten. Wir sind in unserer inneren Welt und wir tun das, was wir eben tun. Wie der Vogel vor mir im Garten, der gerade an einer Beere pickt und wie der Baum, der sich gerade von seinen letzten braunen Blättern trennt. Und ich bin mir sicher, dass die erkenntnistheoretischen Fragen der Menschtiere dem Baum und dem Vogel auch ziemlich gleichgültig sind.

Für uns ist es aber wichtig und richtig, den Weg des Kriya-Yoga zugehen, zumindest, wenn wir die innere Freiheit suchen. 

Das ist Yoga.

Teil 29 – Guck mal, wie toll ich mein Ego reduziere! -Yoga Sutra 2.6

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Wir Menschen neigen dazu, unser Ego nicht nur zu hoch zu bewerten, sondern auch dazu, es zu oft in den Mittelpunkt der erhofften Aufmerksamkeit zu stellen. Keiner ist frei davon. Asmitā, das Ego, hindert uns im Yoga-Verständnis an der klaren Sicht auf die Dinge. Andererseits ist das Selbstbild, das wir von uns schaffen, auch überlebensnotwendig und sinnvoll. Diesem Dilemma stellen wir uns. 

Asmitā – das ist das Wort, um das es in dieser Folge geht. Asmitā, das ist die Ich-Verhaftung, das Ich-Sein, das Ego.

Asmitā ist eine der fünf großen Bürden, die uns auf dem Weg zur Versenkung und Freiheit im Weg stehen. Das sind die kleśas,. Avidyā – Nichtwissen, asmitā – Ichverhaftung, rāga – Begierde, dveṣa – Hass und abhiniveśa – Selbstserhaltungstrieb.

YS 2.6 dṛg-darśana-śaktyor-ekātmata-iva-asmitā 

Ichverhaftung ist jene leidvolle Spannung, die die Kraft des Sehens mit der Kraft des Gesehenen verwechselt.

Asmitā ist das Bild, das wir uns von uns selbst machen, unser Ego. Das Ego ist aber nicht das eigentliche Selbst, sondern eine Projektion unseres Geistes. Wir verwechseln damit den Seher mit dem Gesehenen, das bedeutet dieses Sutra.

Ich mache es mal einfach: wir alle kennen sie, die großen Egos, voller Selbstüberschätzung. Nein, ich will gar nicht Menschen wie Trump nennen, oder doch, weil es so schön naheliegend ist. Was für ein gestörter Typ. Völlig falsche Selbstwahrnehmung. Dahinter steckt in Wahrheit ein super kleines Ego. Klar, weißte Bescheid — da nicken wir alle schnell mit dem Kopf und fühlen uns …irgendwie besser mit unseren bescheideneren Egos, oder? Oder auch die Menschen, die eher leiden an ihrem Selbst. Die zweifeln und hadern. Auch die suchen letztlich die Aufmerksamkeit und stehen mit ihrem Leiden oft im Mittelpunkt. 

Aber hey: Ganz so einfach dürfen wir es uns nicht machen. Wir sollten uns zurückhalten, über andere zu urteilen. Wir üben kriya yoga, und das heißt Disziplin, Selbststudium und Mäßigung. 

Die kleśas sind nicht kleine Widerstände, die man mal so eben wegwischt. Die kleśas sind auch nicht die Probleme, die andere haben und wir nicht. Die kleśas sind wahre Naturgewalten. Keiner kann ihnen entkommen, denn diese Hindernisse stellen sich nicht von außen in den Weg. Sie liegen in der Natur des Menschen begründet, sie sind ,neudeutsch gesagt, systemrelevant. So, wie Yoga den Weg aufzeigt, die Freiheit aus sich selbst heraus zu schöpfen, so wurzeln auch die Hindernisse eben im eigenen Wesen.

Wir alle stellen unser Ego oft in einen gefühlten Mittelpunkt, wir beziehen die Welt auf uns. Ich sage bewusst „wir“, ja, Du auch, ich auch. Wir tragen das alle in uns, denn wir sind Menschen. Selbst die erfahrensten Yogis – das steht an anderer Stelle im Sutra, können ihnen nicht entkommen, und es bleiben immer ein Keime von ihnen übrig, die wieder sprießen, sobald man sie wässert.

Asmitā bedeutet die also Verwechslung von Seher und Gesehenem. Was heisst das? Wir wissen ja schon, dass eine der Kernfragen des Yoga ist, das Verhältnis zwischen Wahrnehmender Instanz und Wahrgenommenen auszutarieren. Zwischen Wahrnehmendem Selbst und den Objekten der Wirklichkeit liegt die ständig interpretierende und wertende Instanz, das citta. Das muss so sein, das ist die Natur unseres Wesens als Wort-Tiere, die wir sind. 

Citta ist der Interpret, nicht die Quelle der Wahrnehmung.

Solange es um das Ego und die Außenwelt geht, ist es noch relativ einfach: Ich nehme einen Baum wahr, einen Tisch, einen Vogel, einen anderen Menschen, und alle diese Eindrücke sortiere und bewerte ich, bzw. eben mein citta. 

Aber wir sind als Menschen ja auch gleichzeitig Sehende wie Gesehene. Wir sind selbst Objekt unserer eigenen Wahrnehmung. Und jetzt wird es vertrackt. Wir kreieren mit unserem citta auch ein Bild von uns selbst. Eben ein Selbstbild. Das Deutsche kennt das tolle Wort „Selbstbildnis“ – das verrät schon, dass es es sich hier um eine doppelte Ausgabe von uns handelt, eine Kopie. Ein gestaltetes Kunstwerk. Wir erschaffen ein Selbstbild von uns und identifizieren uns mit diesem Selbstbildnis. Wir betrachten, ja wir verwechseln es mit unserem Ich. Deswegen ist asmitā eben ein avidyā. Es ist die Täuschung, die es zu durchschauen gilt. 

Tja, wir kommen da nicht raus. Es mag verwirren und irritieren, aber letztlich müssen wir nicht lange darüber sinnieren, um zu erkennen, dass wir uns dieser einfachen Wahrheit nicht entziehen können: All das Ego, das wir im Laufe der Jahrzehnte aufbauen, ist eben nur eine Projektion des Geistes.

Aber was wäre denn, wenn wir unser Selbstbildnis, unser Ego wegwischen könnten? Wären wir dann Menschen, die sich selbst nicht erkennen? Wollen wir das? Patañjali geht es aber um eine andere Erkenntnis: Wenn es Dir gelingt, asmitā zu reduzieren, dann scheint das wahre Selbst dahinter durch. Darum geht es.

Und was machen wir jetzt damit? Wir Normal-Yogis. Du und ich? 

Hier ist mein einziger Rat, den ich geben kann: kümmer’ dich nicht so viel um die Entdeckung Deines wahren Selbst. Ich muss mal ein bisschen das Nest beschmutzen: Das ganze Yoga, Pranayama, Mantren singen, Sutras rezitieren und Meditieren ist oft schon wieder sooo gewollt. So viel guck-mal-was-ich-kann-Yoga. So viel guck-mal-wie-ich-mein-Ego-reduziere. Boah ey!

Ehrlich. Entspann Dich. Letztendlich sind wir alle nur ziemlich unbedeutende, sehr vorübergehende Phänomene. Dein Ego ist gar nicht sooo wichtig. Meins auch nicht. Es ist weder besonders bedeutsam, noch besonders nichtig. Es ist einfach da. Nimm es so hin. Und nimm es selbst in die Hand: Wenn Du schon erkannt hast, dass Dein Ego ein Abbild Deines Geistes ist, dann übe, ein gelassenes, liebevolles und mitfühlendes Selbst zu erschaffen. Damit leistest Du Dir und anderen den besten Dienst. 

Das ist Yoga.

Teil 30 – Futter für die Ich-Maschine: Abneigung und Gier – YS 2.7-2.8

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Oft rennen wir Dingen oder auch Menschen hinterher mit der sicheren Erwartung, dass sie uns glücklich machen und verbeißen uns in unsere Begierden. Umgekehrt - und sicherlich noch perfider -ist das Gift der Ablehnung, Abneigung, und der Wut. Wie soll man dabei seinen Geist beruhigen! Echt jetzt.

In den letzten Folgen haben wir gelernt, dass avidyā die Quelle aller Täuschungen, uns davon abhält, die Dinge klar zu sehen. Ständig verwechseln wir das, was bedeutsam ist, mit dem, was unbedeutsam ist und umgekehrt. Asmitā, die Ich-Identifizierung ist da ein ganz dicker Brocken, denn die Ich-Welt, die Ich-Maschine ist eine so ungeheureKraft, dass es selbst geübtesten Yogis schwer fällt, die Täuschung dahinter zu erkennen. 

Heute geht es um die Konsequenzen dieser Ich-Welt. Um rāga, die unbegründete Zuneigung und dveṣa die unbegründete Ablehnung. 

YS 2.7 sukha-anuśayī rāgaḥ 

Anzunehmen, dass äußere Umstände das Glück mit sich bringen, wird Gier genannt.

YS 2.8 duḥkha-anuśayī dveṣaḥ

Anzunehmen, dass äußere Umstände zu Leiden führen, wird Abneigung genannt.

Wir Menschen möchten es gern bequem haben und gute Gefühle haben. Wir möchten uns sicher fühlen und angstfrei sein. Das dürfte so oder so ähnlich auf jedes Wesen auf diesem Planeten zutreffen. Unser citta, unser wählendes und interpretierendes Bewusstsein, befriedigt dieses Bedürfnis. Es hilft uns dabei, alles, was auf uns einströmt auf Basis früherer Erfahrungen, Gefühle und Erinnerungen einzuordnen, zu verpacken, zu interpretieren und zu bewerten. Es sichert uns — wenn alles einigermaßen gut läuft — ein angenehmes Leben. Wir brauchen dieses citta, um uns in komplexen Situationen zurecht zu finden, Menschen zu vertrauen, neue Situationen einzuschätzen, zu lernen, zu agieren, zu lieben, zu essen, ja, um lebensfähig zu sein. 

Und dennoch. Als Yogis und Yoginis versuchen wir auch zu erkennen, dass dieses gesicherte Selbstbild, dieses Wir-in-der-Welt, auch wieder ein geistiges Konstrukt ist. Es ist ein bisschen so, als versuchten wir, hinter den Vorhang zu schauen auf der Suche nach einer betrachtenden Instanz dahinter, die von all diesen Erfahrungen, Bewertungen und Einschätzungen frei ist. 

Es bringt nicht viel, an der Erkenntnis fortwährender Selbsttäuschung — also avidyā — zu verzweifeln. Das hilft ja auch keinem. Aber wenn wir lernen, uns besser zu beobachten, dann können wir – so die Idee, die Ausschläge unseres citta zur Ruhe bringen und damit viel für unser und anderer Menschen Wohlbefinden tun.

Und so verhält es sich auch mit rāga, der unbegründeten Zuneigung und dveṣa, der Abneigung. Citta, unser interpretierendes Bewusstsein, wägt auch immer ab in „mag ich“ und „mag ich nicht“,  in „will ich“ und „will ich nicht“. rāga, und dveṣa sind unsere ständigen Begleiter in banalsten Situationen. Rāga und dveṣa machen das Leben auch würzig, so ist es nicht. Sie sind leckere Zutaten des Alltags. Dinge abzulehnen, oder übertrieben zu lieben, macht Spaß und ist Kitt für Deine soziale Peer-Group.

Sätze wie „das liebe ich total“ oder „bei dem Typen muss ich gleich kotzen“, „das ist das Beste, was mir je passiert ist“, „ich hasse dies und das“, „wenn ich jetzt nicht sofort dies und das bekomme, dann krieg ich echt schlechte Laune“… usw., kennt schließlich jeder. Oder Du nicht? Diese Liste ließe sich endlos fortführen.

Oft rennen wir Dingen oder auch Menschen hinterher mit der sicheren Erwartung, dass sie uns glücklich machen und verbeißen uns in unsere Begierden. Umgekehrt — und sicherlich noch perfider, ist das Gift der Ablehnung, Abneigung, und der Wut. Vielfach wissen wir sogar, dass wir ablehnende, vorurteilsbehaftete Ansichten mit uns rumtragen. Wir setzen sie sogar bewusst ein, vielleicht, um jemandes Zuneigung zu bekommen, vielleicht um, um unangenehmen Wahrheiten aus dem Weg zu gehen. 

Rāga und dveṣa sind daher die zwei entgegengesetzten großen Kräfte, die in asmitā, der Ich-Maschine, der Ich-Verhaftung wurzeln. Rāga-dveṣa ist das Pendel, das mehr oder minder intensiv zwischen „das liebe ich“ und „das hasse ich“ schwankt.

Und natürlich richten sich rāga und dveṣa auch gegen uns selbst: Das Hadern mit sich, die Selbstablehnung bis hin zu Selbsthass sind genauso zerstörerisch wie übertriebene Selbstliebe. Sie haben nichts mit unserem eigentlichen Wesen zu tun. 

Und wieder und wieder stellen wir uns ratlos die Frage: wie kommen wir da raus? Na, eben gar nicht. Das war ja schon klar, ne?

Das sind hier die kleśas hier, die wirst Du nicht los. Die sportliche Herausforderung und eine sehr schöne Yogaübung, sich selbst dabei zu beobachten, wie das alltägliche Pendel unseres citta hin- und her schwingt zwischen rāga und dveṣa. Und immer dann, wenn Du erkennst, dass diese Zu- und Abneigungen letztlich Quatsch sind und auf Vorurteilen und Täuschungen beruhen, trägst Du dazu bei, Dein inneres Pendel zur Ruhe zu bringen. 

Das ist Yoga. 

Teil 31 – Todesangst und Überlebenstrieb YS 2.9

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Eins ist sicher. Wir werden sterben. Irgendwann. Vielleicht in 30 Jahren, vielleicht morgen. Alle Wesen wollen leben, vom Einzeller bis zum komplexen Wesen. Und dennoch ist der Gedanke des Verschwindens für Menschen eine harte Nuss. Zugleich trennt der Mensch gern zwischen sich und der so genannten Umwelt. Ein verzweifelter Versuch, die eigene Existenz von den Gesetzen der Natur  loszukoppeln. Doch wir sind Teil des Kreislaufs vom permanenten Werden und Vergehen.

In den letzten Folgen haben wir gelernt, dass avidyā die Quelle aller Täuschungen, uns davon abhält, die Dinge klar zu sehen. Ständig verwechseln wir das, was bedeutsam ist mit dem, was unbedeutsam ist und umgekehrt. Asmitā, die Ich-Identifizierung, rāga, die unbegründete Zuneigung und dveṣa, die Ablehnung sind, wenn man so will, die Kinder von avidyā. 

Alle diese Hindernisse werden Kleshas genannt. Diese Kleshas sind da. So oder so, Du kannst Ihnen nicht entkommen, Du kannst nur versuchen, sie zu erkennen und zu verringern. Und so verhält es sich auch mit dem Klesha, um das es heute geht. Es heißt auf Sanskrit: Abhiniveśa. Abhiniveśa heißt Angst, auch Todesangst oder aus der anderen Perspektive betrachtet: Lebenstrieb. 

YS 2.9 svarasvāhi viduṣo-‚pi samārūḍho-‚bhiniveśaḥ 

Die Angst besteht aus sich selbst heraus und kann sogar den Weisen beherrschen. 

Puh, jetzt soll ich als Yogi auch noch den Lebenstrieb überwinden? Nein, nein, keine Angst. Wir schauen nur mal wieder den Urkräften und Treibern der menschlichen Existenz ins Auge, schonungslos und analytisch. 

In den vergangenen Folgen hatte ich ja schon das Bild eines Pendels genutzt als Metapher für die Ausschläge der Psyche in die eine oder andere Richtung. Bei abhiniveśa gibt es kein Pendel. Das Festhalten am Leben ist normalerweise immer da und absolut. Es besteht aus sich selbst heraus und ist mit dem Körper verbunden.

Jetzt könnte man sich aber fragen, was ist es eigentlich, das uns am Leben festhalten lässt. Wir können sagen: ja, es ist eben unsere Ich, unser Ego, unser hier-bin-ich und hier-bleibe-ich. 

Wenn wir uns andere Mitwesen auf diesem Planeten anschauen, werden wir feststellen, dass das Unbedingt-Leben-Wollen oder besser Überleben-wollen der Treiber allen Geweses ist, ja der ganzen Evolution. Permanente Anpassung, nur ja die Art erhalten, um jeden Preis. Keine Pflanze möchte gepflückt werden, kein Vogel gefangen, kein Tier geschlachtet. Bis zur bakteriellen Ebene sind alle Zellen organischen Lebens darauf aus, Gefahren auszuweichen und zu überleben.

Der Mensch ist ja nicht getrennt von der Umwelt. Was für ein Wort. Umwelt. Wir betrachten uns losgelöst von der Natur, aber wir sind ja Teil des Kreislaufs. Milliarden Bakterien besiedeln unseren Körper — Gott sei Dank. Wir atmen den Sauerstoff, den die Bäume für uns bereitstellen, wir verzehren organische Nahrung, ob es Tiere oder Pflanzen sind. Wir scheiden aus und wir vermehren uns. jede Mikrobe in uns, jedes Bakterium, jede Zelle will leben. Dieser Wille zu Leben ist einprogrammiert und unwillkürlich. 

Darüber liegt die Schicht der Wahrnehmung und Bewertung – unser citta. Unser wählendes Bewusstsein kreiert die Projektion eines Ichs, dass über die natürlichen körperlichen Funktionen hinaus eine Bedeutung hat. Wir sind in der Lage, ein Selbstbildnis von uns zu erschaffen, dass sich herauszuheben scheint aus den Gesetzmäßigkeiten der Natur, auch wenn wir jetzt schon wissen, dass dies ein avidyā, eine Täuschung ist. Denn wir wissen ja: Das Leben ist endlich. Wir werden sterben. Vielleicht in 20, 30, 40 Jahren. Vielleicht aber auch schon morgen. Oder noch heute! Wer weiß. 

Oder doch nicht? Sind wir nicht vielleicht doch unsterblich? Noch ist der Beweis ja nicht erbracht, dass Du oder ich sterben werden. Es ist nicht leicht für ein menschliches Individuum, auszuhalten, mit einem so entwickelten Gehirn durchs Leben zu laufen, das einem immer klar macht, dass es morgen zu Ende sein kann. Was macht das mit uns? Wir tun das, was wir am besten können: Wir verdrängen, wir verleugnen, wir täuschen uns. Warum auch nicht. Solange es läuft, läuft es. Weitermachen bis zum Umfallen. Hau rein!

Wenn was passiert, ein Unfall, eine Schreckenserfahrung, der Tod eines geliebten Menschen, oder auch wenn Du beim Kopfstand üben im Yoga umfällst, ja auch dann werden wir erinnert. Wir werden erinnert an die Angst, Was machen wir damit?

Es ist nicht so, dass Du in solchen Situationen viele Optionen hast. Es passiert und bähm!, Du reagierst. 

Abhiniveśa ist immer da. Auch abgemildert. Es muss nicht gleich um Leben und Tod gehen, denn das ist sehr extrem. Abhiniveśa ist eben das Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit. Die Angst vor dem Verschwinden, die Angst vor der eigenen Unwichtigkeit, dem langsamen-von-der-Bühne-gehen, die Angst vor Aufmerksamkeits-Entzug. Hallo? Haalooo? Ja hier … ich … ich bin noch da… sieht mich jemand? Ich bin noch nicht tot!

Wie auch immer: abhiniveśa ist super. Ein Katalysator, ein Pusher. Aber es hält uns eben auch davon ab, unsere bescheidene Existenz entspannt zu bewerten und nicht so wichtig zu nehmen. Wenn wir uns klar machen, dass Angst, auch Todesangst, immer da ist, dann können wir Ihr gelassener begegnen und nicht versuchen, sie zu verdrängen. 

Das ist Yoga.

Teil 32 – Über das Leiden YS 1.10 – 1.17 im Überblick

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Yoga-Sutras 1.10 bis 1.17 handeln vom Leiden. Ein schwieriges Thema und ein großes Thema. In der Erkenntnis der Vergänglichkeit klammern wir uns an Dinge mit unserer Zuneigung oder Abneigung, wir machen uns ständig was vor, verwechseln das, was wirklich zählt mit dem, was eigentlich nichtig ist und nehmen uns wichtiger als wir sind. Diese Folge bietet einen Überblick über das Thema.

Michael singt: „ob du Christ bis oder Moslem, schwarz bis oder weiß, es gibt ein Leben, ein Leben nach dem Tod … es gibt ein Leben nach dem Tod“

Der Rheinländer weiß Bescheid. Dieses bekannte Lied der Bläck Föss spulte sich gleich aus meinem Lieder-Erinnerungsspeicher, als ich mir überlegte, wie ich die nächsten 7 Sutras angehen kann, um sie verständlich zu machen. YS 1.10 bis 1.17 sind so groß und gewaltig und dennoch werden sie auch von denen, die sich mehr damit beschäftigen, oft etwas links liegen gelassen. Es geht um das Leiden, dukha. Um das Leben als Leiden. Das ist schwierig und auch gar nicht lustig. Das Konzept vom Leben als Leiden ist nicht so leicht zu verstehen — so jedenfalls meine Erfahrung. 

Ich mache deswegen mal eine Ausnahme und will diese Sutras vorab kurz zusammenfassen, auch ein bisschen, um zu verorten, wo wir jetzt stehen in unserer Betrachtung. In den nächsten Folgen werde ich dann die einzelnen Sutras genauer anschauen — so der Plan. 

Das wirklich fröhliche Lied der Bläck Föss greift mit dem Humor, den der rheinische Karneval hat, das Dilemma auf. Eigentlich wissen wir Menschen natürlich  um die Vergänglichkeit allen Seins. Ich hatte ja schon in der letzten Folge darüber gesprochen, als es um abhiniveśa, den Selbsterhaltungstrieb ging. Wir wissen und erleben täglich, dass alles Leben kommt und wieder vergeht, uns eingeschlossen. Möglicherweise ist der Mensch das einzige Wesen auf Erden, dass sich sowohl der Evolution als auch der eigenen Vergänglichkeit bewusst ist. Das ist so groß und ungeheuerlich, dass dieses Wissen um das eigene Sterben ein lebenslanges Dilemma auslöst, um das wir nicht herumkommen. 

Der Mensch möchte nicht verschwinden. Also verdrängt er auf der einen und erhöht seine Bedeutung auf der anderen Seite. Das war schon immer so. Aber er kann sich doch nicht richtig damit abfinden, dass alles Leben endlich ist. Der Mensch erschafft gewaltige geistige Konstruktionen, die vielleicht doch noch einen Ausweg aufzeigen. Die Vorstellung von einem Leben nach dem Tod ist so eine verzweifelte Konstruktion. Es nährt die „Neigung zur Selbstverewigung“ Dieses permanente Spannungsverhältnis zwischen tatsächlicher Nichtigkeit und Selbstüberschätzung löst Leiden aus. Eigentlich kann man das nur ertragen, wenn man sich darüber liebevoll lustig macht, so wie die Bläck Föss tun in ihrem Lied. 

Die kleśas, über die ich in den vergangen Folgen berichtet habe, sind die Ursachen dieser Spannungen. In der Erkenntnis der Vergänglichkeit klammern wir uns an Dinge mit unserer Zuneigung oder Abneigung, wir machen uns ständig was vor, verwechseln das, was wirklich zählt mit dem, was eigentlich nichtig ist und nehmen uns wichtiger als wir sind. Ja, Du auch. Ich auch. Das gehört zum Mensch sein dazu. Und das zu erkennen, ist schon ein ganz wichtiger Schritt Richtung Gelassenheit. 

Dennoch. Das Dilemma der Vergänglichkeit bleibt. Die kleśas bleiben. Wenn Du einfach unachtsam durchs Leben läufst, dann wird Dich die Wucht der Erkenntnis der Vergänglichkeit vielleicht zu einem Zeitpunkt treffen, wo Du es am wenigsten gebrauchen kannst. Wenn plötzlich Dinge oder Muster, die Du für wichtig hältst, wegbrechen, und der Sinn auf einmal flöten geht, dann brennt der Baum und Du weißt nicht mehr, was zu tun ist oder wer du überhaupt bist. 

Yoga ist ein Weg, es dazu nicht kommen zu lassen. Yoga heißt, zu versuchen die wahre Natur der Dinge besser zu erkennen. Uns selbst besser zu erkennen. Das kann durch Meditation geschehen, was nichts anderes bedeutet, als die Kraft des Betrachtens zu stärken und die kleśas, die Ichsucht, die Begierden, die Wut und die Selbstüberhöhung zurückzufahren. 

Wir können uns jetzt und hier hinstellen und versuchen, uns – vielleicht auch nur für ein paar Minuten – aus diesem permanenten Strom des Wollens und Tuns herauszuziehen, um zur Ruhe zu kommen. Yoga schaut nicht zurück. Das, was passiert ist, ist passiert, ob es nur leidvoll oder freudvoll war. Die Folgen dessen, was Du bisher gemacht hast, sind sowieso unabwendbar, denn alles hat Konsequenzen.

Die gute Nachricht zum Schluss ist: durch Erkennen dieser Zusammenhänge kannst Du zukünftiges Leiden verhindern. Und damit kannst Du hier und jetzt beginnen. 

Das ist Yoga

Teil 33 – Große Gefühle, großes Leiden! Lass Dich nicht hinwegreißen – YS 2.10 und 2.11

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Große Gefühle, großes Leiden! Dieser Teil dreht sich um die kleśas, die Widerstände und inneren Kräfte, die uns abhalten von einem ruhigen Geist. Die großen Gefühle, die großes Leiden auslösen. Die Lösung: nach innen schauen und sich nicht fortreißen lassen.

In der letzten Folge habe ich einen Überblick über die Sutras 2.10 bis 2.17 gegeben. Diese haben die eigentlich simple Erkenntnis zum Thema, dass wir uns im Bewusstsein unserer tatsächlichen Vergänglichkeit und Nichtigkeit zwangsläufig in einer Spirale des Leids befinden. Ständig lavieren wir um die Erkenntnis unserer Endlichkeit herum und tun und erfinden alles mögliche, was unsere vermeintliche Wichtigkeit und Bedeutung vorgaukelt. Diese Täuschung, das falsche Wissen, ja der lebenslange Selbstbetrug wird im Sutra mit dem Begriff avidyā bezeichnet. Avidyā und die aus ihr hervor gehendenden leidvollen Spannungen sind die kleśas.Avidyā und kleśas – zwei Begriffe, die Ihr im Kopf behalten solltet, wenn Ihr es schon bis hierher geschafft habt.

Nun wäre das Yoga-Sutra nicht das Yoga-Sutra, wenn es nicht um den Versuch ginge, durch — eben — Yoga dieses Misere zu lösen oder mindestens zu abzumildern.

YS 2.10 te pratiprasava-heyāḥ sūkṣmāḥ 

Diese subtilen Spannungen können an der Quelle überwunden werden.

Y2 2.11 dhyāna heyāḥ tad-vṛttayaḥ

Die Versenkung auf das zu Überwindende löst diese Spannungen im Bewusstseins auf

Es ist großartig und klug, dass das Sutra uns nicht vormachen will, dass wir die kleśas, die ja sehr ursprüngliche Gefühle sind, wirklich überwinden könnten. Wir alle kennen unterschiedliche Grade dieser ursprünglichen Gefühle: Verwirrung, Wut, Euphorie, Angst, oder nicht?

Diese grundlegenden Gefühle schlummern immer in uns, mal mehr oder mal weniger bewusst. Manchmal brechen sie vermeintlich aus. Wir regen uns über etwas oder jemanden auf, auch über uns selbst vielleicht. Und die Wut steigt in einem hoch, wie man ja auch sagt. Man wird fortgerissen von der Angst, überwältigt vom Glück, übermannt oder überfraut von der Angst. Große Worte, große Gefühle. 

Das Besondere an diesen großen Gefühlen ist: Sie erscheinen einerseits im Moment der höchsten Intensität alternativlos und dauerhaft. Andererseits sind sie aber auch sehr leidvoll bzw. schmerzhaft. Selbst eine völlige Euphorie, ein totales Glücksgefühl ist ein extremes Gefühl, das wir nicht dauerhaft aushalten könnten. 

Wenn man total wütend ist, dann fühlt es sich auch so an, als würde das jetzt auch nicht mehr aufhören. Nie mehr. Man kann sich in dem Moment gar nicht vorstellen, dass man sich nach ein paar Minuten wieder beruhigt haben wird, obwohl es immer so ist. Im Moment der höchsten Angst kann man nicht wirklich einen Gedanken drauf verwenden, dass es demnächst wieder anders sein könnte. Das macht diese ursprüngliche Gefühl so wirkmächtig.

Diese ursprünglichen Gefühle sind den meisten anderen Mitwesen in bestimmten Maße auch zu eigen, wie die moderne Wissenschaft bestätigt. Sie spricht in diesem Zusammenhang vom so genannten Protoselbst, einer tiefen entwicklungsbiologischen Ebene, die der Sicherung der Existenz dient. Es ist entscheidend, Angst zu haben, ablehnend oder wollend zu sein, um im richtigen Moment lebenswichtige Entscheidungen zu treffen. Daher werden uns diese Gefühle auch immer begleiten.

Ihnen ist ausserdem zu eigen, dass sie zwar vermeintlich über äußere Ereignisse ausgelöst werden, aber letztlich immer eine Innenwahrnehmung darstellen. Diese Gefühle sind unmittelbar mit der Eigenkörperwahrnehmung verbunden, der so genannten Interozeption. Das ist ganz wichtig zu verstehen, denn wir erinnern uns: Wir nehmen Dinge und Objekte, also auch uns selbst, immer nur durch die Brille unseres eigenen Bewusstseins wahr. Wir kommen aus dieser Perspektive, aus diesem Gefängnis unseres Bewusstseins niemals raus. 

Der Umgang mit den grundlegenden Gefühlen, wie sie in den kleśas beschrieben werden, kann daher auch nur und ausschließlich ein innerer Prozess sein. Ein Prozess der Betrachtung nach innen. Die Betrachtung nach innen, z.B. durch Meditation oder einfach achtsame Beobachtung, hilft uns zu erkennen, wo und wie und in welcher Intensität sich diese Gefühle gerade entwickeln. Die Ursache für Deinen geistigen Zustand, die Ursache für Dein Wohlsein liegt immer nur in Dir selbst und nirgendwo anders. Das erfordert eine sehr geschulte Beobachtung. Denn die Yogis wollen erst gar nicht, dass diese kleśas zu groß werden, denn dann ist es zu spät. Aufgrund ihrer großen Kraft bekommen wir sie dann nur noch schwer eingefangen. Denn jeder Fußballfan weiß: Haste Scheiße am Schuh, haste Scheiße am Schuh. Wenn der Baum erst mal brennt, ist es fast zu spät. 

Der Trick ist, einerseits gar nicht erst unsere Wut, unsere Begierden und auch nicht unsere Ängste zu sehr zu nähren, sie nicht zu kultivieren. Das Sutra verwendet hier und an anderen Stellen dafür das Bild des Keims. Wenn ich den immer vorhandenen Keim meiner Wut gar nicht erst füttere, wuchert er nicht. Der Weg zur Gelassenheit, sagt Patañjali, kann also nur durch eine Bewegung zur Quelle, zum Ursprung, pratiprasava, erfolgen. Warte nicht erst bist Dich Deine Gefühle überrumpeln. Lerne auch in den kleinen Situationen, wenn Du emotional aufgewühlt bist, dann frag dich: Hey, was steckt eigentlich wirklich für ein Gefühl dahinter, das gerade in mir wuchert? Zieh dich zurück, geh raus aus der Situation, setz Dich hin oder geh spazieren, atme ein bisschen. Lass Dich nicht weiter im Strom der Gefühle mitreißen, halte inne und gehe den Strom andersherum, zurück zur Quelle. Und dann kannst Du vielleicht erkennen, was es ist, und an den Ursprung Deiner Gefühle kommen und die Keime nicht nicht weiter wässern. 

Das ist Yoga.

Teil 34 – Aus diesem folgt das: Karma YS 2.12

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Karma ist das Gesetz von Ursache und Wirkung. Karma hält das Rad des Lebens am Laufen. Karma ist aber nicht „Schicksal“, auch wenn wir das Wort im Alltag oft so benutzen. Karma ist einfach die nüchterne Erkenntnis von Ursache und Folge. Solange wir das Rad der Handlung drehen, erzeugen wir Karma. Und die Quelle für diese Handlungen sind eben unsere kleśas, unsere Lebens-Triebe.

Wir befinden uns noch in den Sutras, die sich mit der Frage der Entstehung und Überwindung von Leiden beschäftigen. Leiden entsteht letztlich aus dem Spannungsfeld der endlichen Existenz und der überhöhten Identifizierung mit unserem Ego. Wir fallen sozusagen ständig — um es mal salopp auszudrücken  — auf die Geschichten rein, die wir uns über uns selbst erzählen. Wir betrachten uns eigentlich wie ein selbst entworfenes Drama auf einer Theaterbühne. Der einzige Zuschauer in dem Spektakel bist Du selbst, denn nur Du hast die einmalige Perspektive auf die Welt, die sonst keiner teilt. Dieses Dilemma hindert uns nicht am Leben, im Gegenteil. Es ist notwendig, um Entscheidungen zu treffen, zu lieben, zu arbeiten, zu lachen und ja, zu leiden. 

Yoga beschreibt den Weg nach innen. Wir leuchten hinein in die Welt unserer Existenz, um besser zu verstehen, was uns ausmacht, was uns treibt. Am Ende mit der Idee, sich nicht davon treiben zu lassen, sondern fokussiert und gelassen zu sein. Yoga erkennt das Dilemma der menschlichen Existenz an ohne Umschweife und Ausreden. Deswegen wirkt das Yoga-Sutra manchmal ganz schön streng und schonungslos, zumindest wenn man es wirklich aufmerksam liest. 

Die kleśas, die störenden Kräfte, die uns an der Befreiung unseres Geistes hindern, sind existenziell und bei allen Menschen da: (Selbst)täuschung, Wut, Begierde, Todesangst. Diese Kräfte sind der Kraftstoff unserer Existenz und unseres Handelns. In YS 2.12 heißt es deshalb:

YS 2.12 kleśa-mūlaḥ karma-aśayo dṛṣṭa-adṛṣṭa-janma-vedanīyaḥ

Die kleśas bilden die Grundlagen für Neigungen, aus denen dann Handlungen und Folgen (Karma) entspringen. Diese werden in der nahen Zukunft oder in einem künftigen Leben erkennbar. 

Es ist widersprüchlich. Wir wollen, wie wir in der letzten Folge gesehen haben, die kleśas durch Meditation und Versenkung eigentlich nicht unnötig nähren, um sie abzuschwächen. Aber wir sehen in diesem Sutra auch, dass aus den kleśas eben auch Handlungen entspringen. Wir sind ja Menschen, wir wollen handeln, oder? 

In der Zeit der Pandemie, in der wir zur Zeit der Produktion dieser Folge noch stecken, werden wir ja alle darauf zurückgeworfen, was es bedeutet, mal weniger zu tun. Was macht das mit uns? Bei mir löst das – da muss ich jetzt gerade selbst über mich lachen — wiederum Handlung aus. Ich kümmere mich sein Monaten um diesen Podcast. Ich handle.

Also, ne? Wir wollen was tun und Handlungen haben Folgen. Das bestreitet keiner. Patañjali sagt: Ja, klar. ABER: das hält das Rad des Leidens am Laufen. Aus diesem folgt das und daraus das nächste und immer so weiter. Das Wort dafür habt Ihr alle schon mal gehört und bei vielen ist es einfach in die Alltagssprache eingeflossen: Karma. 

Beispiel: Zu mir sagte neulich jemand: Ach, bei mir spinnen die Computer immer und sie wollen nie das, was ich will. Das ist sicher mein Schicksal, das ist mein Karma!

Tja, das Wort ist so in unsere Sprache geflutscht. Aber wir benutzen das Wort falsch. Karma ist nicht „Schicksal“ oder so etwas. Schicksal ist etwas, was im Yoga nicht vorkommt. Schicksal ist aus Yoga-Sicht viel zu irrational und zu moralisch. 

Karma ist einfach die nüchterne Erkenntnis von Ursache und Folge. Solange wir das Rad der Handlung drehen, erzeugen wir Karma. Und die Quelle für diese Handlungen sind eben unsere kleśas, unsere Lebens-Triebe. Das hat Konsequenzen: manche sind sofort sichtbar und erfahrbar, manche erst in der Zukunft. Das steht in diesem Sutra. Herrlich! 

So wunderbar simpel. Ohne Drama. Wenn ich Dich jetzt anschnauze und beschimpfe, hat das unmittelbare Folgen. Du wirst sauer oder traurig oder eingeschüchtert oder aggressiv, was auch immer, nicht mehr in meiner Kontrolle. Die Konsequenz mag sein, dass wir in eine unangenehme Beziehung eintreten. Das wird mich davon abhalten, Yoga zu üben. 

Wenn ich heute im Supermarkt Fleisch von getöteten Tieren kaufe und esse, dann hat das Konsequenzen. Für das Tier nicht mehr, das ist schon tot. Aber für das Leid zukünftiger Tiere, denn ich halte das Rad des Tiere Tötens am Laufen, für meine Gesundheit, für das Klima, und und. Egal, wie klein oder groß die Handlung ist, sie hat unmittelbare oder mittelbare Folgen. Manche werden erst außerhalb meines eigenen Lebens spürbar, im nächsten und fortfolgenden Leben.

So häufen wir Karma an. Die Idee, ganz viel tolles Karma aufzubauen, auf dass man im nächsten Leben als besserer Mensch oder als Eichhörnchen wieder geboren wird, hat mit Yoga nichts zu tun. Karma ist an sich nichts Erstrebenswertes. Yogis wollen das Karma reduzieren, um vielleicht irgendwann das Rad des Leidens anzuhalten. Deswegen müssen wir uns um die Wurzeln des Karmas kümmern. Ja, genau, richtig: Um unsere kleśas, unsere grundlegenden Gefühle. Wir müssen an die mūla, Wurzel des Übels. Mūla dhara chakra, schon mal gehört im Yoga, ne? Da steckt das Wort auch drin, im Wurzel-Chakra. Die Yogis haben mit dem Wurzel-Chakra genau ein Modell entworfen, bei dem sie diese ursprünglichen, grundlegenden Gefühle und Themen körperlich in der Beckenregion verorten. Das passt. Nicht das hochfliegende, luftige, intellektuelle, sondern die Arbeit an den existenziellen Trieben des Menschen. 

Auch das ist Yoga.

Teil 35 – Im Netz von Ursache und Wirkung – YS 2.13 und 2.14

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Sollten wir uns besser zurückziehen und nur noch unter einem Baum meditieren? Ist das die Alternative zu immer mehr „Action and Distraction“ - zu immer mehr Aktionismus und Ablenkung? Ist nicht doch eben der Rückzug, das weniger-Handeln, weniger Karma der Rat der Stunde? Das Leben ist ein Widerspruch.

In der heutigen Ausgabe beschäftigen wir uns mit zwei Sutras, die das Thema der Verwicklung des Menschen in den zeitlichen Kontext fortführen. Ich formuliere gleich bewusst etwas umständlich: „die Verwicklung des Menschen in den zeitlichen Kontext“, um mich ein bisschen um das Wort Karma herumzumogeln, weil dieses Wort im alltäglichen Sprachgebrauch zu Missverständnissen führt. Dazu hatte ich ja schon in der letzten Folge einiges ausgeführt. 

Wir wissen schon: aus dem existenziellen Dilemma des Seins entstehen Spannungen — das waren die kleśas — und aus dieser Wurzel wiederum entstehen Handlungen. 

Alle unsere Handlungen haben Konsequenzen, manche sofort, manche erst in der nächsten Woche, manche erst in nächsten Leben. Das hat nix mit Wiedergeburt oder Esoterik zu tun, sondern ist einfach streng wissenschaftlich. Leben wir nicht genau in einer Zeit, wo wir uns dieser simplen logischen Ketten bewusster werden müssten, denn je? Aus Angst, aus Wut, aus Euphorie, aus dem unbedingten Festhalten am Ego und Überhöhung der eigenen Bedeutung entstehen Handlungen, die vielleicht nicht immer so toll und verantwortungsvoll sind, wie es nötig wäre. 

Was wir aber bei Patañjali lesen, ist: Um das Leiden zu reduzieren, musst Du die Ursache erkennen und bei Dir anfangen, denn was sonst kannst Du beeinflussen?

Patañjali, würde er heute leben, würde vermutlich nicht sagen, wir müssen unseren Planenten retten, der wird schon überleben. Er würde sagen: fang bei Dir selbst an, setz dich hin, beruhige Deine Gedanken, zähme Deinen Geist und nähre nicht Deine kleśas. Du bis verantwortlich. Davon handeln die beiden Sutras der heutigen Ausgabe:

2.13 sati mūle tad-vipāko jāty-āyur-bhogāḥ 

Wenn es so ist, dass die kleśas aktiv sind, dann zeigen sich die Konsequenzen in der Art, der Dauer der Wirkung und in dem Maß an Glück oder Unglück, die sie hervorrufen.

2.14 te hlāda paritāpa-phalāḥ puṇya-apuṇya-hetutvāt 

Diese Konsequenzen können glücklich sein, wenn sie auf Erkenntnis, und unglücklich, wenn sie auf Verwechslung beruhen.

Das, was wir heute tun, bzw. das, was wir heute fühlen und denken, hat Konsequenzen! Verdammt, ja. Das müssen wir uns alle mal hinter die Ohren schreiben. Jeder von uns möge vor der eigenen Haustür kehren. Wir leben größtenteils nicht nur so, als gäbe es kein Morgen, sondern wir leben tatsächlich so, dass es auch bald keines mehr geben wird. Wir verbrauchen die natürlich Ressourcen, wir lassen Menschen einfach im Meer ertrinken, wir vernichten die Lebensgrundlagen unserer Mitwesen oder töten sie besser gleich, um sie zu essen und und und … Wir müssen nicht Patañjali lesen, um zu verstehen, dass das nicht besonders toll ist. 

Sorry, ich bin selbst in einem Konflikt hier. Ich bin natürlich der Überzeugung, dass die Menschheit ganz viel unternehmen muss, um die Welt besser, friedlicher und grüner zu machen. Es ist wichtig, dafür starke Gefühle zu entwickeln, Worte zu finden, zu überzeugen und zu handeln. Wie können wir das erreichen, ohne uns a) selbst zu wichtig zu nehmen und b) nicht dadurch wieder zu mehr Leid beizutragen. Die Konsequenzen auch gut gemeinter Handlungen, sind nicht wirklich absehbar.

Sollen wir uns nicht doch besser zurückziehen und nur noch unter einem Baum meditieren? Ist das die Alternative zu immer mehr „action and distraction“ – zu immer mehr Aktionismus und Ablenkung? Ist nicht doch eben der Rückzug, das weniger-Handeln, weniger Karma der Rat der Stunde? Das Leben ist ein Widerspruch. Yoga ist die Disziplin zum Umgang mit den Widersprüchen, die unsere Existenz für uns bereit hält. Wir müssen das aushalten. 

YS 2.13 versucht, so sehe ich es, uns in diesem Dilemma abzuholen und analysiert: Das was tust, hat nämlich dreierlei Konsequenzen: auf das, was beeinflusst wird, wie lange es wirkt und ob es Glück oder Unglück hervorruft.

Wir wollen natürlich eher glückliche Gefühle haben und auslösen, also gibt YS 2.14 eine klare Ansage: Handlungen, die auf punya, auf guter Erkenntnis beruhen, werden Glück hervorbringen, und Handlungen, die auf apunya beruhen, also auf Verwechslung und Unkenntnis, werden zu Unglück führen. So einfach ist das. Und so schwer.

Wir alle sind wie in einem Spinnennetz miteinander verbunden. Wenn sich irgendwo etwas in dem Netz bewegt, gehen die Vibrationen durch das ganze System. Das Netz des Lebens, in dem wir durch unsere Gefühle, unsere Gedanken und Handlungen unsere Wirkung entfalten, ist nicht eindimensional, sondern vielfach in den zeitlichen Dimensionen aus Vergangenheit und Zukunft verknüpft. Du bist nicht allein hier, Yogi und Yogini. 

Wenn Du zur Erleuchtung kommen willst, dann musst du die Auswirkungen Deiner Handlungen reduzieren. In 2.13 finden wir das Wort „bhoga“ Bhoga ist sozusagen der Anders-Zustand zu Yoga und reimt sich auch so schön. Bhoga ist die ganze Welt der Ablenkung, der Verführung, aber auch des Unglücks, des Glücks, des schnellen Verdrusses und des Überdrusses. 

Also, den Weg zu finden durch Erkenntnis das Richtige zu tun, dass das Leiden reduziert, ohne unser Ego weiter zu befeuern, das wäre dann der tägliche Yogaweg. Bei jeder Handlung und jedem Gedanken ist das eigentlich zu überprüfen. Auch wenn wir uns vermeintlich „richtig“ und ethisch und moralisch korrekt verhalten, sollten wir uns nichts darauf einbilden, denn wir wissen nicht wirklich, was wir anrichten. Wir sitzen alle im selben Netz von Ursache und Wirkung. 

In dieser „Verwicklung des Menschen in den zeitlichen Kontext“ können wir uns lediglich nach bestem Wissen bemühen, die Ursachen für unser Handeln wieder und wieder hinterfragen. Das ist Yoga.

Teil 36 – Leiden vermeiden, bevor es entsteht – YS 2.15 und 2.17

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Zukünftiges Leiden kann dann vermieden werden, wenn wir uns aus den Fängen der Verwechslung und Irrtümer befreien, unseren Geist beruhigen und unsere Unterscheidungskraft reifen lassen.

Im heutigen Teil schließen wir mit den Sutras 2.15-2.17 den Abschnitt des zweiten Kapitels ab, der sich mit der Analyse der Ursachen von Leiden beschäftigt, die uns seit der 32. Folge dieses Podcasts begleitet. 

Ich widme dem Thema des Leidens — duḥkha auf Sanskrit — so viel Aufmerksamkeit, weil es sich unserer Geisteswelt etwas schwerer erschließt als manch andere Themen des Sutra. Es ist aber ganz zentral, das dem Sutra zu Grunde liegenden Konzept von Leiden als durchgängiges Element der menschlichen Existenz zu verstehen. 

Nun, wir könnten sagen, das kennen wir doch schließlich auch nur allzu gut in unserer „westlichen“ christlichen Geistestradition: Ist nicht Jesus, der sich opfert für die Menschen, die Personifizierung des Leidens. Der Schmerzensmann, der das Leiden der Welt auf sich nimmt und uns so erlöst? 

Nein, das ist wirklich ein anderes Konzept. Eigentlich ist es genau das Gegenteil. Das Christentum hat mit der Jesusgeschichte einen anderen Weg im Umgang mit Leid gewählt. Es projiziert das Leiden auf einen Erlöser, und nimmt es uns so. Zugleich können wir, wenn wir selbst leiden, uns identifizieren und unser Leiden leichter machen, denn das Vorbild Jesus kann uns Trost sein. 

Yoga dagegen ist immer mehr der Blick nach innen, die Versenkung, der Rückzug. Yoga wartet nicht auf den Erlöser, der Weg zur Freiheit kommt hier aus der tiefen Erkenntnis und der Meditation auf das, was die menschliche Psyche treibt. Die tief sitzenden grundlegenden Spannungen, das waren die kleśas, sind immer da und verstricken uns in einen unabwendbaren Sog von Handlung und Wirkung. Wir halten unsere subjektive Wahrnehmung für die Wahrheit und wir verwechseln das, was unwichtig und unstet ist mit dem, was bedeutsam und dauerhaft ist. 

Und so lesen wir in YS 2.15:

YS 2.15 pariṇāma tāpa saṁskāra duḥkhaiḥ guṇa-vṛtti-virodhācca duḥkham-eva sarvaṁ vivekinaḥ 

Leiden entsteht durch Anhaften an Vergehendes oder nicht Existentes oder durch den unendlichen Prozess von Ursache und Wirkung (samskara). Schon die ständige Wandlung der Natur (guna-vṛtti) führt zu Leiden. Für den unterscheidungsfähigen Menschen ist das Leiden allgegenwärtig.

Duḥkha, die Enge, das Leiden, die Niedergeschlagenheit, die Depression, kann nur ausgelöscht werden, wenn wir erkennen, dass wir die ganze Zeit einer Illusion aufsitzen und hinterher hecheln. Die Illusion ist das Anhaften an der allzu vergänglichen Existenz und das Leugnen der permanenten Wandelbarkeit der Natur und allen Seins. Die Quelle für diesen Zustand liegt tief in unserem Bauplan. Alles ist ständigem Wandel unterworfen und wir sind nur ein winziger Teil diesen Wandelbaren.

Im Yoga ist das Leiden nicht projiziert, es gibt keine Instanz, die sich einschaltet zwischen das meinende Bewusstsein und die Welt. Wir sind in unserer Weltwahrnehmung, in unserer subjektiven Sicht letztlich allein, auch wenn wir alle ähnliche Erfahrungen machen. Dieses Verständnis von leidvollen Spannungen wirft uns am Ende immer auf uns selbst zurück und daher haben auch nur wir den Schlüssel für die Reduzierung des Leidens in der Hand. Dieser Schlüssel heißt viveka, die Unterscheidungskraft. Vivekin ist der Mensch, der zur Unterscheidung fähig ist. 

Irgendwie ist Yoga echt anstrengend, alles muss man selber machen. Es wäre doch viel praktischer, wenn man diesen ganzen Kram weg-delegieren könnte. Nein, nein, nein. Das wird nichts, Du musst es selbst richten, Dir die Fähigkeit der Unterscheidungskraft zu erobern.

Zur Belohnung für die Mühen oder einfach als Konsequenz gibt es jetzt das Sutra 2.16

YS 2.16 heyaṁ duḥkham-anāgatam

(Nur) Zukünftiges Leiden kann vermieden werden. 

So! Na, endlich. Das ist doch was. Zukünftiges Leiden kann dann vermieden werden, wenn wir uns aus den Fängen der Verwechslung und Irrtümer befreien, unseren Geist beruhigen und unsere Unterscheidungskraft reifen lassen. 

Das ist Yoga.

Teil 37 – Ich bin nicht meine Wut – YS 2.17

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Yoga interessiert sich so genau für die Schnittstelle, in der unser Bewusstsein auf wahrnehmbare Objekte trifft, also eigentlich überall. Denn an dieser Schnittstelle findet die Identifizierung mit unseren Gefühlen statt. 

In der letzten Folge haben wir mit dem Cliffhanger geendet: Zukünftiges Leiden kann vermieden werden. Das war ein Versprechen, oder? Jetzt werden wir schauen, was Patañjali vorschlägt, wie das zu bewerkstelligen ist. In den nächsten Sutras bis zum berühmten Achtfachen Weg geht es daher noch einmal um diesen uns vertrauten Dreiklang aus wahrnehmender Instanz, dem Prozess der Wahrnehmens und dem wahrgenommenen Objekt. Denn hier liegt die Quelle unserer bewussten Existenz. Das Sutra leuchtet immer wieder aus unterschiedlicher Perspektive auf diese Beziehung.

YS 2.17 draṣṭṛ-dṛśyayoḥ saṁyogo heyahetuḥ

Die Verbindung des Wahrnehmenden mit dem Wahrgenommenen ist die Quelle für Leiden. Dort kann es vermieden werden.

Wir müssen also an die Quelle. Dann werden wir nicht vom breiten Strom unseres abgelenkten Bewusstseins fortgerissen. Der Weg zurück zur Quelle ist mühsam, keine Frage. Es ist immer leichter und bequemer, sich gemütlich in Fließrichtung weitertreiben zu lassen, als gegen die Strömung zu laufen. Aber was will man machen? Wir können jetzt nicht mehr ignorieren, was wir schon wissen: in falscher Anhaftung und Identifizierung liegt die Quelle für alles weitere Leiden. 

Du denkst jetzt vielleicht: Das ist irgendwie immer noch komisch und schwer verständlich mit dieser ganzen Identifizierung und Anhaftung. Wie genau ist das gemeint? 

Ich nehmen mal ein ganz einfaches Beispiel:

Ein anderer Mensch sagt etwas Gemeines und Unüberlegtes zu Dir, und Du regst Dich darüber auf. Du wirst wütend oder traurig. Du fühlst „ich bin traurig“ oder „ich bin wütend“. Eine Kette von Reaktionen folgt, Gedanken, Worte, wie reagiere ich? Reagiere ich überhaupt? Eine Einordnung in ähnliche Erlebnisse, Erinnerungen, innere Dialoge, vielleicht schlägt das Herz schneller, vielleicht sagst Du etwas, vielleicht gehst Du weg. Du, Dein Ich, Dein Ego ist am Arbeiten. 

Der Satz „Ich bin wütend“ verrät es eigentlich: Du identifizierst Dich mit dem Gefühl der Wut. Ich bin wütend heißt ja: Die Wut bist Du. Das stimmt aber gar nicht. Dein aufnehmendes und wählendes Bewusstsein, Dein Betrachter ist gerade eine nicht so schöne Beziehung eingegangen mit … ja, mit was eigentlich … mit den Worten eines anderen Wesens. Im Yoga-Sinne bist du verbunden mit einer Wahrnehmung, die Spuren hinterlässt in Deinem Bewusstsein. Du bist aber nicht die Wut. Du kannst ja auch diese eigene Wut betrachten. Physisch wie gedanklich. Du kannst Dich selbst dabei beobachten, wenn Du darin geübt bist, wie sich ein Gefühl der Wut Deiner bemächtigt. Aber das bist ja nicht wirklich du. Wer beobachtet denn dann? 

Yoga kümmerst sich um diese betrachtende Instanz hinter dem Ego, was und wo immer diese Instanz sitzt. Yoga bezeichnet diese Instanz als draṣṭṛ als Instanz der Schau. Alles andere ist das Wahrgenommene, das ist dṛśya. Und saṁyoga bedeutet, dass ich diese beiden Kräfte im untrainierten Bewusstsein immer wie zwei Magneten aneinander haften und verhindern, dass wir uns von diesen Identifizierungen befreien können. 

Nun, das Beispiel „ich bin wütend“ ist nur ein kleines. Fortwährend treten wir in einen unendlichen Strom von Beziehungen zu unserer Außenwelt. Milliarden und Aber-Milliarden von Impulsen und Eindrücken formen das, was wir unser „Ich“ nennen, unsere Identität, unser Ego. 

Zur Welt, die wir wahrnehmen, gehört aber eben auch unsere Innenwelt. Unser eigener Körper, unsere Gefühle, unser Atem, unsere Schmerzen, unsere Tränen, das Knurren im Magen oder das Knacken im Gelenk — ist ja innen, aber es ist auch zugleich außen. Wahrnehmbar, beobachtbar. Gehört das, was wir wahrnehmen, zu uns oder ist das schon außen? 

Wenn wir uns in diese Gedanken versenken, dann können wir auch fragen: Gehören die Milliarden Bakterien, die unseren Darm bewirtschaften, noch zu unserem Ich oder schon nicht mehr? Sind die Sauerstoffmoleküle, die wir durch die Lungen zu unseren Blutkörperchen transportieren schon oder nochwir oder sind sie extern? Fremd oder eigen? Wo beginnt denn das Ich und wo hört es auf? 

Michael: „Hey, Siri, wer bin ich?“ 

Siri: „Du bist Michael, das hast Du mir jedenfalls erzählt.

Was ich euch sagen will: Wir müssen gar nicht viel Zeit investieren um zu merken, dass die Abgrenzung unseres Ichs nicht wirklich klar ist. Dass unser Ego letztlich eine durchaus auch verletzliche Konstruktion unseres Geistes ist, die wie mit einen Beamer an die Leinwand geworfen ist. Yoga interessiert sich daher so genau für diese Schnittstelle, in der unser Bewusstsein auf wahrnehmbare Objekte trifft, also eigentlich überall.

Unser Bewusstsein ist ja — das hatten wir schon — eigentlich gefangen und hilflos. Es kann nur bewusst werden und wir können unseres Selbst nur bewusst werden, wenn es gefüttert wird. Die Welt, also auch unsere innere wahrnehmbare Welt, ist das Buffet, bei dem sich unsere Bewusstsein fortwährend bedient. Es braucht dazu Helfer, unsere Sinnesorgane. Wir sind – ob wir wollen oder nicht – in diesen Beziehungen gefangen.

Wenn wir das sortieren, beruhigen und klar kriegen wollen, dann müssen wir besser die Natur der Objekte, die Qualitäten des Wahrnehmbaren verstehen, um besser unterscheiden zu können. Davon werden die nächsten Folgen handeln. Wir wollen, um beim Anfangsbild zu bleiben, uns nicht vom Strom des Bewusstseins fortreißen lassen. Ich bin nicht meine Wut, ich bin nicht meine Trauer. Ich bin auch nicht meine Freude und mein Glück. Mein wahres Selbst irgendwo dahinter ist frei von diesen Identifizierungen. Können wir das üben? Ja, können wir. 

Das ist Yoga.

Teil 38 – Wo unser Bewusstsein auf die Wirklichkeit trifft – YS 2.18 und 2.19

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Permanent wird unser Bewusstsein gefüttert von den Eindrücken und Objekten der inneren und äußeren Welt. Wir können unser Bewusstsein trainieren, die Qualitäten dieser Beziehungen zu erkennen und zu unterscheiden. Dann erkennen wir die Grundeigenschaften der Dinge, die hinter allem stehen.

Heute starte ich mit einer Übung: Eine Minute möchte ich mich mit Dir gemeinsam auf ein Objekt ausrichten. Damit wollen wir uns auf den Ort konzentrieren, an dem unser Gehirn auf die Welt trifft. 

Ich schlage vor, dass wir uns auf einen Baum konzentrieren. Bestimmt siehst Du, wenn Du irgendwo bei Dir aus dem Fenster schaust, einen Baum. Wenn Du keinen Baum in der Nähe hast, zieh entweder um oder nutze ein Foto von einem Baum. Spaß! Halte den Podcast kurz an und geh an diesen Ort. Und wenn Du da bist und ein paar ruhige Atemzüge genommen hast, dann schalte wieder an. 

Eine Minute ist ziemlich lang. Bleib dran, bleib dabei, lass dich nicht ablenken. Alles, was Du wahrnehmen kannst, zählt, nicht nur der Baum selbst, sondern auch das Bemühen, Deine Konzentration zu halten, oder Ungeduld, Ablenkung, Abdriften. Egal, all dass sind wahrnehmbare Objekte. Bereit? Jetzt geht’s los.

[1 Minute Pause]

Soooo. Da bin ich wieder. Wie war es? Anstrengend? Interessant? Aufschlussreich?

Mit dieser kleinen Versuchsanordnung im Kopf wollen wir die nächsten beiden Sutras anschauen.

YS 2.18 prakāśa-kriyā-sthiti-śīlaṁ bhūtendriya-ātmakaṁ bhoga-apavarga-arthaṁ dṛśyam

Objekte und Situationen in der physischen Welt haben die Eigenschaft rein (sattva), unruhig (rajas) oder träge (tamas) zu sein. Sie sind physisch oder feinstofflich, führen zu kurzzeitigem Genuss oder langfristiger Erlösung. 

YS 2.19 viśeṣa-aviśeṣa-liṅga-mātra-aliṅgāni guṇaparvāṇi 

Physische Objekte haben folgende Zustände: bestimmbar, unspezifisch, symbolhaft und jenseits von Symbolen.

Unsere kleine Übung sollte Dir eine Idee geben, worum es hier geht. 

Es geht um: die Schnittstellen, an denen unser aktiv wählendes und bewertendes Bewusstsein auf die objekthafte Welt trifft. Denn das ist der Ort, an dem es passiert. An dem wir unser an sich gefangenes, verschlossenes Bewusstsein mit Nahrung versorgen. Es ist nicht so, dass es eine Mangelernährung wäre – in Gegenteil. Das Buffet der objektiven Welt ist ständig bis zum Biegen voll und wir schlemmen, bis wir nicht mehr können. 

Wir wollen aber im Yoga lernen, unseren Appetit zu mäßigen und besser die Qualität der Verbindung zwischen unserem Geist und der Welt verstehen. Hier kommen die drei gunas ins Spiel: Sattva, das Helle, rajas, das Aktive, und tamas, das Träge. Ich habe diesen drei Grundqualitäten schon die gesamte Folge 10 gewidmet, vielleicht hast Du im Anschluss Lust, noch mal reinzuhören. Die Begriffe sind hier nur andere: prakāśa, kriyā und sthiti.

Auch die moderne Wissenschaft weiß, dass der bevorzugte Zustand aller Wesen und Dinge der träge Zustand ist. Nein, nein, wirklich nicht ironisch oder zynisch gemeint. Trägheit ist nichts Negatives. Der Baum, auf den Du dich gerade konzentriert hast, ist durchaus träge, oder? Das ist sogar seine Natur. Und doch braucht er ganz viel Aktivität, also kriyā, um sich gegen die Schwerkraft durchzusetzen und in den Himmel zu wachsen. Und wir finden in einem groß gewachsenen Baum in seiner ganzen Balance und Anmut eben auch das leichte, das Klare. Das ist die dritte Qualität. Wir können dieses Spiel mit allen Objekten machen, die wir betrachten, auch uns selbst. Unsere Trägheit oder positiver ausgedrückt unsere Standhaftigkeit – eine Qualität, die wir im Yoga sehr üben.

Unser Handeln und tun, das ist Kriyā-Yoga, darum geht es schließlich in diesem Kapitel des Sutra, Yoga der Tat. Aber auch prakāśa oder sattva, das Lichte, das Reine und Klare. Das sind auch in uns Qualitäten, die sowohl körperlich wie psychisch wahrgenommen werde können. 

Wenn es um physische Objekte geht, wie den Baum, eine Blume, einen Tisch, oder ein Tier, einen Mensch usw. dann — so Sutra 2.19 — können wir unterscheiden zwischen folgenden Zuständen: bestimmbar, unspezifisch, symbolhaft und jenseits von Symbolen. 

Was soll das nun wieder bedeuten? 

Kehren wir zu der Übung vom Anfang zurück. Zunächst drängen sich die objektiven, eher groben Qualitäten des Baums auf. Seine physische Größe, die Stabilität, sein So-Sein als Baum. Wir können aber natürlich nicht alles sehen. 

Wir müssen unsere Meditation über den Baum ergänzen durch das Wissen über die Prozesse, die wir nicht sehen, z.B. den Wasserkreislauf oder die Photosynthese, ohne die wir — dank Baum — nicht atmen könnten, den fortwährenden Wandel über die Zeit – und so weiter. 

Wenn wir weiter darüber nachdenken, würde man feststellen müssen, dass so viele Rahmenbedingungen nötig sind, damit wir heute auf diesen Baum schauen können. Es ist ja auch — kosmisch betrachtet — überaus unwahrscheinlich, dass Du zur gleichen Zeit da bist wie der Baum und auf ihn schauen kannst. Das komplexe Ganze, was dazu führt, dass Du gerade diese Beziehung zu dem Baum eingegangen bist, können wir kaum erfassen.

Dann aber geht es noch weiter … Jenseits all dessen steht die Erkenntnis, dass das ganze Universum, in dem wir nur ein winziges vorübergehendes Nichts sind, auch nur ein Universum von unendlich vielen ist. Dass jedes Molekül, jedes Atom, das diesen Baum ausmacht, bereits seit Jahr-Milliarden als Baustein für die Welt fungiert. 

Wenn wir für Moleküle kleine Modelle bauen und Symbole vergeben, dann versuchen wir genau, das Unbegreifliche besser begreifbar zu machen — im besten Sinne des Wortes. Aber uns wird dennoch schnell klar, dass die dahinter stehende Kraft, der Antrieb, der das alles entstehen und wachsen lässt auch über das Symbolhafte weit hinausgeht.

Und so kannst Du, wenn Du nur bereit bist, Deine Unterscheidungskraft zu üben, in dem Baum den ganzen bisherigen Kosmos sehen und die gesamte Zukunft, die sich noch nicht manifestiert hat. Und schon wirst Du eins mit allem, wie ein Tropfen in einem riesigen Meer. Das ist Physik, das ist Chemie, das ist die objektive Welt. Das ist keine Esoterik. Das ist Yoga.

Teil 39 – Viveka, Unterscheidungskraft – YS 2.20 bis 2.26

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Gibt es die Welt eigentlich wirklich, gibt es sie jenseits der Wahrnehmung oder ist alles Illusion? Wäre die Welt wahrnehmbar, wenn es keine Wahrnehmer gäbe? 

„Wir sehen die Dinge nicht, wie sie sind, wir sehen sie so, wie wir sind.“

Mit diesem Zitat der amerikanischen Schriftstellerin Anaïs Nin möchte ich heute beginnen. Diese Folge wird eher etwas für Grübel-Nerds, denn wir haben die letzten nicht so einfachen sechs Sutras vor uns, bevor wir uns — Achtung Spoiler — auf den Achtfachen Yogaweg machen.

Zuletzt habe ich die Welt, die uns umgibt und deren Teil wir sind, verglichen mit einem Buffet. Jeden Tag haben wir ein voll prall gefülltes Buffet mit unendlichen Leckereien vor uns, an denen sich unser Bewusstsein, unser citta, satt ist. Ein kleines citta-Nimmersatt sozusagen. 

Wir haben auch schon erfahren, dass Yoga eine Diät ist, eine Diät für den Geist. Wenn wir nicht mehr so permanent abgelenkt sind und lernen zu unterscheiden, was wir wirklich brauchen und was nicht, dann fällt es auch nicht mehr so schwer, Dinge auf dem Buffet einfach stehen zu lassen. Aber wie jede andere Diät auch funktioniert sie nur, solange man sie macht. 

Ich weiß, ich weiß, der Vergleich mit einem Buffet ist etwas plump. Aber dennoch dürfte damit jedem klar sein, was gemeint ist. Die Verlockungen unseres wählenden und wertenden Bewusstseins, sich permanent an diesem Buffet zu bedienen, sind groß. Es ist nicht leicht, die Leckereien stehen zu lassen. Oder um es mehr yoga-bezogen zu sagen: es ist nicht leicht, die Verstrickungen und Anhaftungen des Geistes zu reduzieren. 

Dennoch: Yoga ist im Ergebnis kein Verzicht. 

Dem Weniger, dem Beruhigen, dem Reduzieren der Ablenkungen steht eine wahre Fülle gegenüber, die wir eigentlich anstreben: Freiheit. Freiheit von falscher Identifizierung, von innerer Unruhe, von Ungeduld, von Enge und Verzweiflung. Yoga verwendet für die Unterscheidungskraft das Wort „Viveka“ – 

Das steht in YS 2.26 und ich beginne mal von hinten heute: 

YS 2.26 viveka-khyātir-aviplavā hānopāyaḥ

Unterscheidungskraft und die ununterbrochene Erkenntnis sind der Weg zum Ziel.

Und das Ziel ist, den wahren Seher zu befreien, der uns zuvor in YS 1.20 vorgestellt wird.

YS 2.20: draṣṭā dṛśimātraḥ śuddho-‚pi pratyaya-anupaśyaḥ 

Das wahre Selbst sieht ausschließlich, es ist unveränderlich, wenn das Sehen auf richtiger Wahrnehmung basiert.

In der Überzeugung der Yogis ist der Seher diejenige Instanz, die es aus logischen Gründen hinter dem wertenden Bewusstsein geben muss. Denn wer sonst soll uns beim Denken und Fühlen beobachten? In YS 2.21 heißt es:

YS 2.21 tadartha eva dṛśyasya-ātmā

Die einzige Daseinsberechtigung für physische Objekte ist, durch das wahre Selbst wahrgenommen zu werden.

YS 2.22 kṛtārthaṁ pratinaṣṭaṁ-apy-anaṣṭaṁ tadanya sadara natvate sādhāraṇatvāt

Hat ein Objekt diesen seinen Zweck erfüllt, verschwindet es nicht, es bleibt dennoch als dieses für andere bestehen, da es für alle gültig ist. 

Huch? Tja, das sind zwei Sutras, die nicht leicht zu verstehen sind. Boah, voll arrogant. Die Welt soll nur dazu da sein, von uns wahrgenommen zu werden? Geht’s noch? Aber eigentlich könnte man auch sagen: Das Buffet ist nur dazu da, um von uns gegessen zu werden. Das macht dann Sinn. Gäbe es das Buffet, wenn es uns nicht gäbe? Hinter dieser eher lustigen Vorstellung steckt eine seriöse philosophische Frage: Gibt es die Welt eigentlich wirklich, gibt es sie jenseits der Wahrnehmung oder ist alles Illusion? 

Du könntest sagen: Klar, es gibt die Luft, die Farben, das Wasser, die Geräusche. Alles ist materiell da. Ja, ABER nur das ist da, was wahrnehmbar ist durch uns oder durch Hilfsmittel, die unsere Wahrnehmung erweitern. Außerirdische, die keine Ohren oder etwas Ähnliches hätten, würden eine Erde komplett ohne Geräusche entdecken. Sind sie also deswegen etwa nicht da?

Also: Gemeint ist hier die vollständige, unauflösliche Verbindung unseres wahrnehmenden Bewusstseins mit der wahrnehmbaren Welt. Es gibt kein Entrinnen. Wir können nur erkennen, dass wir die Dinge nicht sehen, wie sie sind, wir sehen sie so, wie wir sind.“ Das Yoga-Sutra ist aber sicher, dass es eben dennoch diese Objekte gibt, da sie ja auch weiterhin wahrnehmbar sind, selbst wenn sie aus unserer Perspektive verschwinden. 

YS 2.23 svasvāmi-śaktyoḥ svarūp-oplabdhi-hetuḥ saṁyogaḥ

Die Verbindung des Wandelbaren mit dem Beständigen hat nur den Zweck, die wahre, beständige Natur zu erkennen.

In diesem Sutra sehen wir eine logische Schlussfolgerung: Da wir die Welt nur durch unser subjektives Bewusstsein wahrnehmen können, ist die Funktion dieser Subjektivität, uns die wahre Natur erkennen zu lassen. Letztlich verbirgt sich in diesem Sutra das dualistische Weltbild des gesamten Sutra. Es bedarf eines Gegenparts, um sich einer Sache klar zu werden. Ich benötige Licht, um Schatten zu erzeugen, ich benötige A um B zu erkennen. Wenn nur A wäre, gäbe es keine Notwendigkeit, A wahrzunehmen oder zu betiteln.

Es ist — wir hatten das schon — ein Dilemma, das uns immer wieder unser eigenes Unwissen aufzeigt. Deswegen heißt es in YS 2.24:

YS 2.24 tasya hetur-avidyā

Die Ursache für eine Identifikation mit dem Wandelbaren ist mangelnde Erkenntnisfähigkeit. 

Und weiter: 

YS 2.25 tad-abhābāt-saṁyoga-abhāvo hānaṁ taddṛśeḥ kaivalyam Tadabhabat SamyogaAbavo

Wenn die mangelnde Erkenntnisfähigkeit verschwindet, verschwindet auch diese Identifikation. Ist diese ganz aufgelöst, dann ist die Befreiung des wahren Selbst erreicht.

Nun haben wir die drei großen (schon wieder drei) Wörter beieinander: viveka, die Unterscheidungskraft, um avidyā, die Verwechslung, das Unwissen zu durchbrechen und so zur kaivalya, der Befreiung des wahren Selbst zu kommen. 

Und hier nun ist der Ausgangspunkt für den kommenden Achtfachen Weg zu Erleuchtung, den wir ab der nächsten Folge betreten werden. Bist Du dabei?

Teil 40 – Los geht’s auf den 8-fachen Weg – YS 2.27 – 2.29

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Nun sind wir schon bei der 40. Folge. Toll, dass Du dabei bist. Wir haben schon eine lange Reise hinter uns und heute biegen wir ein in den achtfachen Weg des Yoga.

Der 8-fache Weg ist ein Kernbereich des Yoga-Sutra. Seine 8 Glieder sind yama: der Umgang mit der Welt, niyama: das Verhalten Dir selbst gegenüber, āsana: die körperliche Haltung, pranayma: die Kontrolle der Atmung, pratyāhāra: der Rückzug der Sinne, dhāraṇā: die Fähigkeit, sich länger auf eine Sache auszurichten, dhyāna: die dauerhafte Stille im Geist und samādhi: die vollkommenen Loslösung. Oder: Tu das Richtige in der Welt, sorge gut für Dich und Deine Gesundheit. Dann wird sich auch geistiges Wohlbefinden einstellen und du kannst immer konzentrierter und freier werden.

Vielen Yogis und Yoginis ist dieser achtfache Weg durchaus bekannt und er bildet ein Herzstück des Sutra.

Bevor wir heute und in einer ganzen Reihe von weiteren Folgen, diesen Weg gemeinsam gehen, möchte ich noch mal auf die Verwandtschaft der altindischen Sprache Sanskrit und der europäischen Sprachfamilien hinweisen. Das ist doch wirklich immer wieder faszinierend. Die acht Glieder des Yoga sind eben die asta anga. Asta heißt acht und anga der Winkel, Haken, Glied. Unser Zahlwort Acht im Deutschen, oder eight im Englischen, osiem im Polnischen, ocho, otto, oito usw. sind damit verwandt.

Und Anga steckt z.B. im englischen Wort angle und im deutschen Wort Angel. Ich finde das immer wieder faszinierend, sich klarzumachen, dass die Welt nicht erst seit der dem letzten Jahrhundert vernetzt und globalisiert ist. 

Also: 

YS 2.27 tasya saptadhā prānta-bhūmiḥ prajña

Dieser Pfad zur Erkenntnis hat sieben Stufen. 

YS 2.28 yoga-aṅga-anuṣṭhānād-aśuddhi-kṣaye jñāna-dīptir-āviveka-khyāteḥ 

Als hätte Patañjali geahnt, dass manche erst beim achtfachen Weg beginnen, das Sutra zu lesen, weil der ganze Kram davor zu kompliziert erscheint, weckt er uns erst mal auf, denn der achtfache Weg hat — lustigerweise — sieben Stufen. Das werde ich natürlich noch erklären. Typisch Yoga, würde ich sagen.

Durch die Übung dieser Glieder des Yoga werden die Unreinheiten überwunden, Weisheit und fortwährende Unterscheidungskraft erstrahlt. 

Dann, in YS 2.28 noch mal der Hinweis auf das, was es zu gewinnen gilt. nämlich fortwährende Unterscheidungskraft: „āviveka-khyāteḥ“ ist ein Mensch, bei dem nicht nur mal ab und zu die Weisheit (jñāna) durchscheint, sondern der fortwährend Licht ins Dunkel bringt und das wählende Bewusstsein weitgehend von seinen Verstrickungen und Trübungen befreit hat. 

Nun also Yoga-Sutra 2.29, der 8-fache Weg:

YS 2.29 yama niyama āsana prāṇāyāma pratyāhāra dhāraṇā dhyāna samādhayo- ‚ṣṭāvaṅgāni

Rechter Umgang mit anderen, guter Umgang mit Dir selbst, ein gesunder Körper, eine gesunde Atmung, Rückzug der Sinne, anhaltende Ausrichtung des Geistes, stille Versenkung und vollkommene Erkenntnis sind die acht Glieder des Yoga.

Also yama: Dein Umgang mit der Welt, alles was nach außen geht
niyama: meint eigentlich Dein Verhalten Dir selbst gegenüber, alles was nach innen geht
āsana: Ja, da ist endlich zum ersten mal das Wort, um dass sich im Yoga so viel dreht, die körperliche Haltung, eigentlich heißt es „der Sitz“
prāṇāyāma: Prana ist die Energie, die Kontrolle der Atmung
pratyāhāra: ist der Rückzug der Sinne, bzw. dass Zurückziehen der Sinne von den Objekten
dhāraṇā: meint die Fähigkeit, sich länger auf eine Sache auszurichten
dhyāna: geht tiefer und meint die dauerhafte Stille im Geist
und samādhi: die vollkommenen Loslösung.

Wenn man mal mit einer großen Lampe auf die acht Glieder leuchten möchte, dann könnte man aus unserer modernen Perspektive sagen: Tu das Richtige in der Welt, sorge gut für Dich und Deine Gesundheit. Dann wird sich auch geistiges Wohlbefinden einstellen und du kannst immer konzentrierter und freier werden. 

Wir werden sehen, dass wir diesen achtfachen Weg sowohl sehr radikal interpretieren können als auch sehr moderat, so dass er uns allen als Geländer zur Verfügung steht. Ob Du Dich eher für den radikalen Weg entscheidest oder den milderen, der leichter integrierbar ist in unser Leben, das kommt sehr darauf an.

Diese acht Glieder oder acht Stufen bilden den Rahmen für die nächsten ca. 30 Sutras, die bis ins dritte Kapitel hineinragen. Die acht Glieder haben jeweils noch zahlreiche Unterpunkte, die teilweise sehr konkret werden und natürlich werden wir das alles unter die Lupe nehmen. Einmal mehr erkennen wir hier die Liebe zu Aufzählungen, erstens das, zweitens dies, drittens jenes … macht ja auch Sinn: Durch Aufzählungen können wir uns Dinge besser merken und sie auch besser an andere weitergeben. 

Die höchste Stufe, samādhi, ist eigentlich nicht mehr übbar. Deswegen hat der Weg zwar sieben Stufen, aber acht Glieder.

Ich habe mich immer gefragt, und du vielleicht auch, warum der berühmte 8-fache Pfad so spät im Sutra auftaucht. Und was ich gerade halb im Spaß gesagt habe, trifft ja auch wirklich zu: viele lesen eigentlich nur diesen Teil. Das kann man einerseits verstehen. Der achtfache Weg ist so vermeintlich schön einfach, es gibt klare dos and don’ts und Regeln, Gebote und Verbote. Und dann, wenn ich diese Schritte gehe, kommt am Ende die Erleuchtung um die Ecke. 

Aber wahrscheinlich ahnst Du schon, dass es so einfach dann doch nicht sein wird. Jedenfalls werden wir mit einer „10-Gebote-Haltung“ hier auf Dauer nicht weiterkommen. 

Es geht, das habe ich schon an verschiedenen Stellen erläutert, im Yoga niemals um ein Gesetz, um Moral, um Vorschriften. Keiner kann Dir vorschreiben oder sagen, was wirklich zur Erleuchtung, zur Freiheit führt. Du musst den Weg immer selbst gehen. Du erinnerst Dich? Im Yoga muss man alles selbst machen.

Aber dennoch: warum versorgt uns Patañjali erst zu diesem Zeitpunkt mit dem „Fahrplan zur Erleuchtung“ — das werde ich Euch in der nächsten Folge verraten…? Bist Du dabei?

Teil 41 – Yamas: Benimm Dich doch mal! – YS 2.30

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Der achtfache Weg beginnt nicht mit asana oder Meditation. Erst mal - eine Grundvoraussetzung für alles Weitere - solltest Du Dich um einen guten Umgang mit der Welt, um Dein Benehmen kümmern.

Willkommen auf dem achtfachen Weg des Yoga. Wir sind noch nicht richtig losgelaufen und versuchen uns erst mal, einen Überblick zu verschaffen. Wie waren die acht Glieder noch mal? Genau:

yama: Dein Umgang mit der Welt, alles was nach außen geht
niyama: Dein Verhalten Dir selbst gegenüber, alles was nach innen geht
āsana: Die stabile körperliche Haltung
prāṇāyāma: die Kontrolle der Energie, und der Atmung
pratyāhāra: der Rückzug der Sinne
dhāraṇā: die Fähigkeit, sich länger auf eine Sache auszurichten
dhyāna: die dauerhafte Stille im Geist
und samādhi: die vollkommenen Loslösung

In der letzten Folge hatte ich einen kleinen Cliffhanger eingebaut, na ja, etwas übertrieben. Aber dennoch noch mal die Frage: Warum entfaltet sich der acht-fache Weg insgesamt gesehen doch recht spät im Yoga-Sutra? 

Es kann sein (die Philologinnen sind sich da nicht so einig) dass das Sutra einfach gar nicht in einem Rutsch geschrieben wurde — was nahe liegend ist. Wir wissen nicht genau, wann welche Teile so zusammengefügt wurden, bis es irgendwann „das Sutra“ war. Wir wissen nicht mal genau, ob es Patañjali so gab. Ich bin da kein Fachmann, also halte ich mich aus der Diskussion raus.

Klar, wir sind im Kapitel 2 auf dem Weg der Übung, dem praktischen Weg, da passt der achtfache Weg natürlich auch gut hin. Aber dann hätte das 2. Kapitel damit ja auch gleich beginnen können, ne?

Es macht aber auch inhaltlich oder soll ich sagen dramaturgisch Sinn, jetzt erst damit anzukommen.

Wir haben schon so viel über Yoga gelernt, dass wir jetzt erst mit dem achtfachen Weg umgehen können. Jetzt sind wir vorbereitet, auf das, was kommt. Sonst wären wir vielleicht in die Falle getappt. Wir hätten geglaubt, dass das Sutra eine Bedienungsanleitung zur Erleuchtung ist. Das ist es aber eben nicht. Der Quick-Guide zur Erleuchtung ist leider nicht erhältlich. 

Wir können den achtfachen Weg nicht mechanisch abarbeiten und dann auf das tolle Ergebnis hoffen. So läuft das nicht. Du kannst Dich noch so lang auf einen Stein setzen und meditieren, Du kannst super vegan und mega korrekt sein. Deine Tattoos sind auf Sanskrit, die Matte bio und Deine Asanas konkurrieren mit den besten Yoga-Models und selbst das Meeresrauschen Deiner Ujaji Atmung lässt Darth Vader erblassen. Trotzdem bist Du unglücklich und verspannt und schreist Deine Kinder an? Was machst Du nur falsch? Und dann schaust Du vielleicht auf Deinen Nachbarn, der gerade sehr relaxt im Garten sitzt und ein Buch liest und denkst Dir: So entspannt wäre ich auch gern. 

Yoga ist eine Haltung, die Welt zu betrachten. Yoga ist yogaś-citta-vṛtti-nirodhaḥ. Es geht um das zur Ruhe kommen des Geistes. Yoga ist weniger machen, nicht mehr. Yoga heißt, schlau sein und die Fallstricke erkennen, die unser Geist uns stellt. Dahinter blicken. Unterscheidungskraft aufbauen. Wenn Du das alles schon verstanden hast, dann ergeben sich die Glieder des achtfachen Wegs von alleine. Der achtfache Weg ist nicht der Beginn vom Yoga-Üben, sondern die Konsequenz. Die Konsequenz aus der Erkenntnis, dass wir unser Leben anders leben müssen als bisher, wenn wir uns aus den Mustern und noch so bequemen Komfortzonen des Unwissens heraus bewegen möchten.

Es würde uns auf die falsche Fährte führen, wenn wir an die acht Glieder des Yoga mit einer Gebote-Liste verwechselten. „Du sollst nicht, Du darfst nicht. Tu dies lass das“. Es geht, das habe ich schon an verschiedenen Stellen erläutert, im Yoga niemals um ein Gesetz, um Moral, um Gebote.

Keiner kann Dir vorschreiben oder sagen, was wirklich zur Erleuchtung, zur Freiheit führt. Es gibt keinen Yoga-Papst und auch keine Päpstin. Das Sutra ist auch keine Bibel oder Koran. Streng genommen ist es nicht ein einmal eine Philosophie.

Es ist eine komprimierte Unterweisung und Richtschnur, die auf Erfahrung beruht. Du musst aber den Weg immer selbst gehen. Du erinnerst Dich? Im Yoga muss man alles selbst machen.

Huch? Ich hab noch gar keine neues Sutra vorgestellt. Also: vor dem Hintergrund des Gesagten, nun YS 2.30, das die einzelnen Schritte des YAMA-Weges erläutert:

YS 2.30 ahiṁsā-satya-asteya brahmacarya-aparigrahāḥ yamāḥ 

 In moderner Übersetzung: Yamas sind die Beherrschung von Gewaltlosigkeit, Wahrhaftigkeit, Nicht-Stehlen, Handeln im Bewusstsein eines höheren Ideals und Unbestechlichkeit . 

Okay. Wow. Aha! Vielleicht wird sofort deutlich, was ich meinte. Das klingt ja doch sehr „gebote-mäßig“, oder?

ahiṁsā – Gewaltlosigkeit – Nicht-Verletzen
satya – Wahrhaftigkeit – Nicht-Lügen
asteya – Nicht-Stehlen
brahmacarya – Handeln im Bewusstsein eines höheren Ideals – oder auch „ethisch handeln“und
aparigrahā Unbestechlichkeit – keine Vorteilsnahme – Nicht Anhäufen

Also, wenn das keine Gebote sind, was dann? Es sind notwendige Selbstversprechen, Gelübde, um ein sehr klassisches Wort zu benutzen. Auf Sanskrit: „mahā vrata“. Disziplinen neudeutsch „Challenges“ , die sich aus der Erkenntnis ergeben, dass es es sonst nichts wird mit der Erleuchtung und Versenkung. Simpel gesagt: Wenn Du überall rumpöbelst, lügst, stiehlst, betrügst und Dich benimmst wie ein Mensch, dem alles egal ist, ja dann wird es Dir nicht so leicht fallen, Dich zurückzuziehen mit Deiner Meditation, weil Dich überall Gegenwehr erwartet. Klingt irgendwie logisch, oder? Kling verdammt modern, finde ich. 

Patañjali sagt Dir nicht, dass Du das so tun musst. Aber wenn Du weiterkommen willst und Dich aus den Grenzen Deiner Komfortzonen lösen und Deinen Geist befreien willst, dann mach das mal besser so, mit den yamas. 

Und es ist doch umwerfend. Der achtfache Weg beginnt nicht mit dem Herabschauenden Hund und der Bergposition. Der Weg beginnt damit, dass Du Dich erst mal gut benehmen musst. 

Ha! Nimm das, Yogi!

Teil 42 – Niyamas: Gibt es „yogisches“ Verhalten? (1) – YS 2.31

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Manchmal erscheint Yoga in der modernen Welt rechthaberisch. Vermeintlich yogisches Verhalten wird propagiert. Oft abgeleitet aus den ersten beiden Gliedern des 8-fachen Pfads. Aber gibt es das - yogisches Verhalten?

Wir befinden uns schon auf dem achtfachen Weg, der uns zur Freiheit und Versenkung führt. In der letzten Folge haben wir uns einen Überblick verschafft über die yamas, die uns dabei begleiten, unser Verhältnis zur Außenwelt und zu anderen Wesen zu klären. Keine Sorge, wir werden noch darauf zurückkommen, denn es gibt hier noch viel zu besprechen.

Patatañjali, mit seinem offensichtlichen Gespür für eine gute Dramaturgie führt zunächst aus, dass es keine Ausrede gibt, was das Praktizieren der yamas betrifft. Er ermuntert und mahnt uns um YS 2.31:

YS 2.31 jāti-deśa-kāla-samaya-anavacchinnāḥ sārvabhaumā-mahāvratam 

Ohne Unterscheidung von sozialer Schicht, Ort, Zeit und Situation in allen Bereichen diese Achtung gegenüber den Mitmenschen einzuhalten, ist eine große Tugend. 

Das ist bedeutsam. Auch in seinem historischen Kontext. Es kommt nicht darauf an, wer Du bist, wo Du bist und wann Du lebst: diese Prinzipien sind universell. Fast erscheinen hier dem modernen Menschen die yamas als eine frühe Deklaration universeller Menschenrechte oder besser noch universeller Wesensrechte.

Nun, und das finde ich auch sehr interessant, werden in den nächsten Sutras nicht die yamas einzeln erklärt, sondern erst einmal auch die niyamas im Überblick vorgestellt. Die niyamas sind die Grundlagen für das Verhalten sich selbst gegenüber. Der Blick nach innen, ohne Prahlerei und und Zuschauer. Wie gehst Du mit Dir selbst um, wenn keiner zuguckt, sozusagen.

Teil 43 – Niyamas: Gibt es „yogisches“ Verhalten? (2) – YS 2.32

YS 2.32 śauca saṁtoṣa tapaḥ svādhyāy-eśvarapraṇidhānāni niyamāḥ 

Sauberkeit, Zufriedenheit, Selbstdisziplin, Lernen von sich selbst und Annehmen seines Schicksals, das macht die Achtung vor sich selbst aus.

Also, das zweite Glied des achtfachen Wegs nach sind

śauca: die Reinlichkeit, die Sauberkeit, durchaus auch im wörtlichen Sinn
saṁtoṣa: die Zufriedenheit
tapas: Leidenschaft und Selbstdisziplin und auch Entsagung, Genügsamkeit
svādhyāya: Selbsterkenntnis, Selbststudium, Lernen von und über sich selbst
iśvarapraṇidhānā:  Annehmen seines Schicksals, Akzeptieren des Größeren Ganzen

Das sind ja wieder ganz schöne Brocken, oder? Tja, was hast Du erwartet? Wie soll man das alles bewerkstelligen? Wir werden noch sehen. Aber klar ist schon bei der ersten Draufschau, hier geht es um ganz große Themen, die unser gesamtes Menschsein fordern und hohe ethische Maßstäbe ansetzen. Tatsächlich: Yoga ist eine Schau auf die Welt, die das ganze Leben umfasst, ohne Schlupflöcher. Aber alles ist natürlich Auslegungssache. Es kommt immer auf die Perspektive an und manchmal auf die Übersetzung. Die Begriffe, die uns hier um Sutra begegnen, sind sehr komplex. Sie sind nie eindeutig zu übersetzen und können immer so oder so ausgelegt werden. Das ist im übrigen die Gefahr jeder Quelle, jede*r findet das, was passt zur Bestätigung der eigenen Weltsicht. Das ist auch normal und auch schon abgehandelt: Wir können die Welt nur durch unsere Brille sehen, es geht nicht anders. 

Das Sutra aber möchte Dich auffordern, nicht andere zu maßregeln und für Ihr Verhalten zu kritisieren oder zu bewerten. Du kannst damit nicht andere erziehen, du kannst nur Dich selber erziehen. Das Sutra richtet sich an Dich Übenden und Übende! An Dein Verhalten zur Außenwelt und zur Innenwelt. Yamas und niyamas. Und so, wie ich es verstehe, sind das die zwei Seiten derselben Medaille. Ohne yamas keine niyamas und umgekehrt. 

Ich sage das hier so deutlich, weil die Glieder des achtfachen Pfades immer wieder missbraucht werden, anderen vorzuschreiben, wie sie sich vermeintlich yogisch zu verhalten haben. Da sind wir wieder bei den „Du sollst das“ und „Du darfst das nicht …!“ usw.

Du bist der Mensch, der sich verändern muss. Die anderen kannst Du nämlich gar nicht verändern. Ich sage mal etwas provokant: es gibt kein yogisches Verhalten! Es gibt nur Dein Verhalten. Yoga kann nicht die anderen erziehen. Mit Yoga kannst Du nur Dich selbst erziehen.

Teil 44 – Empathie üben -YS 2.33

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Yamas und niyamas zu üben, ist nicht immer so einfach. Es bedarf der permanenten Aufmerksamkeit, und manchmal ist die Unsicherheit groß. Dann hilft es, die Perspektive zu wechseln und sich mit Empathie in andere hineinzuversetzen. 

Den achtfachen Weg und dessen erste zwei Stufen habe ich Euch in den letzten Folgen bereits in der Übersicht vorgestellt. Wir haben schon drei wichtige Dinge in Bezug auf das Verständnis des achtfachen Wegs besprochen: 

Erstens ist der achtfache Weg bereits das Ergebnis, sozusagen die zwangsläufige Folge aus der Erkenntnis, dass wir zur inneren Freiheit nur aus eigener Kraft gelangen können. 

Zweitens handelt es sich nicht um eine Bedienungsanleitung, die man abarbeitet, um dann — schwupps — zur Erleuchtung zu kommen.

Und drittens — das ist auch irgendwie logisch — müssen wir zunächst beginnen, uns selbst zu erziehen in unserem Umgang mit der Welt (das waren die yamas) und im Umgang mit uns selbst (das waren die niyamas). Yamas und niyamas sind ein universeller Code, der das Zusammenleben aller Wesen natürlich und harmonisch zu regeln versucht.

YS 2.33 vitarka-bādhane pratiprakṣa-bhāvanam 

Unsicherheit bei der Umsetzung kann durch Ausrichtung auf das Gegenteil überwunden werden.

Mit anderen Worten: wenn Du Zweifel daran hast, ob Du auf dem richtigen Weg bist mit der Anwendung der yamas und niyamas, dann versetzte Dich in das Gegenteil dessen, was Du gerade tust bzw. versetze Dich in Dein Gegenüber, um zu überprüfen, ob das, was Du gerade tust, wohl im Sinne des Yoga ist. 

Und Yoga ist: das zur Ruhe kommen des Geistes. Deines Geistes. Dieses Sutra gehört zu meinen absoluten Favoriten und ist meine persönliche wichtigste praktische und alltägliche Übung überhaupt. Versetze Dich in die Perspektive des anderen, um zu verstehen, was Du anrichtest. Das ist ein sehr cooler Rat. Sehr schwierig. Irgendwie. Plötzlich wird klar, dass es nicht um große Worte und große Taten geht, sondern um tausend und eine alltägliche Situationen. Das ist so interessant, dass Patañjali erst mal Empathie einfordert, das Einnehmen der anderen Perspektive um die eigenen Schwierigkeiten in der Anwendung der yamas und niyamas zu überwinden. Denn wenn Du merkst, dass Du mit Deinem Verhalten für Chaos sorgst, dann nützt Dir auch keine strenge Regel etwas. Du kannst Dich nicht auf Regeln ausruhen, Du musst sie immer neu interpretieren. Anstrengend. 

Natürlich ist mir klar, dass die ersten Berührungen mit Yoga in unserer Welt in der Regel nicht mit einem Vortrag über yamas und niyamas beginnen. Stattdessen steht zunächst eher im Vordergrund, ein herabschauenden Hund zu sein, sich als Berg vorzustellen oder sich wie eine Kobra aufzurichten. Denn die meisten kommen bei uns zum Yoga, um vielleicht fitter, schmerzfreier und gelassener zu werden. Und das ist auch absolut in Ordnung. Und vielleicht siehst Du schon an diesen drei Asana-Beispielen: Aha! Genau! Das machen wir ja auch immer beim Yoga. Wir versetzen uns in den Asanas in eine andere Perspektive. In die des Hundes, der Katze, der Kuh, der Kobra, des Baums, und manchmal sogar des Pfaus! Jetzt weißt Du, warum. Es baut Distanz zum Ich auf. Das „sich-Hineinversetzen“ soll nicht das Gegenüber beeindrucken (ich nehme an, dass die Tiere, die wir imitieren, eher belustigt wären über unsere stümperhaften Versuche), sondern uns aus den Verstrickungen unseres Egos herausführen.

Es ist nicht leicht, sich in die Perspektive eines Tieres zu versetzen. Und schon gar nicht fällt es uns leicht, uns in die Perspektive eines anderen Menschen zu versetzen. 

Aber es funktioniert aus meiner Erfahrung sehr gut, mit diesem Thema über den Körper einzusteigen, wie die meisten es eben tun. Ich war auch bei meinen ersten Yogaversuchen mit den ganzen Tieren etwas belustigt und zweifelnd. 

Doch dann beginnen wir, uns mit uns selbst zu beschäftigen, unser Zutrauen zu uns selbst zu verbessern und unseren Atem und unsere Energie besser zu lenken. 

Dann passiert es früher oder später von alleine, dass sich die ethischen Fragen, die das Yoga-Sutra stellt, aufdrängen: Wer bin ich eigentlich? Wie verhalte ich mich eigentlich mir selbst gegenüber? Was macht mich eigentlich aus? Warum sehe ich mich selbst oft so kritisch? Wie kann ich Konflikte beruhigen, die mich immer wieder aus der Fassung bringen? Womit könnte ich die Ungeduld, die mich immer wieder treibt, beschwichtigen? Solche und viele andere Fragen.

Uiuiui, Yoga zu üben, kann manchmal ganz schön intensiv werden, auch für die, die damit gar nicht gerechnet haben oder die Auseinandersetzung mit dem eigenen Platz in der Welt gar nicht gesucht haben, sondern einfach nur etwas gelenkiger werden wollten. 

Aber gut. Um noch besser zu erklären, was ich meine, sagen wir mal als Beispiel: Du nimmst Dir fortan vor, Dich mehr um das zweite yama kümmern. Das ist satya, die Wahrhaftigkeit. Du möchtest ab sofort ehrlicher, authentischer in Worten und Taten sein. Wo fängt das an, wo hört das auf? Ist es achtsam, immer die Wahrheit zu sagen? Wenn Dich ein anderer Mensch nach Deiner Meinung fragt, ist es dann immer weise, zu sagen, was Du denkst oder wäre es besser, Dich vielleicht mit einer kritischen Ansicht zurückzuhalten? Nur ein Beispiel. 

Das praktische Anwenden von yamas und niyamas ist ein großes tägliches Abenteuer und ich freue mich schon darauf, mich in den nächsten Folgen mit den Details auseinanderzusetzen. Und eines glaube ich, aus Erfahrung sagen zu können: es geht nicht um hundert Prozent und um Perfektion. Sondern immer um die Frage, wie Du heute Dein bestes Ich leben kannst. Das ist Yoga.

Teil 45 – Ahiṁsā (1): Der Gewalt entsagen – YS 2.34

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Im Yoga-Verständnis ist das Hinterfragen ein notwendiger Prozess nicht der Selbstgeißelung, sondern der Qualitätssicherung. Ich möchte als Yogi meinen Geist beruhigen und befreien. Wie sollte ich mich also am besten entsprechend verhalten, damit das bestmöglich gelingt? Beim Thema „Gewalt“ geht es schon los. Es ist kompliziert …

In der letzten Folge haben wir uns mit der Methode beschäftigt, sich auf das Gegenteil von dem zu konzentrieren, was uns gerade treibt. Warum sollten wir das tun? Um zu überprüfen, aus welchem Motiv heraus wir handeln und um unser Handeln zu überprüfen. 

Wenn wir uns in unser Gegenüber versetzen, dann ist das Empathie. Und Empathie kann man üben. Wir können uns auch auch in unseren Handlungen überprüfen, in dem wir die Perspektive wechseln. 

Ziel ist, die yamas und niyamas, das waren die ersten beiden Glieder auf dem achtfachen Yogaweg, möglichst gut in unserer Leben und unsere täglichen Entscheidungen zu integrieren.

Mir fällt hier mal wieder auf, wie psychologisch doch das Yoga-Sutra ist, ohne dass Patañjali diesen Begriff gekannt oder benutzt hätte. Das Sutra fordert uns einiges ab und es wird nicht besser: Wenn Du, Yogi und Yogini, den Weg zur Freiheit gehen willst, dann bist Du von Anfang bis Ende für alle Schritte selbst verantwortlich. Ich will jetzt kein „Ja, aber …“ hören! 

Das nächste Sutra erläutert die Methode der Konzentration auf das Gegenteil weiter:

YS 2.34 vitarkā hiṁsādayaḥ kṛta-kārita-anumoditā lobha-krodha-moha-āpūrvakā mṛdu-madhya adhimātrā duḥkha-ajñāna-ananta-phalā (ajñānananta-phalā) iti pratiprakṣa- bhāvanam

Gedanken der Gewalt führen zu endlosem Leid und Unwissenheit. Dabei ist es egal, ob ich der Täter, Auftraggeber oder Anstifter bin, ob Gier, Ärger oder Verblendung zugrunde liegen oder ob eine Handlung klein, mittelmäßig oder übermäßig ist. Deshalb hilft die Ausrichtung auf das Gegenteil.

Ja, das ist ein langes Sutra, ich glaube, es ist das längste von allen. Für Sutra-Verhältnisse ist das ja schon fast ein Roman! Für mich ist es das „Ja-Aber-Sutra“

Eigentlich enthält es vier Fragen an Dich selbst:

  1. Was tue ich eigentlich gerade? 
  2. Welche Rolle nehme ich dabei ein? 
  3. Was sind die Motive für mein Verhalten? Und
  4. Was sind die Konsequenzen meines Verhaltens?

Es ist ja so: wir können uns alle weitgehend kopfnickend bestätigen, dass wir Verhaltensgebote wie Gewaltfreiheit, Wahrhaftigkeit, Nicht-Stehlen usw. soweit okay und richtig finden, ne? Und dann weiter zur Tagesordnung. 

Sich wirklich mit dem eigenen Verhalten der Welt und sich selbst gegenüber auseinanderzusetzen, erfordert aber mehr als das. Wir müssten uns eigentlich permanent hinterfragen. Handeln wir hier gerade richtig? Patañjali entlässt uns hier nicht aus der Verantwortung. 

„Ja aber … ich esse doch schon kein Fleisch mehr!“, „Ja aber der hat auch gelogen“ „ja aber, die hat angefangen“ „ja aber bei der km-Pauschale kann ich ja auch mal etwas großzügigere Angaben machen“ – „Ja aber, wenn das Klopapier jetzt echt knapp werden sollte, dann kauf ich mal lieber alles, was da ist“ – „ja aber die Strecke ist mit dem Auto wirklich sicherer“. 

Wir haben immer ganz viele Begründungen und Ausreden, warum wir gerade jetzt anders handeln müssen, als wir es vielleicht für richtig hielten. Die Umstände, der Kontext, andere machen es ja auch. 

So, hier tritt aber niemand auf, der Dich hinterfragt und belehrt. Im Yoga-Verständnis ist das Hinterfragen ein notwendiger Prozess nicht der Selbstgeißelung, sondern der Qualitätssicherung. Ich möchte als Yogi meinen Geist beruhigen und befreien. Wie sollte ich mich also am besten entsprechend verhalten, damit das bestmöglich gelingt? 

Also:

  1. Was tue ich eigentlich gerade? 
  2. Welche Rolle nehme ich dabei ein? 
  3. Was sind die Motive für mein Verhalten? Und
  4. Was sind die Konsequenzen meines Verhaltens?

Diese Fragen beziehen sich auf alle yamas und niyamas, im besondern aber auf das Bestreben, der Gewalt zu entsagen. Hiṁsā ist die Gewalt und ahiṁsā die Gewaltlosigkeit. Sie steht sozusagen an der Quelle unserer Taten. Gewalt, das deutsche Wort stammt aus Walten, also eigentlich jedes Tun mit Absicht. Wir sind in jedem Gedanken, jedem Wort, jeder Aktion in ein unendliches Netz von Ursachen und Folgen eingesponnen. Wollen wir die yamas und niyamas mit Leben füllen, müssen wir hier beginnen. 

Wir wissen alle, dass das nicht lösbar ist. Wir wenden immer Gewalt an. Oder wir lassen sie anwenden und sind Mitwisseroder Wegseher. Wenn ich an der Supermarkttheke eine Wurst kaufe, dann kaufe ich nicht nur das Produkt roher Gewalt und Ausbeutung, sondern ich bin auch gleichzeitig Auftraggeber und Anstifter für das größte Geschäft mit tödlicher Gewalt, das es gibt. 

Ach komm, ja aber … jetzt kommt der natürlich, klar, mit Fleisch essen. Tja, Leute, es muss sein. Ich verurteile niemanden, ich esse auch tierische Produkte. Nicht viel, aber doch! Aber es muss klar sein, was passiert. Versetzen wir uns doch mal in die schlecht bezahlten Arbeiter in den Schlachthöfen oder in die gequälten Kreaturen, die genauso leben wollen, wie alle andere Wesen? Ey, was tun wir da eigentlich? Und warum? Was ist mein Motiv? Verblendung? Klar. Verdrängung! Ohne Ende. Und Gier. 

Noch mal: ich bin hier nicht der Richter. Ich trage Kleidung aus Kinderarbeit (schätze ich mal, ich weiß es eigentlich nicht so genau, will ich es wissen?). Ich konsumiere wahrscheinlich zu viel, verbrauche zu viel Energie, ich verhalte mich nicht so, dass es dazu beiträgt, den Klimawandel aufzuhalten. Das ist sehr gewalttätig. Mit Absicht! 

Ja aber, ich habe doch seit drei Jahren kein Auto mehr und fahre nur Fahrrad und ÖPNV. Schön, Michael. Ganz toll. Gibt ein Fleißbienchen. Bild Dir mal besser nix ein. 

Die Gewalt im Sinn. Tatort am Sonntag. Mord und Totschlag. Auch an allen anderen Tagen. 

Ja also das ist jetzt zu moralapostelig! Wir können doch alle keine Heiligen sein! Hallo? Geh mir weg. 

Okay, okay, ich hör schon auf. Wir kommen nicht daraus, aber wir können beginnen, Schritt für Schritt, die Fragen dieses Sutras an uns zu stellen und unser Verhalten zu verändern. Und nicht andere zu verändern. Sondern uns selbst. 

Das ist Yoga.

Teil 46 – Ahiṁsā (2): Gewalt und Gartenschere – YS. 2.35

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Die Gewalt zu reduzieren ist eine Aufgabe für den Alltag. Meist geht es nicht um Leben und Tod, sondern um die vielen kleinen Situationen, in denen wir eine angemessene Haltung finden müssen. 

Ahiṁsā. Gewaltlosigkeit. Nicht Verletzen. Das ist weiterhin das Thema auch in dieser Folge. Ahiṁsā ist die erste ethische Richtlinie, der erste Schritt der yamas des achtfachen Yoga-Wegs.

Die yamas, zur Erinnerung, das waren:
ahiṁsā: Gewaltlosigkeit – Nicht-Verletzen
satya: Wahrhaftigkeit – Nicht Lügen
asteya: Nicht-Stehlen
brahmacarya: Handeln im Bewusstsein eines höheren Ideals -oder auch „ethisch handeln“
und aparigraha: Unbestechlichkeit, keine Vorteilsnahme

Also, ahiṁsā. Damit beginnt alles andere. Du kannst Dich mühen wie Du willst mit Deinem Yoga und Deinem Lifestyle. Es führt kein Weg daran vorbei, dass Du Dich erst einmal mit der grundlegendsten aller grundlegenden Disziplinen beschäftigen musst, aus der alles andere Leid, alle Widerstände und Schwierigkeiten erwachsen: Gewalt. Gewalt als Tat, als Worte, als Plan, als Gedanke, beim Betrachten, beim Mitwissen oder beim Wegschauen. Das ist so fundamental und deswegen ist es im praktischen Übungsweg des Yoga das Erste vom Ersten. 

Ähnlich wie bei den Hindernissen avidyā, die Unwissenheit, die Quelle aller weiteren Hindernisse war, ist das eigene Gewaltpotenzial die Ursache für unendliche Verwicklung in Leiden. 

Wenn wir aber unseren Geist beruhigen wollen — und darum geht es im Yoga – sollten wir ein Umfeld herstellen, in dem Gewalt möglichst wenig Nahrung bekommt. Und weil wir im Yoga bei uns selbst anfangen, müssen wir uns mit unserem eigenen Gewaltpotenzial auseinandersetzen. Das kann sehr sehr aufwühlend und schwierig sein. Aber die Belohnung winkt:

YS 2.35 ahiṁsā-pratiṣṭhāyaṁ tat-sannidhau vairatyāghaḥ 

Ist die Gewaltlosigkeit einmal beständig, wird im Umkreis jede Feindseligkeit aufgegeben. 

Ach toll, dass ist wieder so ein Sutra, mit dem ich den ganzen Tag gute Laune habe. Oder? Ist das nicht grandios, ein so ein kleiner Satz, in dem alles gesagt und der einfach perfekt ist. 

Wenn Deine Gewaltlosigkeit beständig wird, dann steckst Du damit Dein Umfeld an, könnte man auch sagen. Leading by example. Gemeint ist hier aber nicht etwa, dass Du damit prahlst, was du so alles Tolles und Gewaltloses machst oder nicht machst. Gemeint ist, dass Du Dich veränderst. Und wenn Du dann weniger Gewalttätigkeit ausstrahlst. Das wird Dein Umfeld von ganz alleine beeinflussen und verändern. 

Vielleicht denkst Du jetzt: Das trifft mich eigentlich gar nicht. Wo bin ich denn gewalttätig? 

Es ist so, ahiṁsā bedeutet nicht, sich aus dem Leben voller Konflikte und Schwierigkeiten komplett zurückzuziehen. Wobei: kann man natürlich auch machen, ab ins Ashram, komm ins Kloster. Oder so. 

Wenn man aber in dieser Welt lebt, wird man nicht umhinkommen, in vielen Situationen abzuwägen, das Richtige zu tun. Jemanden in Schutz zu nehmen, der bedroht wird z.B. — was Mut erfordert und vielleicht mindestens klare Worte oder entschiedenere Aktionen. 

Wir kommen nicht drumrum, in den Konflikt zu gehen. Das muss sein. Wie kriegen wir das trotzdem gewaltfrei hin? Oder möglichst gewaltfrei. Geht nicht immer. 

Kleines Szenario, von dem neulich gehört habe: Ein Mensch beschneidet in seinem Garten Hecken und Bäume. Ende April ist das dort, wo ich lebe aber verboten. Weil viele Vögel Bäume und Büsche zum Nisten brauchen. Ein Nachbarmensch meldet sich beim Ordnungsamt und ruft dieses herbei, um den Umweltsünder zur Raison zu bringen.
Klingt nach `ner richtig blöden deutschen Geschichte, oder? 

Nachbarn anzeigen wegen ein bisschen Grünschnitt. Uh. Das geht ja eigentlich gar nicht. Die Konfrontation mit Ordnungsamt und Strafen, möglicherweise eine aggressive verbale Auseinandersetzung. Vielleicht Streit und dauerhafte Verschlechterung des nachbarschaftlichen Verhältnisses. Andererseits: Was wäre, wenn der andere sein Kind schlüge oder den Hund? Dann wärs `ne klare Sache, oder? Ist es nicht richtig, Gewalt an der Natur aktiv zu verhindern? Und damit auch Gewalt an den Tieren und letztlich auch uns, die wir von Natur leben? Ich will mich nicht in dieses Beispiel vertiefen und kein Urteil fällen, es gibt sicher Dutzende Kriterien, die man abwägen muss, um dann zu einer Entscheidung zu kommen. 

Alles, was ich damit klarmachen will ist: es geht hier nicht um Mord- und Totschlag. Zumindest bei den meisten von uns nicht. Hoffentlich. Sondern es geht um das tausendfache Alltagsverhalten. Um das normale Leben. Yoga beginnt, wenn Du Deine Matte verlässt. Jetzt, heute, morgen, eigentlich immer. 

Teil 47 – Satya: Authentisch sein. Gar nicht leicht – YS. 2.36

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Die Wahrheit sagen, kostet Mut. Kann auch andere verletzen - unabsichtlich oder schlimmer noch: absichtlich. Darf man unwahr reden und handeln, um andere vor unangenehmen Wahrheiten zu schützen? Es ist wichtig, den Aspekt der Wahrhaftigkeit - satya - mit ahiṁsā, der Gewaltlosigkeit zu verbinden. Wahrhaftigkeit wirkt immer nach außen wie nach innen.

Hast Du die letzte Folge „Gewalt und Gartenschere“ gehört? Tja, die die Auflösung liefere ich Dir heute: Ein Mann hatte Ende April seine Bäume beschnitten, was wegen brütender Vögel eigentlich verboten ist. Ein Nachbar rief das Ordnungsamt, doch das zog unverrichteter Dinge wieder ab. Schließlich hatte der Mann nur Totholz beseitigt, das gut hätte herunterfallen und Menschen verletzen können. Alles gut. Alles gut? Tja, ich habe mir in der letzten Folge Gedanken zur alltäglichen Übung der Gewaltlosigkeit gemacht. Die Auflösung dieser Geschichte zeigt, dass es sehr kompliziert sein kann, dies zu üben. 

Heute wird es nicht leichter: es geht um satya, die Wahrhaftigkeit, wahr reden, wahr denken, wahr agieren. Authentisch sein. Nicht lügen. 

YS 2.36 satya-pratiṣthāyaṁ kriyā-phala-āśrayatvam

Ist Wahrhaftigkeit beständig, stehen die eigenen Aussagen und Handlungen stets im Einklang.

„Sat“ ist die Sanskritwurzel mit der Bedeutung „So-Sein“ oder „Realität“, das was wirklich ist. 

Einfach gesagt: Wenn Du wahr sprichst, dann passt kein Blatt zwischen Deine Worte und Deine Taten. Du bist authentisch.

Tja, was ist denn schon „wahr“? Wahr kann immer nur das Ergebnis des aktuell bestmöglich überprüften Wissens sein. Ja, 2 plus 2 ist 4. Das ist wahr. „Wie geht’s?“- „Hey, mir gehts super!“ Echt? 

„Guck, mal, ich habe mir diese Jacke heute gekauft, total cool, oder?“ – „Oh, ja, steht Dir gut. Sehr schön“ 

„Sag mal, mein Kleiner, hast Du die 2 Euro gesehen, die hier auf dem Küchentisch lagen?“ – Ich, nee Papa, keine Ahnung. Ich hab die 2 Euro nicht genommen!“

Man sagt ja so: Lügen muss man lernen. Die Wahrheit sagen, kostet Mut. Kann auch andere verletzen – unabsichtlich oder schlimmer noch: absichtlich. Darf man unwahr reden und handeln, um andere vor unangenehmen Wahrheiten zu schützen? 

Sag mir die Wahrheit, sagt der Patient zu seiner Ärztin. Vielleicht fürchtet er, bzw. fühlt er eine Wahrheit, die er nicht hören will. 

Die Ärztin wird im Zweifelsfall dem Patienten nicht die Wahrheit vorenthalten, wenn sie eine schlechte Diagnose mitteilen muss. So oder so ist das Ergebnis leidvoll, eine schlimme Diagnose einerseits aber noch schlimmer wäre das Verschweigen.

Da es auch hier in vielen Fällen keine gute Lösung gibt, sondern oft nur weniger schlechte, sollten wir den Aspekt der Leidens- und Gewaltminderung immer im Hinterkopf haben. Es ist wichtig, den Aspekt der Wahrhaftigkeit mit ahiṁsā, der Gewaltlosigkeit zu verbinden. 

Das Verschweigen oder Unterdrücken, das Vorenthalten der Wahrheit – auch in bester Absicht – kann durchaus zu Leiden und Gewalt führen. 

Das sind so die Zwickmühlen, die jede und jeder von uns kennt, vom Kleinen bis zum Großen. 

Ich möchte aber hier über einen Aspekt der Wahrhaftigkeit reden, der von innen nach außen geht. 

Denn das wäre die Perspektive und der Kompass, den uns Yoga zur Verfügung stellt. Dass wir immer durch unsere subjektive Bewusstseinsbrille schauen, das wissen wir ja nun schon längst. So gesehen können wir den Versuch, wahrhaftig zu sein, auch immer nur mit unserer Perspektive verbinden. 

Oft möchten wir gerne anderen Menschen gefallen, ihre Aufmerksamkeit und ihre Liebe gewinnen. Das ist auch gut, warum nicht. Oder wir möchten andere beeindrucken, aus welchen Gründen auch immer. Vielleicht machen wir uns schöner, als wir sind. Wir blasen uns auf. Wir tun so, als ob. Wir feilen die Wahrheit so, dass sie passt. 

„Wie geht’s?“- „Hey, mir geht’s super!“ Echt? Tu doch nicht so glücklich! Hier ist ja eigentlich der Punkt, an dem wir am besten ansetzen können! Wenn wir üben wollen, wahrhaftig zu sein, dann müssen wir nach innen schauen — ah, genau — und feststellen, wie wir unsere Realität authentisch wiedergeben ohne damit Leiden zu verursachen. „Ey, mir gehts voll Scheiße, ist doch alles Mist, im Moment“. Okay okay, das wir auch keiner hören, oder? Wahrscheinlich ist das nämlich auch nicht wahr. Tu doch nicht so frustriert! Gehts auch `ne Nummer kleiner?

Mal ehrlich! Wir haben sehr sensible Antennen dafür, ob jemand authentisch ist. Die Stimme, die Tonlage, der Atem, die Körperhaltung und Vieles mehr verraten uns meist intuitiv, ob unser Gegenüber gerade Quatsch erzählt, oder? 

Das, was Du über Dich erzählst, das hat ja nicht nur die Senderichtung nach außen, sondern es funkt ja auch zu Dir selbst zurück. Die Gedanken, die Du denkst und die Worte, die Du sprichst, kreieren ja überhaupt erst mal Deine Realität. Sie werden zu Deiner Realität, bevor sie noch jemand anderes hört. Am Ende glaubst Du jeden Scheiß, den Du Dir selbst erzählst. Die Wahrhaftigkeit ist letztlich eine Tugend oder Übung Dir selbst gegenüber, ja, da sind wir wieder ganz beim Yoga. Du kreierst mit deinen citta-vṛtti, mit Deinen Bewegungen des Geistes, Dein Wesen. 

Und — ich komme auf das heutige Sutra zurück — wenn Du nach innen schaust und aus Dir heraus authentisch bist, dann werden Deine Taten und Deine Worte im Einklang stehen. Du wirst ernten was du säst. 

Das ist Yoga.

Teil 48 – Asteya: Mit weniger auskommen YS 2.37

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Philosophisch können wir die Frage stellen: Wie kommen wir überhaupt zu Dingen, von denen wir behaupten, dass sie uns gehören? Sind nicht alle Dinge, die wir besitzen, vorher irgendwo entnommen. Ist das auch schon Stehlen? Du sollst nicht Stehlen. Das vielleicht nicht. Was machen wir mit der Erkenntnis, dass wir - wenn wir ehrlich sind - dauernd auf Kosten anderer leben?

Asteya bedeutet Nicht-Stehlen, nicht Nehmen. Asteya ist nach ahiṁsā, der Gewaltlosigkeit und satya, der Wahrhaftigkeit das dritte Element der yamas, der Verhaltensregeln gegenüber der Welt.

Machen wir es uns noch mal klar: Patañjali nimmt sich in diesem Teil des Sutra ganz viel Platz und Zeit, um uns vertraut zu machen mit den wichtigsten Regeln und Empfehlungen für ein gedeihliches und ethisches Miteinander und für den guten und gesunden Umgang mit sich selbst. Wir sollen — so Patañjali — also nicht erst man auf die Matte gehen und Asanas oder Prāṇāyāma üben. Davor hat er erst mal die Arbeit am eigenen Verhalten gesetzt. Heißt auch, dass es vielleicht gar nicht so um Herabschauende Hunde und Dreiecksposition geht, um einen ruhigen und ausgeglichenen Geist zu haben. Und heißt auch, dass man nicht irgendwie besonders biegsam sein muss, um jetzt und hier mit Yoga beginnen zu können. 

YS 2.37 asteya-pratiṣṭhāyāṁ sarvaratn-opasthānam

Ist Nicht-Stehlen beständig, wird aller Reichtum vorhanden sein. 

Ja, ne? Nicht klauen. Ein guter Rat. Man nimmt anderen nix weg. Es macht auch durchaus Sinn, dass uns das auf dem Weg zur mentalen Ruhe negativ beeinflussen könnte, wenn wir es täten. Denn wenn‘s raus kommt, gibt‘s Ärger und Strafen. Also, besser nicht. 

Du ahnst schon, damit ist es nicht getan. Weil: Klauen im Supermarkt? Haben wir hoffentlich nicht nötig. Und Supermärkte gab’s ja zu Patañjalis Zeiten auch noch nicht. Also, nehme ich mal an, dass es um mehr geht.

Wir müssen auf den wichtigen zweiten Teil des Sutra gucken. Rückwärts betrachtet steht da: Aller Reichtum wird vorhanden sein, wenn Du nicht stiehlt.

Philosophisch können wir hier die Frage stellen: Wie kommen wir überhaupt zu Dingen, von denen wir behaupten, dass sie uns gehören?

Was gehört uns überhaupt? Müssen wir nicht sowieso alles, was wir zu besitzen glauben, vorher irgendwo weggenommen oder, neutraler gesagt, entnommen haben?

Um es mit „Live of Brian“ von Monty Python zu sagen: 

„We come from nothing, we are going back to nothing – In the end what have we lost? Nothing!” also „Wir kommen aus dem Nichts, wir gehen zurück ins Nichts. Was haben wir am Ende verloren? Nichts!“

Was gehört uns überhaupt? Können wir Besitztümer und Reichtum anhäufen und dies nicht zu Lasten anderer, zum Beispiel der Natur, anderer Menschen und Tiere tun? Schwerlich. 

Stehlen wir nicht der Natur ihre Ressourcen, wenn wir sie für unsere Zwecke ausbeuten? Stehlen wir ausgebeuteten TextilarbeiterInnen in Asien nicht ihre Würde, Zeit und Geld, wenn wir ein T-Shirt für 3,99 EUR kaufen? Stehlen wir nicht Kühen massenweise ihre Kinder, um daraus unser Saltimbocca oder Wiener Schnitzel zu machen? Stehlen wir Musikern nicht einen großen Teil ihrer Einkünfte, weil wir über Spotify streamen? Stehlen wir nicht permanent die Ressourcen unserer Erde? Es ist schon wieder so, dass wir schnell erkennen, dass man nicht als Heilige oder Heiliger durch die Welt gehen kann.

Was machen wir mit der Erkenntnis, dass wir – wenn wir ehrlich sind – dauernd auf Kosten anderer leben? Da wir Yogis sind und uns selbst hinterfragen wollen, müssten wir auch hier bei uns anfangen. 

Das Sutra sagt hier eindeutig: Wenn Du beständig wirst im Nicht-Nehmen, dann kommt der Reichtum zu Dir. Also: Wenn Du weniger gierig bist, wirst Du dennoch alles bekommen, was Du brauchst. Vielleicht merkst Du dann, dass Du einfach weniger brauchst? Vielleicht ist es so, dass Dich die Natur, die Menschen und die Tiere auch so mit allem versorgen, das Du brauchst. Vielleicht besteht aber auch der Reichtum nicht in dem, was Du brauchst oder besitzt, sondern im dem, was Du nicht brauchst und nicht besitzt. Du kannst eh nichts mitnehmen, wenn es eines Tages vorbei ist, also übe Loslassen. 

Das ist Yoga.

Teil 49 – Brahmacarya: Sexuelle Zurückhaltung – YS 2.38

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Aber was hat es mit der Sexualität und der Enthaltsamkeit im Yoga auf sich? Eigentlich ist es ja sehr einfach: Die Sexualität ist der Urtrieb allen Lebens. Sie kann zu den liebevollsten und achtsamsten Erfahrungen führen, aber auch unendliches Leid auslösen. Wie sollten wir damit umgehen?

Wir befinden uns in der ersten Übungsstufe des achtfachen Wegs, den yamas, den Verhaltensregeln gegenüber unserer Umwelt. Patañjali sagt: Wir müssen mit uns selbst, mit unserem Verhalten gegenüber der Welt beginnen, wenn wir uns auf den Weg machen. Die ersten beiden yamas waren ahiṁsā, die Gewaltlosigkeit und aysteya, das Nicht Stehlen. 

Heute folgt brahmacarya hinzu, das ethische Handeln. 

YS 2.38 brahma-carya pratiṣṭhāyāṁ vīrya-lābhaḥ 

Dieses Sutra ist aus meiner Sicht besonders interessant, weil es so vielfältig interpretiert und übersetzt wird. Deswegen möchte ich am Beispiel von YS 2.38 gerne zeigen, wie eben unsere jeweilige Perspektive entscheidet, was wir sehen und verstehen.

Brahma – heisst soviel wie das Unendliche, das Kosmische, das Allwesen, die Allseele

Carya – bedeutet „zu tun“ „das Handeln“

Jetzt schauen wir mal auf drei Übersetzungsbeispiele:

  1. Wird jede Handlung im Bewusstsein eines höheren Ideals ausgeführt, wird große Stärke erlangt.
  2. Wenn man im reinen Lebenswandel fest gegründet ist, erlangt man große Kraft.
  3. Wer ständig und fest in sexueller Enthaltsamkeit lebt, erwirbt große Vitalität.

Lustig, oder? Drei Übersetzungen desselben Sutra mit doch sehr unterschiedlicher Gewichtung. Wie kann das sein? Nun, wir haben ja schon gesehen, dass die Sutras sehr kurz und kondensiert sind. Sie blühen auf, wenn man sie gießt, könnte man auch in einem schönen Bild sagen. Und es hängt wesentlich davon ab, wer die Gießkanne hält, sozusagen. 

In den hunderten Kommentaren, die sich an das Yoga-Sutra heranwagen, von den ältesten bis zu den jüngsten, ist keine Übersetzung wie die andere. Immer spielt die Weltsicht eine Rolle, der zeitliche Kontext, die sprachwissenschaftliche Auslegung und, und. 

Das sollte uns nicht hindern, ein eigenes Verständnis zu entwickeln. 

Nicht nur das Sutra sondern überhaupt Yoga ist ein Beet, das zu unterschiedlichen Zeiten die verschiedensten Blüten hervorbringt, das ist ja das Tolle. Deswegen findet Yoga überall auf der Welt und in allen Zeiten seine Fans und das wird so bleiben.

Aber was bedeutet es denn nun wirklich? Kann man sich dann gar nicht drauf verlassen, was in den Büchern, in den Übersetzungen, steht? Tja, Yoga beruht auf Erfahrung. Letztlich wird erst beim Üben klar, was ein Sutra bedeutet. 

Also brahmacarya: keine der Übersetzungen oben ist „falsch“. Es kommt – genau: auf die Perspektive an. Aber nicht nur auf die der Lehrenden. Sondern auch auf die der Schülerinnen.

Ich bin kein Mönch, deswegen konnte ich mit der zölibatären Auslegung von brahmacarya lange nicht viel anfangen. Für mich war das „Handeln im Bewusstsein eines höheren Ideals“ der deutliche griffigere Ansatz. Wenn wir uns klar machen, dass wir immer im Kontext eines größeren Ganzen handeln, dann üben wir vor allem eines: unser eigenes Selbst nicht ständig in den Mittelpunkt der Welt zu stellen. Dann steigt unsere Sensibilität für die großen Zusammenhänge. Wozu trägt mein Verhalten bei? Was verstärkt es, und was schwächt es ab? Was wäre, wenn alle so handeln würden wie ich? Was ist mit Blick auf die „Allseele, den Kosmos“ hier das Richtige? Deswegen finde ich die Bezeichnung „ethisches Handeln“ hier so wunderbar, und das ist mein modernes Verständnis dieses Sutra. Dass aus gutem ethischen Handeln Kraft und Vitalität entsteht, die keiner äußeren Bestätigung bedarf, ist nur klar.

Aber was ist nun mit der Sexualität und der Enthaltsamkeit? Eigentlich ist es ja sehr einfach: Die Sexualität ist der Urtrieb allen Lebens. Sie kann zu den liebevollsten und achtsamsten Erfahrungen führen, aber auch unendliches Leid auslösen. 

Sexismus, Unterdrückung, Entrechtung, Entwürdigung und Ausbeutung waren schon und sind noch immer die Folgen einer maßlosen Überhöhung von Machtausübung, vor allem männlicher Machtausübung. 

Ethisches Verhalten in dem Sinne, Leiden zu reduzieren, muss beginnen bei dem tiefsten Trieb, der uns gegeben ist. Achtsame, gewaltfreie, respektvolle und wertschätzende Sexualität ist möglicherweise überhaupt der Schlüssel für weniger Gewalt im Zusammenleben aller Menschen. 

Man kann das durchaus noch weitertreiben zur völligen körperlichen Entsagung und Kasteiung. Wenn dieser Weg für den oder die Übende zur Freiheit und Loslösung führt, ist es ja wunderbar! 

An der der Haltung zu Sexualität und Geschlechterrollen kann man oft erkennen, wie es um die Friedfertigkeit und Gerechtigkeit einer ganzen Gesellschaft steht.

Die Frage, wie wir brahmacarya übersetzen, ist damit eigentlich erledigt. Es kommt aufs Gleiche raus: Das Verhalten im Sinne eines höheren Ideals ist genau das Gleiche wie sexuelle Zurückhaltung. 

Das ist Yoga. 

Teil 50 – Aparigraha: Die „So-wie-ich-Meditation“ YS 2.39

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Wir sind natürlich alle nicht korrupt. Das sind immer die anderen, oder? Aber neigen wir nicht alle zur Maßlosigkeit in unseren Wünschen und Begierden? Was brauchen wir eigentlich wirklich, um glücklich zu sein?

Ui, 50. Folge heute. Toll, dass Du dabei bist. Teile gerne meinen Podcast, wenn er Dir gefällt. Heute geht es um aparigraha, das letzte der fünf yamas, der Übungen im Umgang mit der Welt. 

YS 2.39 aparigraha-sthairye janma-kathaṁtā saṁbodhaḥ

Ist Unbestechlichkeit beständig, entsteht Wissen über das Ziel des Erden-Lebens. 

Das fünfte Yama ist wieder eine Art Joker. Es schließt den Kreis der yamas und öffnet zugleich die Tür zu den darauf folgenden niyamas.

Parigraha bedeutet eigentlich „etwas umfassen, etwas festhalten“ – Die Vorsilbe a – das kennen wir schon – ist die Verneinung, also bedeutet aparigraha: „Nicht umfassen“, „Nicht festhalten“, „Nicht besitzen“.

Es gibt viele Übersetzungen in der Literatur. Sehr viele. „Unbestechlichkeit“, „Besitzlosigkeit“, „Enthaltsamkeit“, „Aufgeben von Gier“, „Entsagung“, „Nicht zugreifen“ usw. 

Es ist eigentlich schon klar, worum gehts, oder? Wieder mal. So, wie bei den ersten vier yamas, wir erinnern uns:

Wahrhaftigkeit, Gewaltlosigkeit, Nicht Stehlen, Ethisches Handeln und nun: Unbestechlichkeit. 

Wer wollte da ernsthaft widersprechen? 

Ich erzähle Euch mal, wie es mir geht bei solchen Themen: erst mal frage ich mich: trifft das überhaupt zu auf mich? Geht mich das was an? Zum Beispiel: hier: ich betrachte mich — natürlich! — nicht als korrupt. Ich doch nicht. 

Dann denke ich, okay, was finde ich denn eigentlich verwerflich? Millionen Provisionen nehmen für irgendwelche Scheinkäufe, Aufträge vergeben gegen Gefälligkeiten? Sich unrechtmäßig vordrängeln, Leistungen erschleichen, sowas halt.

Immer die anderen. Böse Welt. Wenn Du Dich als Yogi aber empörst über andere, dann weißt Du, dass es Zeit wird für die … „So-wie-ich-Meditation“. 

Die So-wie-ich-Meditation gehört zu meinen Lieblingsübungen und heute stelle ich sie Euch vor. Immer, wenn Du Dich dabei ertappst, etwas zu verurteilen und denkst, das betrifft nur andere, dann fügst Du an jeden Satz, den Du sagst oder denkst an … “so wie ich“. 

„Die Leute denken nur noch an Materielles, echt jetzt — so wie ich

„Ganz schlimm, wie die Leute mit ihren ewigen Flugreisen das Klima schädigen – so wie ich.“

„Die Politiker sind doch alle korrupt und wirtschaften in die eigene Tasche — so wie ich

„Meine Güte, schlagen sich die Leute am Buffet den Magen voll — so wie ich

„Und alle zwei Jahre ein neues Smart-Phone – muss das sein? — so wie ich …“ Das sind nur Beispiele, klar. Die nicht unbedingt auf Dich so zutreffen müssen, aber Du weißt, was gemeint ist. 

Was auf den ersten Blick fern scheint und dazu einlädt, andere zu verurteilen, rückt dann ganz schnell ganz nahe. Denn wenn Du Dich auf die grundethischen Fragen konzentrierst, dann findest Du alle yamas eben auch bei Dir selbst. Natürlich ist das so! Wahrhaftigkeit, Gewaltlosigkeit, Nicht-Stehlen, Ethisches Handeln und Unbestechlichkeit. Müssen wir nicht lange drüber diskutieren, dass uns das alle betrifft. Ich meine wirklich alle. 

Bei aparigraha funktioniert diese Übung besonders intensiv. Denn aparigraha meint nicht nur die große Korruption. Aparigraha meint auch die Besitzlosigkeit, das Nicht- Nehmen auch von Dingen, die man nicht stehlen muss oder die einem womöglich rechtlich sogar zustehen. Wir kennen ja auch das schöne Wort Vorteilsnahme. Oder auch wörtlich das bewusste „Nicht-Zugreifen“. Das fällt uns allen aber in der modernen Welt — ich sage bewusst nicht „Im Westen“, sondern einfach überall auf der Welt — besonders schwer.

Doch: Drittes Auge sei wachsam. Diese Übung, wie überhaupt Yoga, will nicht, dass Du ab sofort im Büßergewand am Boden kniest und um Vergebung bittest. Da gibt es nämlich keinen auf den anderen Seite, der Dir die Vergebung aussprechen könnte. 

Yoga ist kein Weltververbesserungs-Programm. Yoga ist bedeutet, erst einmal den Blick nach innen zu richten und wahrhaftige und authentische Antworten in Dir selbst zu suchen. Dich mit Deinen eigenen Verstrickungen und Verwirrungen zu erkennen und dann, Stück für Stück, Übung für Übung, Deinen Geist zu beruhigen und zu befreien. Noch mal: Du kannst nicht die Welt erziehen, sondern nur Dich selbst. 

Wenn wir uns daran erinnern, dann wird auch der etwas rätselhafte zweite Teil dieses Sutras – „dann entsteht Wissen über das Ziel des Erden-Lebens“ noch mal klarer. Lustigerweise wird dieser Teil oft in den Kommentaren, zumindest  in denen, die ich kenne, etwas unter den Teppich gekehrt. Was ist also gemeint?

Ich verstehe es so: Wenn Du Dich bemühst, die eigene Maßlosigkeit zu erkennen und vielleicht zu reduzieren; wenn es Dir gelingt, nicht zu nehmen, auch wenn es Dir zusteht, wenn Du Dich in Anspruchslosigkeit übst, dann wirst Du zurück geworfen auf Deine eigentlichen Bedürfnisse. Ich korrigiere: Du wirst befreit und erkennst Deine eigentlichen Bedürfnisse. Was brauche ich eigentlich wirklich? Jetzt in dieser Situation aber auch insgesamt im Leben. Mit wie viel bzw. mit wie wenig komme ich aus? Die Erkenntnisse daraus werden Dir ohne Ende Dinge über Dich erzählen, Deine Bedürfnisse, Deine Vergangenheit und Deine wahren Ziele hier auf Erden.

Das ist Yoga.

Teil 51 – Śauca: Körperreinigung und Mythos DetoxYS 2.40 – 2.41

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Śauca, die Disziplin der Reinigung, ist tatsächlich wörtlich gemeint. Ein gutes Verhältnis zum eigenen Körper wirkt auch nach innen und nach außen. Es verschafft Dir Respekt gegenüber dem Wunder, das Du bist und signalisiert Respekt gegenüber anderen Menschen, denen Du begegnest. Und das hat alles nichts mit „Schlacken“ und Detox zu tun.

YS 2.40 śaucāt svāṅga-jugupsā parairasaṁsargaḥ 

Reinigung führt zu Abstand vom eigenen Körper und Nicht-Beeinflussung durch Äußerlichkeiten. 

Mit diesem Sutra überschreiten wir heute die unsichtbare Grenze von den yamas, dem richtigen Verhalten gegenüber der Außenwelt, zu den niymas, den richtigen Verhalten gegenüber der Innenwelt, also uns selbst gegenüber, und das beginnt mit Reinigung. 

Ich finde es sehr interessant, dass Patañjali uns früher schon beide Bereiche vorgestellt hat, dann die yamas erklärt hat und jetzt quasi unbemerkt zu den niyamas übergeht. 

Vielleicht, weil die niyamas einfach die andere Seite derselben Medaille sind. Vielleicht, weil es klar ist, dass wir auch das Innen befrieden müssen, um die Voraussetzungen für Freiheit zu finden. 

Der Übergang von den yamas zu den niyamas ist ein wenig so wie das Reisen in der EU. Es gibt die Grenzen, aber schwupps, bist Du schon drüber. Nur eine SMS sagt Dir „Willkommen bei den niyamas. Du kannst mit deinem Meditationsbudget genauso weitersurfen wie bisher …“.

Früher habe ich mich immer gefragt, warum die niyamas nicht vor den yamas kommen. Sollte man nicht erst mal das eigene Haus aufräumen, bevor man draußen weiter macht?

Heute glaube ich besser zu verstehen, warum die yamas die erste Stufe und die niyamas die zweite Stufe des achtfachen Weges bilden: es hilft nichts, Dich einzuigeln. Nur Dich selbst im Blick zu haben und zu hoffen, dass der Rest schon von alleine passiert. Yoga ist die Klärung der Beziehung zu den Dingen, die Dich bei beim Üben und Kultivieren von Gelassenheit und Ruhe stören. Die Beziehung zur Außenwelt, so haben wir es in den yamas gelernt, könnte man salopp bezeichnen als „Stress reduzieren“ — keine Gewalt, keine Gier, kein Stehlen, ethisches Verhalten, weniger wollen. Dann hast Du freies Feld, Dich mit Dir selbst zu beschäftigen. Umgekehrt würden Du möglicherweise einem Ego-Tripp in die Falle laufen und Dich permanent darüber beschweren, wie schlecht die Welt ist, in der Du doch nur Deine Ruhe haben willst. Nein. Erst mal musst Du Frieden schaffen um dich herum. So, wie Du die Außenwelt behandelst, wirst Du am Ende auch Dich selbst behandeln. Irgendwie logisch. 

Yoga wird ja oft als Disziplin bezeichnet. Ein schwieriges Wort, gerade im deutschen Kulturkontext. Aber ich benutze es auch gern. Disziplin bedeutet hier nicht Züchtigung durch andere. Disziplin bedeutet im Yoga-Sinne vor allem: maßvoll sein. Das Drama raus nehmen, nicht übertreiben. Ruhig werden. Weniger machen. Die Kunst ist die Reduktion. So ist auch der achtfache Weg keine Predigt und kein Gesetz, sondern eine Einladung. Eine Einladung zu probieren, mit weniger auszukommen. 

Die yamas dienen Dir dazu, Achtung gegenüber dem Äußeren, dem vermeintlich Anderen zu üben. Die niymas dienen der Achtung vor Dir selbst. Ohne die Achtung und Achtsamkeit sich selbst gegenüber ist alles nichtig. Das gilt um so mehr, als als dritte und vierte Stufe āsana, also die körperliche Praxis und Prāṇāyāma, die Atem- und Energiearbeit folgen. Ohne Maß und Respekt werden diese Disziplinen sich in Ihr Gegenteil verkehren und Dir schaden, statt nutzen.

So ist es auch mit der Disziplin der Reinigung – śauca.

Das erste yama war ja satya, die Wahrhaftigkeit. Das erste niyama nun ist also die Reinigung. Was die Wahrhaftigkeit für den Geist ist, ist śauca, die Reinigung, für den Körper.

Śauca ist wörtlich gemeint. Den Körper sauber und rein halten. Körperliche Hygiene, sich waschen, sich pflegen. Gesunde Sachen essen und trinken. Den Körper äußerlich und innerlich respektieren und wert schätzen. Du hast nur diesen einen. Ein gutes Verhältnis zum eigenen Körper wirkt auch nach innen und nach außen. Es verschafft Dir Respekt gegenüber dem Wunder, das Du bist und signalisiert Respekt gegenüber anderen Menschen, denen Du begegnest. Schlunzig und schlampig mit sich selbst umzugehen, wird andere in unangenehme oder peinliche Situationen bringen. Das wiederum wird Dich daran hindern, Deinen Geist zu beruhigen, und darum geht es ja am Ende, ne? 

Wir müssen auf den hinteren Teil unseres heutigen Sutras schauen, um nicht in die Ego-Falle mit śauca zu tapsen. Es geht bei śauca – auch wenn das erst mal schwer zu verstehen ist – um Abstand zum eigenen Körper zum Äußerlichen. Jugupsā ist das Abwenden und asaṁsarga ist die Kontaktlosigkeit. Sich um seinen Geist zu kümmern, führt zu Abstand zu den falschen Identifizierungen, führt zu Gelassenheit. Sich um den Körper zu kümmern, führt dazu, die Gier des Körpers zu zügeln, in jeder Hinsicht. Auch hier gelassener zu werden.

Der Abstand zum eigenen Körper und eine gewisse Unberührbarkeit und Unbeeinflussbarkeit könnte man neudeutsch auch als Resilienz nach innen und außen verstehen. Die weiteren Effekte von śauca sind deswegen auch durchaus umfassend, wie wir im nächsten Sutra sehen:

YS 2.41 sattva-śuddhiḥ saumanasya-ikāgry-endriyajaya-ātmadarśana yogyatvāni ca 

Durch Reinigung klärt sich unser Bewusstsein, und wir werden fähig zu Optimismus, Konzentrationsfähigkeit, der Beherrschung der Sinne sowie dem Blick nach innen.

Wie Du genau śauca für Dich definierst, ist individuell. Manche verwechseln śauca mit der populären Detox-Mode. Als wäre der Körper eine Giftdeponie mit Schlacken, die es loszuwerden gilt. Das ist aber Quatsch. Schlacken gab es früher im Ruhrgebiet. Aber nicht im Körper. Das ist viel zu viel Drama. Und Exklusivität. Also ob! Auch hier gilt wieder: Mäßigung. Nimm Dich nicht so wichtig. Auch nicht Deine vermeintlichen Schlacken. Diese Art der eitlen Überhöhung des Körpers ist eher rāga und dvesa. Vielleicht hörst Du dazu noch mal in Teil 30 rein.

Śauca ist die Disziplin, nein, die Einladung, wachsam zu sein, damit die Beschäftigung mit Dir selbst nicht zu Narzissmus und Besessenheit führt, sondern Dich zu einem starken und gesunden Menschen macht, der zugleich sanft und beherrscht ist. 

Das ist Yoga.

Teil 52 – Saṃtoṣa: Die Kunst, zufrieden zu sein – YS 2.42

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Die Zufriedenheit - Saṃtoṣa, das ist das magische Wort der heutigen Folge. Zufriedenheit kann man üben. Im Gegensatz zum starken Gefühl des Glücks ist Zufriedenheit ein Zustand, der auch länger halten kann. Wenn das gelingt, kann sich darauf das Glück ausbreiten.

Zufriedenheit, saṃtoṣa, ist die zweite Disziplin der niyamas. In der letzten Woche hatten wir uns ja mit dem ersten beschäftigt, nämlich mit śauca, der Reinigung. 

YS 2.42 saṁtoṣāt-anuttamas-sukhalābhaḥ

Durch Zufriedenheit gewinnt man unübertroffenes Glück. 

Ich frag Dich mal direkt: Bist du zufrieden? Oder anders gefragt: Bist D-u eine zufriedener Mensch?

Ich hätte ja Lust, die Pause auf 5, 10, 15 Minuten auszudehnen und Dich mit der Frage noch etwas Dir selbst zu überlassen, aber wahrscheinlich wärst Du dann schon raus, ne?

Wir sagen ja bei YogaYa: „Gelassenheit muss man üben“ und meinen damit, dass man dran bleiben muss, beim Yoga wie überhaupt im Leben. Von nix kommt nix. Mit Zufriedenheit verhält es sich aus unserer Erfahrung genau so: kann man üben. Das ist die optimistische Botschaft der heutigen Folge. 

Was ist Zufriedenheit? Patañjali sagt: Zufriedenheit führt zu Glück. Sukha! Sukha ist der Antagonist zu dukha, der Enge, der Depression, dem Schmerz. Nicht-Glück ist im Yoga-Verständnis ein Zustand des Geistes – klar, haben wir uns schon gedacht. Nicht-Glück bedeutet nicht, Pech zu haben. Im Deutschen ist benutzen wir dasselbe Wort „Glück“ ja für zwei sehr unterschiedliche Dinge: einmal Glück haben. Und Glück empfinden. 

Uns allen, sag ich mal so pauschal, widerfährt ja Glück ohne Ende. Ich spreche mal für mich: Ich lebe in einem freien Land, in dem Frieden herrscht. Mit einem guten Gesundheitssystem, mit genug zu Essen und einem schönen Dach über dem Kopf. Ich kann nachts schlafen, ohne Angst zu haben und stehe morgens auf und habe in der Regel einen Tag vor mir, der mit einem gesunden Frühstück beginnt. Ich habe Menschen, die ich liebe und die mich lieben. Noch was? Ja, ich könnte noch 10.000 andere Dinge aufführen. 

Du auch. Bestimmt! Eine Zufriedenheitsmeditation ist etwas Schönes, kann ich nur empfehlen. Zufriedenheit kann man üben. 

Das Problem ist allerdings, dass die Umstände, die die unser Leben glücklich erscheinen lassen, nicht unbedingt dazu führen, dass wir glücklich sind. Viele würden auf die Frage: „Bist Du glücklich?“ eher ausweichend oder zurückhaltend antworten. Dann reisen wir in ferne Länder, um Menschen, denen es objektiv viel schlechter geht, dafür zu bewundern, dass so trotzdem (vermeintlich) glücklich sind. Diese Erkenntnis nehmen etwas irritiert und romantisierend mit nach Hause und finden alles noch ein bisschen trauriger. 

Warum ist das so? Ich glaube, unsere Erwartungen an das Glücklich-Sein sind zu hoch und zu verzerrt. Glück zu empfinden ist ja ein sehr starkes Gefühl. Eines, dass man nicht wirklich lange aushält. Wie das Glück kommt, so geht es vorüber. Das liegt in der Natur des Menschen: wir streben immer wieder Richtung Ausgleich. Das extreme Gefühl Glück ist fast immer von kurzer Dauer. Und um es herzustellen, gibt es kein Rezept, oder?

Da es ja hier in den niyamas um den Umgang mit uns selbst geht, auch wenn keiner zuschaut, geht es hier eben auch um die immer wieder gestellte Frage des Yoga: Was können wir tun, um unserem Geist zu beruhigen? Der Zustand von Glück ist in unserer Erwartungshaltung jetzt nicht so der ruhige Geisteszustand, ne? Also sagt Patañjali: Zufriedenheit, bzw. das Praktizieren von Zufriedenheit, wird zu Glück führen. 

Der Trick hier ist, dass der emotionale Zustand der Zufriedenheit eine viel längere Halbwertzeit hat. Zufrieden kann man auch über lange Zeit sein. Zufrieden zu sein heißt ja gerade, eher im Geist in sich zu ruhen. Glück ist ein starker und vergänglicher Reiz. Zufriedenheit dagegen ist das Plateau, auf dem sich Glück breit machen kann. Auf dem sich dukha, die Enge in sukha, die Freude verwandeln kann. Daher ist im Verständnis des Yoga eben auch saṃtoṣa, die Zufriedenheit, ein niyama, ein Glied des aktiven Übungswegs. 

So jetzt setzt dich mal hin, und mach ’ne innere Zufriedenheitsliste! 

Das ist Yoga.

Teil 53 – Tapas: Lernen, Trübsinn zu verbrennen – YS 2.43

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Tapas heißt „Brennen für etwas“, leidenschaftlich und diszipliniert sein. Aber widerspricht das nicht dem Bestreben, mit Yoga weniger anzustreben? Loszulassen? Was ist also gemeint?

Heute beschäftigen wir uns — ein weiteres mal — mit tapas, der Leidenschaft, der Askese, dem Brennen-für-etwas.

YS 2.43 kāyendriya-siddhir-aśuddhi-kṣayāt tapasaḥ 

Durch Selbstdisziplin, wird Trübsinn aufgelöst, Körper und Sinne erhalten übernatürliche Kraft. 

Tapas ist der dritte Aspekt der niyamas, dem guten Verhalten sich selbst gegenüber. Das erste niyama war ja śauca, die Reinigung und das zweite war saṃtoṣa, die Zufriedenheit. 

Wir haben ja schon ganz oft besprochen, das Yoga der Weg des Übens ist, des Tuns. Kriyā Yoga — das ist der Fachterminus. Und es ist wichtig, auch immer wieder daran zu erinnern. Das ganze zweite Buch des Sutra trägt ja schließlich diesen Titel: Der Weg der Übung. Ziel ist, alles dafür zu tun, optimale Voraussetzungen zu schaffen, um unseren Geist, unser citta, zu befreien und uns damit selbst zu befreien von zu viel Anhaftung, falscher Identifizierung, falschem Wissen, Leiden und Depression.

Wir müssen nicht zum Arzt gehen, um uns zu heilen, wir müssen nicht warten, bis andere uns Freiheit geben oder nehmen, wir haben alle Tools selbst in der Hand. Du musst natürlich — kleiner Einschub — bitte zum Arzt gehen, wenn Du krank bist, ne? Heilen meine ich hier als mentalen Prozess! Bitte nicht falsch verstehen.

Tapas ist eines der stärksten Werkzeuge und auch eine große Herausforderung. Tapas ist uns schon mal begegnet, nämlich ganz am Anfang des 2. Buchs. Da hieß es:

YS 2.1 tapaḥ svādhyāy-eśvarapraṇidhānāni kriyā-yogaḥ 

Also etwas salopp übersetzt: „Bleib dran mit Maß und Hingabe.“

Wer mag, kann sich dazu ja noch mal Teil 26 dieses Podcasts anhören. Tapas, svādhyāya und iśvara praṇidhāna waren die drei Säulen des Kriyā-Yoga. Und ich verrate kein Geheimnis, dass dies auch genau die drei nächsten niyamas sind. 

Komisch, warum wird das hier einfach wiederholt? Vielleicht, weil hier die nötige Ausarbeitung der für Yoga so wichtigen drei niyamas folgt. Vielleicht sieht man hier aber schön, dass die Reihenfolge der Sutras wie überhaupt der ganze Aufbau des Sutra nicht von vornherein klar und gegeben war. Vielmehr — und das trifft übrigens auf fast alle frühen Schriften zu — ist das Sutra wohl erst zusammengestellt worden und enthält deshalb Redundanzen, also Wiederholungen. Es gibt dazu natürlich auch eine große akademische Diskussion.

Ich nutze hier die Kunst der Wiederholung, um mich noch einmal etwas dezidierter mit dem niyama „tapas“ auseinanderzusetzen.

Als Siddharta sich entschloss, die Erleuchtung zu suchen und noch nicht Buddha war, sondern ein verwöhnter Prinz, der von Zuhause abgehauen war, setzte er sich unter einen Baum und meditierte, bis er nur noch aus Haut und Knochen bestand. Die Askese brachte ihm seltsame geistige Erlebnisse, aber keine Freiheit. Er gab den Weg der körperlichen Askese auf. Ich nehme an, mit Rückenschmerzen und genervt davon, dass es nicht klappte. Aus Siddharta wurde Buddha erst, nachdem er sich vom eitlen Weg der Selbstzüchtigung entfernte hatte und erkannte, dass der Weg des Verzichts subtiler und achtsamer und mitfühlender sein musste, als sich selbst zu quälen und zu kasteien.

Wir sind nicht Buddha, aber Buddha war und ist eben auch kein Gott, sondern ein suchender Mensch. 

Der suchende Mensch, der staunt, hinterfragt, sich wundert und nach Lösungen aus den Verstrickungen seiner Existenz sucht. Tapas, meint wörtlich „Brennen für etwas“. Wenn wir für etwas brennen, dann haben wir die erforderliche Power, Dinge durchzuziehen, Widerstände zu überwinden, Großes zu schaffen.

Wir wollen aber ja im Yoga die Dinge zur Ruhe bringen, wir wollen unseren unruhigen Geist einer Diät unterziehen. Wir wollen weniger. Wir üben Verzicht. Loslassen. Rücksicht. Mäßigung. Weniger Gier. Weniger Haben wollen. Weniger Abneigung, weniger Ablenkung.

Durch Askese und Selbstdisziplin im körperlichen Sinne, und so ist es durchaus in diesem Sutra gemeint, wird Trübsinn aufgelöst und Körper und Sinne erhalten übernatürliche Kraft.

Wieder und wieder müssen wir das richtige Maß finden und immer neu aushandeln. Für etwas Brennen, heißt ja auch, viel Energie zu verbrennen. Es kann dazu führen, es zu übertreiben und uns uns zu verbeißen oder gar ideologisch zu verrennen. Das passiert durchaus leicht, wenn wir unsere Leidenschaft und unser Brennen auf den Verzicht, insbesondere auf den körperlichen Verzicht ausrichten.

Irgendwie scheint es wie ein Widerspruch zu sein: wir entscheiden uns, zum Beispiel, wenig zu essen oder gar zu fasten, und brauchen dafür ganz viel Disziplin und Leidenschaft. Denn Verzicht ist eine tapas-Übung. 

Das „weniger“ kostet uns erst mal „viel“. Entbehrung, Energie, Durchhaltevermögen. Manchmal verlieren Menschen das Maß. Dann wird die eigentlich sinnvolle Übung des Verzichts zu einer Quälerei und schon wieder so verbissen, dass das eigentliche Ziel der inneren Freiheit aus dem Blickfeld gerät oder gar verloren geht. Was ist dann gewonnen? Nichts.

Wieder einmal müssen wir als Yogis diese Widersprüche erkennen und gelassen ertragen und uns dann auf uns selbst konzentrieren. Denn wir wissen ja: wir können nicht die anderen erziehen, sondern nur uns selbst. Und dann bedeutet tapas, den Weg, der zu uns passt, zu finden, und diesen dann mit Leidenschaft und Disziplin zu verfolgen. Dann wird unser Körper und unser Geist von Trübsinn befreit, klar und und kraftvoll.

Das ist Yoga.

Teil 54 – Svādhyāya: Lernen, was Dich zu Dir selbst führt – YS 2.44

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Oft gehen wir planlos durchs Leben und nur unsere Alltagsrituale, Gewohnheiten und Verpflichtungen strukturieren den Tag. Wenn wir innehalten und fragen: Macht das eigentlich Sinn, was ich hier so tagein tagaus mache, kann es leicht mal schwierig werden. Svādhyāya, das Selbststudium, hilft dabei, Dir selbst näher zu kommen.

Heute kümmern wir uns um svādhyāya, das Selbststudium. Svādhyāya ist das vierte niyama, also die vierte Disziplin im Verhalten sich selbst gegenüber.

Das erste niyama war ja śauca, die Reinigung und das zweite war saṃtoṣa, die Zufriedenheit. Der dritte Aspekt der niyamas war tapas, das Brennen für etwas, die Leidenschaft, die Askese.

Heute also svādhyāya, das Selbststudium.

Tja, eigentlich ist es logisch. Wenn wir uns um einen klaren und reinen Körper kümmern, Zufriedenheit kultivieren und mit Hingabe üben, dann nehmen wir uns selbst immer bewusster wahr. Der Blick des Yogis und der Yogini geht mehr und mehr nach innen, auf der Suche nach geistiger Ruhe. 

Wenn wir den Blick gelassen nach innen richten, dann kommen wir uns selbst näher. Unserem Wesen, unseren Bedürfnissen unserer Aufgabe. 

YS 2.44 svādhyāyād-iṣṭa-devatā saṁprayogaḥ 

Das Lernen von sich selbst bringt Verbindung zum ersehnten Ideal. 

Svādhyāya bedeutet, sich selbst nahe kommen durch stetes Lernen. Wenn wir das Gehirn mit einem Muskel vergleichen, könnte man auch sagen, dass wir unser Gehirn immer trainieren und bewegen müssen, um gesund, stark und flexibel zu bleiben. 

Oft gehen wir planlos durchs Leben und nur unsere Alltagsrituale, Gewohnheiten und Verpflichtungen strukturieren den Tag. Wenn wir innehalten und fragen: macht das eigentlich Sinn, was ich hier so Tag ein Tag aus mache, kann es leicht mal schwierig werden, oder? Kennst Du das? 

Dann kommt man sich selbst irgendwie fremd vor. Eine kurzfristige Therapie wäre, in den nächsten Aktionismus zu verfallen und sich abzulenken. Funktioniert auch ganz gut, nach meiner Erfahrung. Aber auf Dauer wirst du damit auch nicht zufrieden sein. Svādhyāya bietet Dir einen beständigeren Weg, Selbstfremdheit zu überwinden und Dir immer klarer zu werden über das, was Du brauchst.

Wir haben ja in unterschiedlichen Phasen des Lebens immer wieder mal gelernt. In der Schule, in der Lehre oder im Studium, beim Führerschein, bei einer Umschulung oder in einer Weiterbildung. Das sind ja nicht immer die Sachen, von denen man behaupten würde, dass sie Dich zu Dir selbst führen, ne? Man muss halt auch manchmal was lernen, pauken, sich einhämmern, uhhhh. Das ist nicht gemeint mit Svādhyāya. 

Gemeint ist das Studieren und Lernen, das Sammeln von neuen Erkenntnissen, das Hinterfragen alten oder einfach falsch abgespeichertem Wissens aus innerer Motivation. 

Gemeint ist, zu lernen und zu studieren, was Dich erhebt, Dich erbaut, Dich erfrischt, Dir eine Lampe anmacht, die vorher dunkel war. 

Ich glaube, je älter man wird, desto mehr und besser können wir uns um dieses selbst motivierte Lernen kümmern, denn meist müssen wir nicht mehr so viel schulisches Wissen lernen. 

Wir können uns auf die Themen stürzen, für die wir wirklich brennen. Ob das ein Roman, eine Lehrschrift, ein religiöser Text oder ein wissenschaftliches Thema ist, ist rein Deine Sache. Aber es sollte Dir das Herz öffnen. Es sollte Dich zu Dir selbst führen. 

Wir alle habe schon so etwas erlebt, vielleicht durch einen Vortrag, eine Schrift oder ein Buch.

Wie wäre es mit einer kleinen Übung?

Was war ein Buch, das wirklich den Blick auf Dein Leben geändert hat, das Dich näher zu Dir selbst geführt hat. Okay, nimm Dir ein paar Momente und überleg mal. Los geht’s…..(Pause).

Und, was gefunden in der Kopfkiste?

Jetzt will ich auch verraten, was es bei mir war. Ein Buch, und zwar: „Kein Werden, kein Vergehen. Von dem vietnamesischen Mönch und Gelehrten von Thich Nhat Hanh. Wohl kein Buch hat mir so sehr das Verständnis von Geburt, Leben und Tod neu sortiert und mich sehr friedlich gemacht. 

Ich würde mich freuen, wenn Du diese Folge zum Anlass nähmst, Deinen Gehirnmuskel weiter zu trainieren. Vielleicht mal etwas Neues zu lernen, oder auch ein wichtiges Buch noch einmal zu lesen. Oder natürlich Patañjalis Yogasutra zu studieren. Ach, Moment, das machen wir ja gerade schon gemeinsam. 

Das ist Yoga.

Teil 55 – Āsana: Leicht und stabil zugleich – YS 2.45 – 2.46

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Āsana, die Körperhaltung, meint weit mehr, als den perfekten Herabschauenden Hund. Āsana ist der Versuch, die Harmonie von Körper und Geist körperlich zu manifestieren und den vermeintlichen Widerspruch von Stabilität und Leichtigkeit zu überwinden.

In dieser Folge werfen wir zunächst einen kurzen Blick auf das letzte Niyama, bevor wir uns auf das dritte Glied des achtfachen Wegs stürzen: āsana, die Körperhaltung. Das letzte niyama, also die Übung im Umgang mit sich selbst, wird in YS 2.45 beschrieben: 

YS 2.45 samādhi siddhiḥ-īśvarapraṇidhānāt 

Hingabe an das Göttliche führt zur vollkommenen Erkenntnis 

Īśvara-praṇidhāna — die Hinwendung zum Übergeordneten, sei es Gott, Götter oder ein tiefes Verständnis von größeren Kräften, die außerhalb der eigenen Kontrolle stehen, hat uns bereits in Teil 13 und Teil 26 dieses Podcasts beschäftigt. Vor allem in Teil 13 habe ich dazu schon das gesagt, was ich dazu sagen kann. Wenn Du magst, hör Dir doch noch mal diese Folge an.

Gut, schauen wir uns nun YS 2.46 an:

YS 2.46 sthira-sukham-āsanam 

Die ideale Haltung ist stabil und leicht zugleich.

Sthira-sukham-āsanam ist wohl das bei uns bekannteste Sutra. Viele Yoga-Übende haben es schon gehört ohne gar den Kontext des Sutra zu kennen. In unzähligen Yogaklassen dient dieses Sutra als Grundlage für einführende Worte. Die Yogahaltung sollte kraftvoll und leicht zugleich sein.

„As“heißt eigentlich Sitz. Āsana eigentlich Sitzgrundlage. Ein āsana ist — darin sind sich alle Interpreten des Sutra einig — im weiteren Sinne eine Körperhaltung, die ein Yogi oder eine Yogini einnehmen, sei es für eine längere Weile oder in einer dynamisierten Variante wie z.B. im Sonnengruß, bei der sich verschiedene āsanas harmonisch hintereinander reihen.

Formal gesehen finden wir in diesem Sutra ein weiteres mal eine Vereinigung von vermeintlichen Gegensätzen: Stabilität und Leichtigkeit. Es ist die körperliche Entsprechung zu dem Paar abhyāsa und vairāgya — das Dranbleiben und das Loslassen. Wir wissen schon längst, dass der Zauber des Yoga natürlich in der Überwindung oder zumindest gelassenen Akzeptanz von Widersprüchen liegt. Überwindung insofern, dass wir die Wirkung zweier scheinbar entgegengesetzter Energien so harmonisieren, dass daraus eine neue Qualität entsteht, die uns erhebt, entwickelt und befreit. 

Das ist gar nicht so leicht zu erklären, finde ich. Und es ist auch überhaupt nicht leicht, das über einen längeren Zeitraum zu üben. Aber hey, wir kennen alle dieses Gefühl, oder? Wenn Du in einem Yoga āsana verweilst, atmest, Dein Kraft, Deine Energie und das Pulsieren des Lebens in jeder Faser spürst. Und wenn es dann gelingt, Dich nicht ehrgeizig zu verbeißen, sondern leicht und locker wirst, fast mühelos. Wenn Dein Atem ruhig und tief wird, Dein Geist sich ausrichtet und klar wird. Das kann ein wunderschöner Moment sein oder auch eine wunderschöne Weile. 

Ein Herabschauender Hund, ein Baum, eine Katze, eine Krähe oder … genau …wir geben unserem Geist Bilder vor — oft Tiere — die uns helfen, uns mit unserem ganzen Wesen in ein āsana zu begeben, es nicht nur äußerlich „aufzuführen“ wie auf einer Bühne, sondern es von innen zu entwickeln. 

Für mich als Yogalehrer ist es besonders wichtig, das allen zu vermitteln, die vielleicht denken, sie könnten dieses oder jenes āsana ja gar nicht üben, weil sie dafür zu ungelenkig, zu alt, zu dick, zu kraftlos, zu ängstlich oder was weiß ich wären. Nein. Es gibt keine Yogapolizei, die prüft, wann ein āsana „perfekt“ ist. Jeder und jede kann im Prinzip jedes āsana üben. Den Geist, die Idee eines āsana zu üben in dem Maße wie es einem gegeben ist, geht immer. Es kommt eben nicht (nur) auf das Äußere an, es geht um die Haltung. Dieses Wort impliziert ja auch im Deutschen zwei Bedeutungen: die körperliche Haltung und die innere Haltung. Haltung einnehmen und Haltung haben. Die innere Haltung macht eine Yogaposition zu einem āsana, nicht die äußere. Alles andere ist Gymnastik. 

Natürlich: Es gibt einen riesigen Katalog von Yoga-Asanas, oft mit Sanskritbezeichnungen, was praktisch ist, weil man damit eigentlich überall auf der Welt Yogaklassen besuchen kann. Und es ist auch toll und okay, sich den — ich nenne sie mal — Standardaāsanas zu widmen, sich daran „abzuarbeiten“, sich ranzupirschen, sie für sich zu erobern und dann irgendwann sagen wir mal im Kopfstand zu stehen. Wow. Das ist großartig und schärft Dein Körpergefühl, Dein Vertrauen, Deine Gelassenheit. Diese Qualität kannst Du aber auch in jedem noch so vermeintlich einfachen āsana finden. Dazu bedarf es keines besonderen Körpers. Ein āsana muss sich von der sportlichen Performance, die — seien wir ehrlich — immer eine wichtige Komponente ist, emanzipieren. 

Dann wird es Yoga. 

Teil 56 – Über die Akzeptanz von Widersprüchen – YS 2.47 und 2.48

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Āsana, die körperliche Haltung, spielt in der alltäglichen Yogawelt eine herausragende Rolle. Ist es sinnvoll, Yoga zu „performen“? Ja, vor allem wenn es uns dennoch gelingt, eine kraftvolle Leichtigkeit und Gelassenheit dabei zu entwickeln.

Wir sind weiterhin beim vierten Glied des achtfachen Pfads. Und das vierte Glied ist āsana, die körperliche Haltung. Beziehungsweise, wie ich es verstehe und auch unterrichte, die äußerliche Haltung, die sich aus der inneren Haltung entwickelt. 

Bei uns im Studio liegt ein Buch mit über 1000 Āsana-Bildern und Beschreibungen. Wobei: eher Bilder. Wahnsinnig schöne Menschen in knapper Kleidung mit den hottesten Tattoos und den weißesten Zähnen, die in jeder noch so verknoteten Haltung nur so aus dem immer lachenden Gesicht strahlen. Für die meisten: interessant zum Durchblättern, eher nicht geeignet hingegen als Übungsvorlage. Ist das Yoga? Jetzt denkst du sicher, dass ich sage: Nein! Das ist kein Yoga, oder so. Aber das tue ich nicht. Es ist absolut bewundernswert im athletischen Sinne, sich um komplexe Körperhaltungen, also āsanas zu kümmern und diese — leicht und kraftvoll zugleich — wie das Sutra formuliert, zu üben, zu verfeinern und zu perfektionieren. Warum auch nicht? Yoga heißt ja nicht, anderen vorzuschreiben, was Yoga ist und was nicht mehr! Das wäre eine völlig unbescheidene Anmaßung. 

Alle lieben sthira-sukham-āsanam-Sutra. Hier geht es endlich um das, was zumeist bei uns in den Yogastudios eben erst mal im Vordergrund steht: die körperliche Praxis. 

Die Yogapraxis — das ist übrigens einer von vielen Anglizismen, die sich dank des überwältigenden Einflusses der englischsprachigen Yogaszene etabliert hat. Aus Yoga-Practice wird Yoga-Praxis. Es bedeutet aber einfach Yoga-Ausübung, eben Yoga-Training. 

Kämpfen, Stöhnen, Schwitzen, kann man alles erleben in Yogaklassen. Ich will das nicht verteufeln, wir müssen uns durchaus auch geistig wie körperlich provozieren, um zu zerstören und wieder zu schöpfen. Das ist ein wichtiger Teil der physischen Praxis. Das ist kein Widerspruch zu Yoga. Aber es kann immer nur die eine Seite der Medaille sein. Nicht selten, viele werden das kennen, gelingt etwas erst dann, wenn man das Kämpfen überwindet zu Gunsten einer kraftvollen Leichtigkeit.

Gute Yogalehrer:innen werden es natürlich nicht dabei belassen, sondern ihre Übenden heranführen an den Weg, der von innen nach außen führt und nicht von außen nach innen. 

Patañjali ist das klar, deswegen gibt er uns in YS 2.47 eine präzisere Anleitung:

YS 2.47 prayatna-śaithilya-ananta-samāpatti-bhyām

Wesentlich in dieser Praxis ist sowohl ein gleichmäßiger, weicher Atem wie auch die Konzentration auf das schlangenhafte Zischen des Atems.

Wenn wir unseren Atem nicht mehr folgen können, so würde ich es mal ausdrücken, wenn uns also der Atem davon läuft und wir Energie verlieren, dann kommen wir raus aus der Idee eines āsana. Dann sind wir abgelenkt und unkonzentriert und verbeißen uns in die körperliche Performance. Also ist der Rat, über den gleichmäßigen, weichen Atem die kraftvolle Leichtigkeit zu finden. 

Denn, so

YS 2.48 tato dvaṅdva-an-abhighātaḥ

Daraus entsteht Sieg über die Dualität der physischen Welt. 

Die Überwindung oder Akzeptanz von Widersprüchen ist das, was wir suchen. Die Dualität der physischen Welt aufzulösen. Diese Idee strahlt weit hinaus über die einzelne Yoga-Stunde. Gelassene Kraft oder kraftvolle Leichtigkeit macht jeden menschlichen Körper, jeden Menschen, zu einer authentischen, glaubwürdigen, milden und liebevollen Erscheinung, deren Nähe man sucht. Ist das nicht schön? 

Das ist Yoga.

Teil 57 – Energiearbeit und Atemkontrolle – YS 2.49

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Prāṇa, die Energie und prāṇāyāma, die Lenkung der Atmung/Energie ist das Herz des Yogas. Diese Lenkung der Energie ist so mühsam und erfordert so viel Aufmerksamkeit, dass auch eine einfache physische Praxis eine wahre Herausforderung darstellen kann, wenn Du Dich auf diesen Aspekt konzentrierst. Prāṇāyāma bedeutet, dass die Atmung mehr dem Bewusstsein hinterher rennt, sondern das Bewusstsein der Atmung folgt.

Willkommen im Zentrum des Yoga. Wir sind auf dem achtfachen Weg des Yoga schon ein ganzes Stück vorangekommen, oder? Yama, gut handeln, niyama, sich selbst entwickeln, und āsana, den Körper gesund halten, bilden nun die Grundlage für das vierte Glied: prāṇāyāma, gut atmen, oder auch Energiearbeit, Atemdisziplin.

YS 2.49 tasmin sati śvāsa-praśvāsyor-gati-vicchedaḥ prāṇāyāmaḥ 

Nachdem eine stabile Körperhaltung erreicht ist, folgt die Energiearbeit, bei der der Fluss des üblichen Atems ausgedehnt wird.

In prāṇāyāma steckt das Wort prāṇa. Schon mal gehört, oder? Energie, Atem, Spirit. 

Yoga ist eine Energielehre. 

Das dürfen wir ruhig wörtlich verstehen. Wir bestehen ja aus Energie. Energie kann man nicht neu schaffen oder verlieren. Energie — das sagen die Gesetze der Physik — kann nur umgewandelt werden. Die Summe der kosmischen Energie bleibt immer dieselbe. Das ist der Energie-Erhaltungssatz und keine Esoterik. 

Der Mensch ist Teil des Kosmos. Er ist Teil der kosmischen Energie. Alles ist Energie. Die alten Yogis haben durch Ihr Beobachten und Ihr Üben verstanden, dass wir uns um unseren Energiehaushalt kümmern müssen, um Herr und Herrin unseres Glücks, unserer Gesundheit und unserer inneren Freiheit zu werden. 

Prāṇa ist die gesamte Energie, die durch uns durchströmt. Prāṇa ist das Zentrum des Yoga, der Nukleus. Und es geht bei prāṇa keinesfalls nur um Atem, wenngleich — wie wir noch sehen werden — die Atmung ein großer Hebel zur Lenkung von Energien darstellt. 

Ohne prāṇa und daraus abgeleitet prāṇāyāma, den Umgang mit der Energie, ist Yoga nicht Yoga. Oder positiv formuliert: Aus allem, was Du tust, wird Yoga, wenn Du dabei Deine Energien gut lenkst. Denn das Wort prāṇa bedeutet wörtlich die genaue Lenkung, die genaue Lenkung der Energie. Aus diesem Verständnis heraus sind im Yoga viele Konzepte und Übungen entwickelt worden, um „Energie“, die uns durchströmt, etwas griffiger zu machen und ihr Worte zu geben. So gibt es zahlreiche Übungen, die uns erleben lassen, welche Kontrolle wir über unsere Energie ausüben können (oder auch am Ende eben nicht). Es gibt das Konzept der nadis, der vermeintlichen Energiekanäle, der koshas, der unterschiedlichen Energiehüllen, und, und, und. Wir müssen diese Konzepte — wie immer — nicht wörtlich verstehen, sie sind vielmehr dazu da, um besser zu beschreiben und besser zu spüren und auch besser darüber reden zu können. 

Was heißt das konkret? 

Ok, mal was super Alltägliches: Du gehst im Haus von einem Zimmer in ein anderes, in der Absicht, irgendwas zu holen. Irgendwas lenkt Dich ab. Du läufst los, stehst im anderen Zimmer und fragst Dich: Was wollte ich jetzt noch mal holen? Warum bin ich jetzt hier? Kennst Du, oder? Nicht schlimm. Es ist kein Zufall, dass wir das am besten wieder lösen können, in dem wir körperlich an den Ursprungsort zurückgehen, und oft liegen da noch unsere Gedanken, im übertragenen Sinne, und wir wissen wieder wieder, was wir wollten. Auf dem Weg von Zimmer A in Zimmer B haben wir unsere Gedankenenergie liegen lassen. Unsere physischen, psychischen und – wie die Yogis sagen würden feinstofflichen — Systeme nicht synchron, nicht gut geführt. 

Absicht, Gedanken, Körper bewegen sich auf unterschiedlichen Ebenen. Okay, zugegeben, sehr banal. Aber Ihr wisst ja, ich versuche, Yoga immer zu verknüpfen mit dem, was wir alle jeden Tag erleben können. 

Es geht also um Kontrolle. Und Wahrnehmung. Im körperlichen Yogatraining, beim āsana-Üben ist die Lenkung der Energie, sagen wir es ruhig: die Manipulation der Energie derjenige Prozess, der uns am meisten Aufmerksamkeit und auch Mühe abverlangt. Nicht nur, in einem āsana zu stehen, sondern alle unsere energetischen Systeme zu synchronisieren und zu harmonisieren. So wie gerade im Alltagsbeispiel passiert es nämlich leicht, dass wir völlig auseinander fallen beim Yoga. Unsere Gedanken sind irgendwo, nur nicht beim Yoga, unseren Atem haben wir schon lang vergessen, unsere Gefühle sind vielleicht aufgewühlt oder genervt oder gelangweilt, unser Körper zu angestrengt oder zu schlaff. Von außen sieht es irgend wie aus wie Yoga, aber Dein prāṇa ist voll im Arsch. 

Diese Lenkung der Energie ist so mühsam und erfordert so viel Aufmerksamkeit, dass auch eine einfache physische Praxis eine wahre Herausforderung darstellen kann, wenn du Dich auf diesen Aspekt konzentrierst.

Und nun zur Atmung:

Die Atmung ist einfach der stärkste Hebel, den wir in der Hand halten, um diese Energiearbeit zu betreiben. Prāṇāyāma meint wörtlich die Ausdehnung von prāṇa. Gemeint ist die Atemtechnik des Yoga, auf die ich noch vertiefter in der nächsten Folge eingehen werde. 

Die Atmung ist einerseits tief verwurzelt in unseren autonomen Systemen; das Atemzentrum sitzt sogar zum größten Teil im verlängerten Rückenmark, in der so genannten „Medulla oblongata“. Sie funktioniert sogar dann noch, wenn sonst schon alles halb tot ist. Die Aufnahme von Sauerstoff, seine Umwandlung in Energie, und schließlich die Ausatmung von CO2 — das ist der Basisprozess des Lebens. Zugleich ist die Atmung aber auch eben derjenige Hebel, den wir willkürlich, also mit Absicht, steuern können. Ein mächtiger Hebel. Wir können Atmung beobachten, verlängern, verkürzen und bis zu einem gewissen Grad gar anhalten.

Die Atmung ist damit die Brücke, die zwischen den autonomen, unwillkürlichen Körperfunktionen und den bewusst steuerbaren, willkürlichen Systemen gebaut ist. Und wie es sich für eine Brücke gehört, können wir auch diesen Übergang in beide Richtungen laufen. Wir können uns treiben lassen von den tiefen Emotionen und die Atmung rennt hinterher. Wenn wir ungeduldig sind, wird unsere Atmung nervös, wenn wir wütend sind, wird unkontrolliert, wenn wir entspannen, wird sie tiefer. Dann folgt die Atmung der Psyche. 

Andersherum wird es Yoga. Wenn wir unsere Atmung beherrschen, beherrschen wir unsere Sinne und unsere Emotionen. Dann folgt die Atmung nicht mehr dem Bewusstsein, sondern das Bewusstsein folgt der Atmung. 

Das ist Yoga.

Teil 58 – Die geheime Tür zum nächsten Level – YS 2.50 – 2.51

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Prāṇāyāma, die Technik der Atemlenkung bietet Dir viele Möglichkeiten. Das ist wie ein DJ-Pult bei einer guten Party: Je nach dem, welche Regler und Knöpfe zu bedienst, treibst Du den Sound an, bremst ihn oder lässt ihn fließen. 

Wenn unsere Energie, unser prāṇa, einfach alle unsere Energiesysteme in der Balance sind, dann befinden wir uns in einem sehr schönen und ausgeglichenen Zustand. Prāṇāyāma ist yogische Disziplin, über Atemübungen positive Rückwirkungen auf unseren Geist zu erzielen. 

Wir erinnern uns an den Anfang des Yoga-Sutra: yogascitta-vṛttinirodah. 

Yoga bedeutet das Zur-Ruhe-kommen des Geistes. Prāṇāyāma ist ein Weg zu dieser Ruhe im Geist. 

Vielleicht kennt Ihr diverse prāṇāyāma-Techniken und habt damit schon experimentiert oder gar die ein oder andere Technik regelmäßig kultiviert. 

Im Sutra bei Patañjali wird wie gewohnt das Wesentliche zur Technik beschrieben und das steht in Yoga-Sutra 2.50:

YS 2.50 bāhya-ābhyantara-sthambha vṛttiḥ deśa-kāla-sankhyābhiḥ paridṛṣṭo dīrgha-sūkṣmaḥ

Ausatmung, Einatmung, Anhalten, Atem-Technik, Atemlänge und Anzahl der Atemzüge müssen über lange Zeit sehr genau reguliert werden.

Prāṇāyāma ist wie eine gute Party mit super DJ und ordentlichem Sound. 

Ok, werfen wir mal einen Blick auf das DJ Pult und schauen, was wir alles mit den vielen Reglern und Knöpfen anfangen können: Die Ausatmung ist der Regler, um unser gesamtes vegetatives Nervensystem runterzufahren. Man würde ja jemanden, der super aufgeregt ist, kaum raten, mal mehrfach kräftig einzuatmen, ne? Erst mal ausatmen, dann sieht man weiter. 

Die Einatmung im Gegenzug ist der Regler für unseren Sympathikus-Nerv und das heißt: Action, Beats hochfahren. Oder zumindest Vorbereitung auf Action. 

Dann die Atempause. Das stärkste Werkzeug! Das ist wie der Break beim Tanzen, der Moment, bei dem die Musik innehält. Du weißt, es hört nicht auf, es geht gleich weiter. 

Die Atem-Technik hat besonderen Einfluss auf die Energie, die Vibes, sozusagen. Also z.B. in welches Zentrum Du atmest, den Bauch, den Brustkorb, die Flankenatmung oder alles zusammen. 

Die Atemlänge ist ein bisschen wie die Lautstärke: Atmest Du verhalten und kurz oder gibst Du Gas und drehst das Volume auf? Und wie lange läuft es? Wie ist der Rhythmus? Four on the floor. 

Es ist wichtig zu verstehen, dass kleinste Änderungen an unserem Mischpult große Wirkung entfalten können. Huch, ich glaube, ich muss mal wieder auf ‘ne richtig gute Party! 

Dieses Sutra 2.50 ist, wenn man so will, der gemeinsame Nenner aller Atemübungen, die man sich so vorstellen kann. Historisch betrachtet kamen die üblichen Paranayama-Übungen, die die meisten von uns kennen, nämlich aus späterer Zeit. Viele von ihnen stehen in der Hathayoga Pradipika, einer praktischen Yoga-Philosophieschrift, die aber locker 500 – 1000 Jahre nach dem Yoga-Sutra entstanden ist. 

Wichtig ist mir zu betonen, dass auch die Atemübungen wie alle Übungen des Yoga kein Selbstzweck sind, kein l’art pour l’art. Das Üben, also vairāgya, ist immer nur der Weg zum Loslassen, zu abhaysa. Wir manipulieren, lenken und steuern, um am Ende das Manipulieren, Lenken und Steuern zu überwinden. 

Deshalb heißt es auch in Sutra 2.51:

YS 2.51 bāhya-ābhyantara viṣaya-akṣepī caturthaḥ

Die vierte Technik des Paranayama verwandelt schließlich das Anhalten des Atems nach Aus- oder Einatmung. 

Es ist nicht ganz klar, bzw. es gibt verschiedene Interpretationen, was die vierte Technik bedeuten soll. Aber das ist gar nicht so entscheidend. Wichtig in diesem Sutra ist die Erinnerung, dass es um mehr geht, als um Kontrolle. Über das mächtige Instrument der Atemverhaltung, also des Anhalten des Atems, finden wir die Lücke im Lebensfluss, die geheime Tür, durch die wir durchschlüpfen können, um das nächste Level zu erreichen.

Wir überwinden die bewusste Übung und Wahrnehmung. Aus- und Einatmung sind so entwickelt, dass wir unseren Geist vorbereitet haben auf die nächsten Schritte zur Versenkung. 

Am Anfang dieser Folge habe ich ja bereits an yogaś-citta-vṛtti-nirodhaḥ erinnert. Yoga bedeutet das Zur-Ruhe-kommen des Geistes. Deinen Geist zur Ruhe zu bringen, die Abstände der Geistbewegungen immer weiter zu vergrößern, findet in prāṇāyāma seine physische Entsprechung: Indem wir die Atemverhaltung kultivieren, wird unsere gesamte Atmung verwandelt. Geistbewegungen und Atembewegungen kommen zur Ruhe, und damit der Mensch in seiner gesamten Komplexität. 

Das ist Yoga.

Teil 59 – Rückzug der Sinne: Pratyahara – YS 2.52 – 2.55

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Prātyahāra, der Rückzug der Sinne, ist vielleicht das, was weniger geübte Yogis erreichen können, ohne die An- und Einbindung in das „normale“ Leben zu lösen. Yoga ist eine Diät, eine Diät für den Geist und prātyahāra ist die Übung dazu.

In der letzten Folge haben wir uns um den zentralen Dreh- und Angelpunkt des Yoga gekümmert: die Lenkung der Energien, vor allem durch Atemtechnik – also prāṇāyāma. Man kann diesen Aspekt des Yoga gar nicht genug wertschätzen: die Kultivierung und Lenkung der Atmung am Übergang zwischen dem, was wir willentlich steuern können und dem, was autonom und unwillkürlich passiert.

Da es ja um yogacitta-vṛttinirodah, also das Zur-Ruhe-Kommen des Geistes geht, sind wir hier im Zentrum des Yoga angekommen. Denn: was ist denn unser Bewusstsein? Was ist denn das denkende, interpretierende, steuernde Gehirn? Unsere Schaltzentrale, unser Unruhestifter, unser Bewusstseinswerder? Da liegt es gut geschützt von umgebenden Knochen, und es denkt und denkt, Tag ein Tag aus. Hoffentlich 🙂 Und doch hilflos und in einer Blackbox. Unser Geist wäre dumm, würde er nicht permanent Nahrung bekommen, gefüttert werden von den Milliarden Eindrücken unserer Sinnesorgane, denen wir uns aussetzen. Wir wollen ja nicht dumm sterben. Das zur-Ruhe-kommen des Geistes heißt ja nicht, dieses Eingebunden-Sein in die Welt komplett aufzulösen! 

Was wir im Yoga anstreben, ist aber, das Maß an Ablenkung und Identifizierung zu vermindern. Yoga, das ist eine Diät für den Geist — eine Übung in Weniger. Die Atmung ist die Tür, durch die wir gehen können. Und hinter dieser Tür liegt der ruhige Geist:

YS 2.52 tataḥ kṣīyate prakāśa-āvaraṇam

Dann verschwindet der Schleier vom Licht des wahren Selbst. 

YS 2.53 dhāraṇāsu ca yogyatā manasaḥ 

Und es entsteht die Fähigkeit zur Konzentration des Denkens.

Diese beiden Sutras fassen eigentlich noch mal zusammen, was wir im gesamten Buch 2 studiert haben. Es ist das Versprechen nach Klarheit, nach Beseitigung von Unwissen, nach klarer Sicht auf die Dinge. Auf das Verschwinden des Schleiers, der unsere Selbsterkenntnis und die Kenntnis vom Universum eintrübt. Dann können wir wirklich Denken, das ist die nächste Stufe auf dem achtfachen Weg und diese wird uns im YS 2.54 vorgestellt:

YS 2.54 svaviṣaya-asaṁprayoge cittasya svarūpānukāra-iv-endriyāṇāṁ pratyāhāraḥ 

Wenn die Sinne sich von den äußeren Objekten zurückziehen und damit sozusagen die Wesensform des Bewusstseins nachahmen, so heißt dieser Zustand Prātyahāra, das „Zurückhalten der Sinne“.

Ne? Hier sehen wir wieder, was ich vorher erwähnte: Rückzug, Retreat. Im wahrsten Sinne des Wortes. Prātyahāra ist vielleicht das, was weniger geübte Yogis erreichen können. So wie ich z.B mit meinem ganzen Eingebunden-sein in Job, Familie, gesellschaftliches Engagement, Freizeit, Interessen, Konflikte, das pralle Leben eben. Ich lebe nicht in einer Höhle und bin kein Eremit. Und ehrlich? Will ich auch gar nicht sein. Du auch nicht, oder? Und Deine Yogalehrer und Yogalehrerinnen wahrscheinlich auch nicht. 

ABER: die Fähigkeit zum Aufräumen im Kopf, die Fähigkeit zur Konzentration des Denkens, des Ausrichten des Geistes, das sich-nicht-Verlieren in den Emotionen, das ist doch genau das, was wir dringender denn je in dieser Welt brauchen, oder nicht? Wir üben diese Yoga-Techniken für die Welt, in der wir uns befinden! Prātyahāra kann man als Yogatechnik verstehen, aber auch als Haltung. 

Ich will einmal ein sehr pragmatisches Beispiel geben, dass es sich bei prātyahāra durchaus auch um etwas Alltägliches handeln kann. Ich vergleiche das mit einem Aufmerksamkeits-Tunnel. Kannst Du Dir auch schlecht Namen merken, wenn du in einer Gruppe bist und sich Dir andere Leute vorstellen? „Hi, ich bin Lisa, ach, und das ist meine Freundin Bettina. Hi, ich bin Peter. Schön, Dich kennenzulernen. Ja, sorry, nicht böse sein, wenn ich mir nicht alle Namen merke. Ah, kein Problem, alles gut, geht mir auch so“. 

Gespräche dieser Art kennst Du, oder? Wenn Du beim nächsten mal in so einer Situation bist, denk an diese Podcastfolge und probier das: Jemand stellt sich Dir gleich vor und dann blendest Du für diesen Moment alles aus und konzentrierst Dich wie einem Tunnel auf diesen anderen wunderbaren Menschen und hörst wirklich zu. Richte Deinen abgelenkten Geist einfach diese zwei Sekunden Hundert Prozent auf diesen Moment aus. Volle Pulle. Konzentrier Dich. Du wirst Dich wundern, wie gut das funktioniert!

Zugegeben, ein Alltagsbeispiel. Aber hey! Alltag ist bei uns 99 Prozent, oder? Kann man ja was für tun.

Klar. Wenn wir das Sutra hier strenger auslegen, geht es natürlich nicht darum, sondern um das Halten dieses Zustands der Konzentration, um einen meditativen Prozess. Aber das eine schließt das andere ja nicht aus. YS 2.55, und damit das letzte Sutra des zweiten Buches, macht aber klar, was Phase ist:

YS 2.55 tataḥ paramā-vaśyatā indriyāṇām 

So entsteht die höchste Kontrolle über die Sinne.

Die letzten vier Sutras des zweiten Buches fassen also noch mal zusammen, richten den Blick auf prātyahāra und die Beherrschung der Sinne, um uns vorzubereiten auf die nächsten Stufen, die dann im dritten Kapitel beginnen. Da wird es dann um die Kräfte und Ergebnisse gehen, manche sagen auch übernatürlichen Kräfte, die sich dann ergeben. Na, wir werden mal sehen, was es damit auf sich hat …

Bist Du dabei?

Kapitel 3: Vibhūti Pāda

Teil 60 – Das dritte Buch – über die Ergebnisse – YS 3.1 – 3.4

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Das dritte Buch des Yogasutra dreht sich um die letzten Glieder des 8-fachen Pfades und um die Ergebnisse und Fähigkeiten, die Du mit Meditation erreichen kannst. Ein Überblick.

Heute beginnen wir mit dem dritten Kapitel des Yoga-Sutra des Patañjali und diese Folge ist der Trailer dazu. Das dritte Kapitel trägt den Titel „Vibūthi Pāda“ — über die Ergebnisse. Über die ungewöhnlichen Fähigkeiten. Fähigkeiten, die wir erwerben, wenn wir uns auf den Yogaweg begeben haben, ausreichend, ausdauernd, aber auch gelassen üben.

Man könnte auch etwas salopp sagen: Wir üben Gelassenheit ohne auf Ergebnisse zu spekulieren und dann kommen sie doch. Wir wollen, wir wollen, wir wollen … was eigentlich? 

Wir wollen gelassen werden, ruhig im Geist, bescheiden, durchlässig, wahrhaftig, gewaltfrei, ach so, und auch ein bisschen gelenkiger und schmerzfreier wäre gut. Und schlanker, genau. Und erleuchteter. Puh, ein ganz schöner Overload, oder?

Hatte ich erwähnt, das Yoga eine Diät für den Geist ist? Ein Weniger. Auch ein weniger Wollen? Eine Übung in emotionaler Subtraktion? Wie passt das zusammen. Kompliziert. 

Es gibt Dinge, die wir üben können. Und es gibt Dinge, die sich der Übung entziehen. Üben kann auch zu Frust führen. Wenn wir das Angestrebte durch die viele Übung doch nicht erreichen. Dann müssen wir aufhören, uns festzubeißen und loslassen. Das sind Erfahrungen, die alle Menschen machen. Egal, ob im Job, beim Üben eines Yoga-Asanas, beim Lernen eines Musikinstruments oder einer Sprache, bei der nächsten Diät mit anschließendem Jo-Jo Effekt, beim Kochen, egal. Überall. 

Kann man dem entkommen? Nein. Doch. Ohhh. 

Ich muss den Satz von vorhin erweitern: Es gibt Dinge, die wir üben können. Und es gibt Dinge, die sich der Übung entziehen, und es gibt Dinge, die dann passieren, wenn wir über dieses Wollen-Nichtwollen-Dilemma hinauskommen. 

Wenn wir beginnen zu verstehen und zu wissen, jenseits des aktiven, bewertenden und interpretierenden Geistes. 

Und wieder und wieder: yogaś-citta-vṛtti-nirodhaḥ — Yoga ist das zur Ruhe kommen des Geistes.

Wenn wir durchdrungen sind von etwas, was für ein schönes Wort. Wenn wir also erfüllt sind von etwas. Wenn es passiert. Wenn wir frei werden von dem Hamsterrad. Wenn es flowt, wenn Du im Tunnel bist, wenn die Dinge verschmelzen. When the magic happens. Dann überschreiten wir die Grenze des aktiven Tuns. 

Das dritte Kapitel handelt im Wesentlichen von dieser subtilen Ebene. Die Ebene der Versenkung, der Meditation. Und das Wort, das wir hier betrachten müssen, lautet „saṃyama“. Saṃyama ist der zusammenfassende Begriff für die drei letzten Glieder des achtfachen Wegs. Das sind 

dhāraṇā, also die Fähigkeit, sich länger auf eine Sache auszurichten,
dhyāna, ein Zustand dauerhafter Stille im Geist,
und schließlich samādhi, die vollkommene Loslösung.

Die ersten fünf Glieder sind mehr äußerlich, gröber, brauchen noch viel Beziehung nach außen, setzen sich mit der Welt auseinander, mit dem Verhalten in der Welt, dem eigenen Körper, und dem Atem und der Fähigkeit, sich zurückzuziehen. 

Die letzten drei Glieder aber sind schon die Ergebnisse dieser „Vorarbeiten“ – das klingt jetzt despektierlicher, als es gemeint ist. Ich wäre froh, wenn ich große Teile meines Lebens schon allein anhand der ersten fünf Glieder ausrichten könnte. Aber es ist schon klar: Wir können noch viel tiefer gehen und subtiler werden. Dieses Tiefer-gehen und Subtiler-werden finden wir in der Welt der Meditation. Das ist das Kernthema des dritten Kapitels. Wir werden sehen, wie kreativ, originell und pragmatisch diese Welt aussehen kann. 

Zum Schluss dieser Folge schauen wir uns die letzten drei, hier schon vorgestellten Glieder des achtfachen Wegs im Original an:

YS 3.1 eśa-bandhaḥ cittasya dhāraṇā 

Wenn sich Citta, das meinende Selbst, mit einem Thema oder Objekt verbindet, entsteht eine nachhaltige Konzentrationsfähigkeit.

YS 3.2 tatra pratyaya-ikatānatā dhyānam

Wenn dann die Gedanken so gebündelt fließen, entsteht schließlich Versenkung.

YS 3.3 tadeva-artha-mātra-nirbhāsaṁ svarūpa-śūnyam-iva-samādhiḥ 

Letztendlich leuchtet nur noch das Thema der Ausrichtung für sich, ohne Beeinflussung durch die betrachtende Person, und es entsteht Erkenntnis.

YS 3.4 trayam-ekatra saṁyamaḥ

Diese drei Zustände zusammen sind die Bestandteile von saṁyama, der Meditation. 

Und das wars für heute. 

Teil 61 – Magischer Quatsch? – YS 3.5 – 3.13

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Es geht tiefer und tiefer mit der Versenkung und der Ausrichtung des Geistes, bis es irgendwann nicht einmal mehr eines Objekts der Konzentration bedarf. Diese subtilen Stufen der Versenkung dürften sich den wenigsten Menschen erschließen. Und dennoch können wir das magische Versprechen dahinter bewundern.

Ui ui ui, heute werde ich mich und Euch fordern. 

In der letzten Folge habe ich den Dreiklang von saṃyama vorgestellt. Saṃyama, das sind die letzten drei Glieder des 8-fachen Wegs: dhāraṇā, dhyāna und samādhi. Man könnte auch sagen: die Welt der Meditation, der Weg nach innen. Waren die ersten fünf Glieder noch stärker nach außen gerichtet und daher auch im Teil 2 des Yoga-Sutras, dem Kapitel über die Übung, repräsentiert, bilden die letzten drei Glieder des achtfachen Wegs den Beginn des vierten Kapitels „über die Ergebnisse“. Denn, so YS 3.5:

YS 3.5 tajjayāt prajñālokaḥ 

Aus der Meisterschaft dieser Meditation entsteht vollkommenes Wissen von allem Wahrnehmbaren.

Und weiter:

YS 3.6 tasya bhūmiṣu viniyogaḥ 

Die Umsetzung dieser Meditation erfolgt in den drei genannten aufeinander folgenden Bereichen. 

YS 3.7 trayam-antarangaṁ pūrvebhyaḥ

Im Vergleich mit den vorherigen Stufen sind diese drei Stufen die inneren Glieder des achtfachen  Weges. 

Was hat es nun mit dhāraṇā, dhyāna und samādhi auf sic?. Ist das was für Dich, für mich? Können wir uns einlassen auf diese tiefere Ebene? Auf den Switch von außen nach innen?

Damit ist ja nicht gemeint, sich mal fünf Minuten ruhig hinzusetzen und ein bisschen zu atmen. Oder doch? Sind die Ergebnisse der Meditation, der Versenkung, ein exklusives Gut für Superyogis?

Können wir uns einlassen auf die Radikalität, die das Sutra hier postuliert? Die Radikalität besteht darin, alle Bezüge und Prägungen unseres Citta zu durchbrechen und uns durch die reine und ungetrübte Schau mit der wahren Natur zu verbinden. In dhāraṇā,so die Idee, verweilt unsere Konzentration konstant auf einem Objekt, in dhyāna werden die Grenzen zwischen dem Ich und dem anderen zunehmend aufgelöst, und in samādhi verweilt unser wahres Selbst in stiller Ruhe. Echt jetzt. Tu doch nicht so erleuchtet!

Aber, lieber Yogi, liebe Yogini, bild‘ Dir nichts ein, denn damit ist es noch nicht genug: wie eine Atomphysikerin, die immer weiter in die meditative Tiefe reist, geht es weiter:

YS 3.8: tadapi bahiraṅgaṁ nirbījasya

Selbst diese drei inneren Glieder sind nur die äußeren Aspekte im Vergleich mit der ultimativen keimlosen Versenkung.

Also: auch die drei inneren Stufen sind noch äußerlich, denn sie bedürfen noch eines Objekts, eines Samens (bīja), von dem sich unser citta ernährt. Doch auch das ist nur die nächste Hülle der Zwiebel, die wir noch wegnehmen müssen. Okay, ich muss es jetzt tun, der Vollständigkeit halber, und Euch mit den nächsten fünf Sutras malträtieren:

YS 3.9 vyutthāna-nirodha-saṁskārayoḥ abhibhava-prādurbhāvau nirodhakṣaṇa cittānvayo nirodha-pariṇāmaḥ

Wenn die unterbewussten Eindrücke des erregten Wachzustands und des Ruhezustands abwechselnd auftreten und das Bewusstsein sich jeden Augenblick mit dem Ruhezustand verbindet, geschieht „nirodha-pariṇāma“ die Verwandlung in den Ruhestand.

YS 3.10 tasya praśānta-vāhitā saṁskārat

Der ruhige Fluss dieses Übergangs zur Stille erzeugt eine neue Prägung.

YS 3.11 sarvārthatā ekāgrātayoḥ kṣayodayau cittasya samādhi-pariṇāmaḥ

Das Aufhören der Zerstreuung des Geistes durch alle Arten von Objekten und das Erwachen einer einer einzigen Ausrichtung wird „samadhi parinama“ – Verwandlung der Versenkung – genannt.

YS 3.12 tataḥ punaḥ śātoditau tulya-pratyayau cittasya-ikāgratā-pariṇāmaḥ

Dann führt die Balance zwischen friedvollem Zustand und der Erwachen der Konzentration wieder zu einer Verwandlung des Bewusstseins – das ist „ekāgratā-pariṇāma“.

und… 

YS 3.13 etena bhūtendriyeṣu dharma-lakṣaṇa-avasthā pariṇāmā vyākhyātāḥ 

Damit sind die drei Verwandlungen in Körper und Sinnesorganen, nämlich der Beschaffenheit, des Merkmals und des Zustands, erklärt.

So, jetzt brauch ich erst mal einen Schluck Wasser, Moment.

Ja, was machen wir jetzt damit, Leute. 

Ich fasse es mal zusammen: Wenn wir die vollständige Ruhe im Geist erreichen, bewegt sich dieser dennoch zwischen einem Zustand der Aktivität und der Ruhe. Das erzeugt eine neue Qualität und ermöglicht uns immer besser eine Balance zwischen Aktivität und Ruhe des Bewusstseins zu etablieren. Dann folgt die nächste Verwandlung zu einer Konzentration, die keine Schwankungen mehr hat. Dann haben wir den Nukleus, den Kern der Dinge erreicht.

Ich will ganz ehrlich mit Euch sein: 

Folgen kann ich hier nur noch mit meinem Intellekt, das heißt. ich kann erkenntnistheoretisch diese weiteren Abstufungen nachvollziehen, aber wovon genau Patañjali hier erfahrungsbezogen spricht, erschließt sich mir nicht mehr. 

Meine Frau sagt: ja, das ist vielleicht auch Quatsch. 

Ich sage: magischer Quatsch. 

Und dient der Abgrenzung, schließlich wollen wir nicht jeden in den magischen Tempel der Erleuchtung eintreten lassen, oder?

Quellenkritisch dürfen wir nicht vergessen, dass wir es mit einem Text aus der elitären Priesterkaste zu tun haben, also einer Kaste, die ihre Macht zu sichern sucht durch Aus- und Abgrenzung, wie alle Priester aller Systeme dieser Welt. 

Und irgendwann bohren wir so tief, dass die Frage nach den Unterscheidungsmerkmalen nur noch eine akademische Frage ist. Und Du hast das nicht verstanden? Na, Du bist eben noch nicht so weit!

Michael, Du bist nur sauer, dass Du hier nicht mehr so richtig folgen kannst. Ja, kann sein.

Aus der Chemie und Physik lernen wir heute: Je weiter wir die Materie, die Teilchen, die Atome aufspalten, desto größer wird das Nichts, die Leere, die Ruhe, in die wir schauen. 

Vielleicht ist es so auch mit diesen letzten Stufen der radikalen Verwandlung vom Novizen zum befreiten Yogi: Es geht letztlich darum zu erkennen, dass hinter dem nächsten Etwas nur noch mehr Nichts ist. Ich weiß es nicht. 

Das ist Yoga.

Teil 62 – Kein Werden, kein Vergehen – YS 3.14 -3.16

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Es gibt keinen Stillstand; alles ist dem Wandel unterworfen. Auch das, was vermeintlich stabil und dauerhaft ist. Wie können wir unsere Konzentration an etwas festhalten, was sich permanent verändert, ohne zu verzweifeln?

Also: die Erleuchtung lässt mir doch einfach keine Ruhe! Ha, finde den Fehler!

In der letzten Folge bin auf die insgesamt doch etwas verwirrenden und auch ein bisschen frustrierenden Windungen der verschiedenen Stufen der Erleuchtung eingegangen. Ich musste mir eingestehen, dass ich nicht erleuchtet genug bin, um diesen verfeinerten Konzepten zu folgen. Es ist auch kompliziert, diese Teile des Sutra zu verstehen. Das sage nicht nur ich, sondern auch viel beachtete Forscher. Wir lassen uns aber natürlich gar nicht davon entmutigen und machen mit gelassener Heiterkeit weiter.

Um es noch mal runterzubrechen: saṃyama, dass waren die drei letzten inneren Glieder des achtfachen Wegs. Dhāraṇā, also die Fähigkeit, sich länger auf eine Sache auszurichten, dhyāna ein Zustand dauerhafter Stille im Geist und schließlich samādhi, die vollkommene Loslösung. Halten wir der Einfachheit halber fest, dass es bei saṃyama um die Sammlung des Geistes geht. 

Saṃyama ist Meditation. Meditation ist saṃyama. Und während wir Meditation üben, sind unser Bewusstsein und die Dinge, auf die wir uns konzentrieren, verschiedenen Wandlungen und Qualitäten unterworfen. Wenn wir unsere Sinne verfeinern, können wir die subtilen Verwandlungen unseres Bewusstseins beobachten. Nichts steht still, alles ist fluide, unser Bewusstsein bewegt sich und alles, was wir wahrnehmen, verändert sich. Es gibt keinen Stillstand; alles ist dem Wandel unterworfen. Auch das, was vermeintlich stabil und dauerhaft ist. Wie können wir unsere Konzentration an etwas festhalten, was sich permanent verändert, ohne zu verzweifeln?

Ja, ich glaube, das ist der Kern: Wir meinen, die Welt ist irgendwie da, fix, fest , beobachtbar, stabil. So wie wir. So wie Du. So wie ich. Ich und Du. Ich und die Welt. Das Eigene. Das andere. Hier und dort. Das und jenes. Das Vergangene, das Erlebte. Und auch die Zukunft: planbar, sicher. So war es. So ist es. Und so wird es bleiben. Das bin ich. So ist es. So bin ich. Abgrenzung, irgendwie einen Halt finden, sich definieren, identifizieren. 

Wenn wir unseren Geist im Yoga schulen, dann werden alle diese Grenzen, diese sicher geglaubten Wahrheiten, weicher und durchlässiger. Die Grenze zwischen Ich und Nicht-Ich verblasst. Das, was wir beobachten und wahrnehmen, wird plötzlich Teil von uns, weil wir erkennen, dass alles auf dieser Welt nach den gleichen Prinzipien und Mustern funktioniert. Alles ist aus allem gemacht, und alles kann verwandelt werden in alles andere. Nenn es Chemie, nenn es Feinstofflichkeit, egal, nenn es Gott. 

Nein, ich habe keine Drogen genommen. Aber das ist, was wir mit Drogen zu erkennen versuchen, oder? Die Grenzen auflösen. Aus dem Käfig, aus der Begrenzung unseres Bewusstseins heraustreten. Was passiert dann, wenn wir zulassen, dass wir nicht getrennt sind, sondern uns den Gedanken erlauben, dass wir eins sind mit allem? Ist das eher beunruhigend oder ist das gerade toll?

Kurz gesagt: Wir erkennen, dass die Zeit keine Linie ist, und die Dinge nicht so sind, wie sie scheinen. Alles ist im Wandel, so wie unser Bewusstsein und alles bewegt sich in ewiger Wechselwirkung mit allem. Und so lesen wir in den nächsten drei Sutras:

YS 3.14 śānto-dita-avyapadeśya-dharmānupātī dharmī

Alle vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Dinge basieren auf den grundlegenden Eigenschaften, die im Objekt angelegt sind.

YS 3.15 kramānyatvaṁ pariṇāmānyateve hetuḥ

Unterschiede in der Wandlung basieren auf Unterschieden in der Abfolge.

YS 3.16 pariṇāmatraya-saṁyamāt-atītānāgata jñānam

Durch Meditation auf die drei Arten der Wandlung entsteht Erkenntnis über die Vergangenheit und Zukunft.

Man kann heutzutage den Zeitpunkt des Urknalls, der das schuf, was uns schuf, bis auf eine Hundertstel Sekunde berechnen. Wirklich wahr. Aber das, was davor war, diese Zeit bis zur Hundertstel Sekunde, ist unklar. Das, was vor dem ersten Molekül war. Die Physiker können es aber berechnen. Es ist reine Energie, ohne Materie. Das ist alles absolut unvorstellbar und dennoch ist es irgendwie passiert. Philosophisch betrachtet muss in der nicht-materiellen Energie aber schon die Materie, der Urknall, die Moleküle, das Leben, die Blume, der Baum, Deine Katze, Du und ich enthalten gewesen sein. Es waren nur noch nicht die Bedingungen eingetreten, dass sich diese Dinge manifestierten. Die Bedingungen sind Zeit, Zufälle, Abfolgen, Abläufe und vieles mehr. 

YS 3.14 erkennt genau das: Die grundlegenden Eigenschaften sind immer schon da. Objekte können zurückgezogen und vergangen sein, das ist śānta, sie können erscheinen, das ist udita oder sie können noch nicht da sein, das ist avyapadeśya. Aber alles war schon immer da. Alle Materie, die die Welt formt, war immer schon da. 

Es läuft mir heiß und kalt über den Rücken bei diesen Sutras. Sie erinnern mich an den Buddhismus, kein Werden, kein Vergehen. Und das ist auch kein Wunder. Diese (und auch andere) Teile des Sutra sind beeinflusst von den buddhistischen Weisheiten. Ich finde es zutiefst beruhigend und schön, mich aus der Hülle der eigenen Vergänglichkeit zu lösen, und mir klar zu machen, nur ein kleiner Teil des permanenten Wandels von diesem zum nächsten zu sein. 

Warum sind wir denn hier auf der Welt? Jetzt gerade? Weil eine unendliche Abfolge von Voraussetzungen und Milliarden von Verwandlungen dazu geführt haben, dass wir jetzt gerade für einen gewissen — sehr kurzen Zeitraum — wahrnehmbar existieren in einer bestimmten Form. Aber das ist alles fluide, nicht abgegrenzt und — während ich das hier schreibe — schon wieder auf dem Weg zum nächsten Zustand.

Wenn ich eine Buchecker im Wald sehe, steckt darin die ganze Welt, die Sonne, das Wasser, der Humus, die Zeit und die Buche, die die Ecker los- und auf den Boden hat fallen lassen. Vielleicht werden nicht alle Bedingungen in der richtigen Abfolge erfüllt werden, dass aus dieser Buchecker die nächste große starke Buche wird. Dennoch steckt in der Buchecker die Buchenhaftigkeit. Und in ihr der ganze nächste Urwald. 

Und deswegen führt YS 3.15 eben aus, dass die Frage, ob etwas existiert, nur eine Frage der Abfolge ist. Das entscheidende Wort hier ist krama.

Die übenden Yogis von Euch kennen sicher vinyasa-krama — es ist ein Yogastil, der dieses philosophische Prinzip versucht auf die praktischen körperlichen Übungen zu übertragen: Wir üben dabei, jeden Punkt einer Bewegungsabfolge zu beobachten, also die Abfolge der Yogaübungen als einen permanenten Wandel zu begreifen. 

Das Vergangene wird zum Gegenwärtigen wird zum Künftigen wird zum Vergangenen wird zum Gegenwärtigen wird zum Künftigen .

Meditation ist nicht zu verwechseln mit Rumsitzen und Nichtstun. Mediation ist Erkenntnisgewinn durch Versenkung in die Natur der Dinge, in die Natur unseres Bewusstseins. Kein Werden, kein Vergehen. Durch Meditation – sagt YS 3.16 – können wir unsere Erkenntnis über diesen Wandel in den Dingen trainieren. Ist das nicht toll? 

Das ist Yoga.

Teil 63 – ?️ Eichhörnchen-Meditation – YS 3.17

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Ab jetzt geht es um die verschiedensten Meditationstechniken. Obwohl wir schon gelernt haben, dass man hier eigentlich nur noch durch Loslassen weiterkommt, wird es wieder recht praktisch. Also im Sinne von: „übe, nicht zu üben, aber mach!“ - YS 3.17 dreht sich um den Klang der Wesen, z.B. eines Eichhörnchens

Mit Beginn des dritten Kapitel des Yoga-Sutras, dem über die besonderen Fähigkeiten, die Yoga-Übenden zuteil werden können, sind wir in ein neues Stadium der Yogareife eingetreten. Das entscheidende Wort war saṃyama, die Konzentration, die Versenkung. Saṃyama ist ein ganz wichtiges Wort im Sutra. 

Und das wird es auch in den kommenden Folgen bleiben. Wir erinnern uns, dass saṃyama der Sammelbegriff für die letzten drei Glieder des achtfachen Wegs war. Diese letzten drei Glieder, dhāraṇā – die Konzentration, dhyāna – das Halten der Stille und samādhi – die Versenkung – entziehen sich eigentlich der willentlichen Übung. 

Saṃyama folgt eher als Konsequenz der Übung, als dass es sich aktiv üben ließe. Das ist alles etwas kompliziert, und wenn wir ehrlich sind, dann müssen wir das auch mal so sagen. Vieles ist auch nicht ganz klar und auch die früheren und heutigen Kommentatoren des Sutra kommen hier durchaus an ihre Grenzen oder sie geben aus meiner Sicht etwas vor, verstanden zu haben. Aber das ist nur eine persönliche Ansicht und manch einer wird einen Korkblock nach mir schmeißen wollen wegen einer solchen Aussage — wenn, ja wenn es nicht die Übung der Gewaltlosigkeit, ahiṁsā,  im Yoga gäbe. Mein Verständnis von saṃyama lässt mich die drei Glieder am besten übersetzen mit: Anhaltende Konzentration auf eine Sache bis zur Vereinigung. Bis zur Durchdringung. Bis zum Eins-werden. Wenn das gelingt, entsteht Wissen, das ist jñāna. Und aus dem Wissen leiten sich Ergebnisse ab. Also: Meditation führt zu Wissen, Wissen führt zu Ergebnissen.

Mit diesem Fahrplan steigen wir ein in die restlichen 38 Sutras des dritten Kapitels. Und wir stellen erstaunt fest, dass es doch wieder sehr praktisch wird. Irgendwie ist es lustig: Die Ergebnisse des Yoga-Übens stellen sich ein, wenn wir das Üben loslassen und uns versenken, wenn wir meditieren, wenn wir Nicht-Wollen wollen. Und dennoch oder gerade deswegen macht uns Patañjali 25 Vorschläge, wie wir saṃyama, also die Meditation, üben können. Also: übe, nicht zu üben, aber mach. Das ist irgendwie Zen und erinnert mich an einen Spruch des Zen-Mönchen Shunryu Suzuki (1904 – 1971): „Wenn Ihr versucht, Erleuchtung zu erlangen, erzeugt Ihr Karma und werdet von Karma getrieben, und Ihr vergeudet Eure Zeit auf Eurem Sitzkissen“ – ganz mein Humor.

Also, auf geht’s: 25 saṃyama Übungen. Die erste Meditations-Übung zur Erkenntnis über Gegenwart und Zukunft habe ich Euch schon in der letzten Folge untergejubelt.

Nun folgt YS 3.17:

YS 3.17 śabdārtha-pratyayāmām-itaretarādhyāsāt-saṁkaraḥ tat-pravibhāga- saṁyamāt sarvabhūta-ruta-jñānam

Name, Aufgabe und Erfahrung von einem Objekt sind miteinander verbunden. Durch Meditation auf die Trennung dieser Drei entsteht Wissen über den Klang aller Wesen.

Spannend. Śabdā ist das Wort, der Laut, der Name. Hier ist es das Wort, das ein Objekt repräsentiert. Wir hatten schon in früheren Folgen gesehen, dass dass Wort nicht das Objekt selbst ist, auch wenn wir dies permanent verwechseln. Vielleicht hast Du auch Lust, dazu noch mal Teil 5 dieses Podcasts zu hören. Wir verwechseln fast immer das Wort, das ein Objekt bezeichnet, mit dem Objekt selbst. Und die Erfahrung, die wir mit diesem Objekt machen, wird wieder in Worte gekleidet, um die Erfahrung zu beschreiben und so weiter.

Diese fortwährende Wort-Bedeutung-Erfahrungs-Verstrickung führt uns auf die falsche Fährte, wenn wir nicht zu unterscheiden lernen. Sagt Patañjali. 

Darüber sollten wir mal nachdenken, bzw. meditieren. Wenn wir unterscheiden lernen zwischen den Worten, dem Objekt selbst und den vielfältigen damit verbundenen Erfahrungen, dann entsteht Wissen über den Klang, bzw. die wahre Ausdrucksform aller Wesen.

Eigentlich ist das eine tiefenpsychologische Übung, die unsere Beziehung zu allen Wesen betrifft, ob Menschen, Tiere, Geister oder Götter. 

Wenn Du bereit bist, Dich nicht blenden zu lassen von Deiner Vorstellung und Erfahrung, die Du mit und über ein anderes Wesen gesammelt hast, und diese Ebenen voneinander trennst, dann hörst Du den Klang dieses und aller Wesen. Finde ich sehr interessant. Klang ist immer Sound, ist immer Wellen. Schallwellen. Schwingungen. 

Wie z.B. bei unserem Haus-Eichhörnchen, das in der Regel zur Frühstückszeit morgens auf unserer Terrasse nervös angetrippelt kommt. Ich betrachte es in all seiner Nervosität und Possierlichkeit, und versuche diese Meditation. Versuche, hinter die Worte zu schauen, die dieses tolle Tierchen bezeichnen und es beschreiben. Versuche, die eigentliche Natur dieses Wesens zu erfassen, seine Schwingungen sozusagen. Und mich mit diesen Schwingungen zu verbinden. Das kann ein ganz wunderbarer Moment sein. Eine Beziehung zu einem Tier auf diese Weise zu suchen, ist für mich etwas ganz Besonderes. Und es muss kein Eichhörnchen sein, es kann auch ein Vogel sein, oder eine schöne Spinne, ein Frosch oder eine Libelle. Manchmal ist es, glaube ich leichter, das mit Tieren zu üben, als mit Menschen. Aber das nur so am Rande.

Ich wünsche Dir viel Spaß und Sinnlichkeit beim Sammeln von Wissen über den Klang aller Wesen! 

Teil 64 – Wo kommen wir her, wo gehen wir hin? – YS 3.18

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Saṁskāra sind die tiefen Spuren unserer Existenz, die weit über unser gegenwärtiges Leben hinausreichen,denn wir kommen nicht als weißes Blatt Papier auf die Erde sondern als ein Ergebnis von Ursache und Wirkung. Kann uns das Sinn geben und befreien oder fesselt uns das?

Wir haben zuvor schon Wissen über Vergangenheit und Zukunft aufgebaut und sind in den Klang aller Wesen eingetaucht. 

Heute geht es um unser Vorleben. Vorleben? 

YS 3.18 saṁskāra-sākṣātkaraṇāt pūrva-jāti-jñānam

Durch Meditation auf unsere Prägungen entsteht Wissen über das Vorleben.

Saṁskāra ist hier das Stichwort. Nennen wir es fürs erste: Prägungen, Eindrücke, ursächliche Zusammenhänge, die zu dem geführt haben und fortwährend führen, wer und was wir sind.

Werden saṁskāra auch aus der Zeit vor der eigenen Existenz übertragen? Da muss ich natürlich die Frage stellen: Wann beginnt unsere Existenz? Mit der Geburt? Sicher nicht. Mit der Zeugung? Der Vereinigung von Same und Eizelle, wenn sich die Gene von Mama und Papa mischen?

Ich meine damit nicht den Beginn des materiellen Lebens in der Form, wie wir dann in der Welt erscheinen. Das „Material“, aus dem wir gebaut sind, unterscheidet sich ja nur im Promillebereich von anderen Menschen. Ja, sogar von anderen Mitwesen unterscheidet es sich eigentlich wenig. Wenige Gene machen den Unterschied. Das Genpool unseres Eichhörnchens auf der Terrasse unterscheidet sich nur geringfügig von unserem Genpool. Saṁskāras sind natürlich mehr  als die genetische Prägung. 

Diese Spuren und Prägungen sind im philosophischen Verständnis des Yoga tiefe, subtile Strömungen unseres Geistes. Das, was übrig bleibt, wenn alle anderen oberflächlicheren Eindrücke geklärt und bereinigt sind. Ihr erinnert Euch vielleicht an die vṛttis, die geistigen Regungen. Yogaś-citta-vṛtti-nirodhaḥ. Yoga ist das zur Ruhe kommen dieser Vṛttis. Das ist ja schon `ne ganze Menge. Die saṁskāra hingegen sind das, was dann noch übrig ist. Sozusagen der Kaffeesatz unseres Geistes. Und die Meditation darauf ist sozusagen yogische Kaffeesatzleserei über diese subtilen Spuren und Erfahrungen, tief in den Emotionen und Erinnerungen verankert.

In den Schriften und Kommentaren wird oft unterschieden in negative und positive saṁskāra; die einen gilt es auszutrocknen, die anderen gilt es zu wässern und gedeihen zu lassen. Aber wer will das schon sagen, was positiv und was negativ ist. Das kann Gegenstand einer Meditation sein, aber so eine Positiv-Negativ-Liste ist auch wieder sehr simpel und sehr ablenkend. 

Saṁskāra sind erlernte Muster und Prägungen. Die kann man ja nicht einfach löschen. Sie schlummern tief in unserem limbischen System. Es wäre naiv zu meinen, wir kämen Tabula Rasa zur Welt wie ein weißes Blatt Papier. Auch die moderne Wissenschaft ist sich absolut darüber im klaren, dass vieles von dem, was unsere Eltern, Großeltern, Urgrosseltern-Generationen geprägt hat, in uns drin steckt. Und zwar nicht nur im rein genetischen Sinne, sondern vor allem aus der Sicht von Karma, dem Gesetz von Ursache und Folgen. Alle Zig-Billionen Spuren und Handlungen, die dazu geführt haben, dass wir heute da sind. 

Und ganz bald auch schon wieder nicht mehr. Bleibt etwas von uns übrig, wenn wir gehen? Wird etwas wieder geboren? Was geben wir weiter? Bleiben unsere Energien erhalten, unsere Spuren gezogen? Oder können und wollen wir reinen Tisch machen? Ich habe keine Ahnung, deswegen muss ich auch noch viel darüber meditieren.

Als Kind bin ich zu meinem Vater gegangen, ich weiß es noch ganz genau,und habe ihn gefragt: Papa, ich weiß ja, dass ich ich bin. Aber wie kann es sein, dass dieses Ich nur ich spüre? 

Irgendwie hat mich die Frage nicht mehr losgelassen. Ist es letztlich die Sinnfrage? 

Wo gehen wir hin?
Wo kommen wir her?
Was ist der Sinn?
Ist da noch mehr?
Gibt‘s da’ n Tunnel?
Ist da ’n Licht?
Ey Mann was fragste mich?
Ich weiß es nicht.
Und ich atme ein.
Und ich atme aus. 

Falls Dir der Text bekannt vorkommt: Er stammt von den Fantastischen Vier. Sie haben dieses Dilemma in ihrem Song „Geboren“, diese Sehnsucht nach der großen Antwort, einfach sehr cool in diese paar Zeilen gefasst. 

Saṃyama auf die saṁskāra — also Meditation auf die Spuren des Vorlebens — heißt ja eigentlich auch genau das: Versenkung und Vereinigung mit allen Spuren unseres Wesens. Was bleibt uns am Ende, als diese Spuren genauer zu erforschen und die Gesamtheit an Ursachen, die unserer Existenz zugrunde liegen, einfach ein- und auszuatmen. 

Das ist Yoga.

Teil 65 – Da guckste!YS 3.19 – 3.20

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Du kannst aber üben und lernen, die Absichten der anderen klarer zu sehen und nicht mit Deiner Interpretation zu verwechseln. Das gelingt aber nur, wenn Du Deine eigene Brille erst mal versuchst, abzusetzen und Dich dann achtsam auf den anderen Menschen konzentrierst 

Heute stelle ich Euch eine weitere Meditationen vor, die Patañjali vorschlägt, um unseren Geist durch Konzentration auszurichten, um dadurch Wissen zu erlangen und neue subtile Fähigkeiten zu gewinnen. 

Es geht darum, in den Kopf eines anderen Menschen zu reisen.

YS 3.19 pratyayasya para-citta-jñānam

Durch Meditation auf die Gedanken eines anderen entsteht Wissen über dessen wandelbares Wesen. 

Wie kann man sich das vorstellen: Meditation auf die Gedanken eines anderen? Ist das eine Übung zur Stärkung der Empathie? Eher nicht — oder vielleicht doch! Wir erinnern uns: im dritten Kapitel des Yoga-Sutras geht es ja um die „besonderen Fähigkeiten“. 

Hier ist also die Fähigkeit gemeint, sich in das wertende Bewusstseins eines anderen Menschen hineinzudenken. 

Ein bisschen spooky ist das schon. Ich stelle mir vor, wie eine kleine Sonde mit meiner yogischen Konzentration sich unsichtbar in die Gehirnwindungen eines anderen Menschen hinein bewegt, um dort — ja was genau? — hinter die Gedanken des oder der Besitzerin zu kommen? Ich mag Science Fiction übrigens. Dass die Yogis das schon vor Aberjahrhunderten drauf hatten  Respekt!

Wir sagen ja so: Tja, Du kannst den Leuten nicht in den Kopf gucken! Die Yogis sagen: doch!  Aber warum solltest Du das tun? Na, weil’s cool ist. 

Das, was für Dich selbst gilt, gilt auch für andere. Wir wollen ja unseren Geist zur Ruhe bringen. Und das erste, was wir beim Yoga nach Patañjali lernen, ist, die krampfhafte Identifizierung mit unseren Gedanken, unseren vṛttis, zu durchbrechen und uns die Ego-Perspektive unserer Weltsicht klar zu machen. Wenn wir da raus kommen, können wir mehr Distanz zu uns selbst entwickeln und uns auf den Weg zur Freiheit machen.

Jetzt sind wir ja nicht nur mit uns alleine, sondern sind vielfältig eingebunden in soziale Gruppen mit anderen Menschen. Nicht immer verläuft das ja harmonisch mit anderen, ne? Warum versteht der mich nicht? Wieso denkt die so anders darüber, obwohl meine Argumentation doch klar und deutlich ist? Wieso denkt der, dass er Recht hat, wo ich doch Recht habe? Warum ist sie so frustriert, obwohl ich doch gerade was Nettes gesagt habe? Die Sender-Empfänger-Echo-Schleife. 

Da könnte es ja hilfreich sein, sich mal in die Perspektive des Gegenübers zu versetzen, in sein citta . Ich könnte in friedvollster Absicht natürlich erkennen, welche Emotionen, welche Erinnerungen, welche Erlebnisse diesen anderen Menschen gerade treiben. Welche Brille hat er gerade auf? Dann kann ich großzügig und mild sein. 

Denn sein citta ist genauso getrübt wie meines. Und es gelingt vielleicht besser, genau, meinen eigenen Geist zur Ruhe zu bringen. Ich kann ja nicht wirklich in die Persönlichkeit eines anderen reisen, geschweige denn wirklich Einfluss „von innen“ nehmen, soweit geht es dann ja nicht mit der Sonde.

Aber ich kann mich durch Wissen über das wandelbare Wesen meines Gegenübers mit ihm verbinden und das Trennende in Gemeinsames transformieren. 

Interessanterweise setzt Patañjali im nächsten Sutra aber auch gleich die Begrenzung dieser Superpower:

YS 3.20 na ca tat sālambanaṁ tasya-aviṣayī bhūtatvāt 

Aber über die wahre Natur eines anderen können wir kein Wissen erlangen, denn diese ist kein beobachtbares Objekt. 

Heißt: alles hat seine Grenzen. Bei dem Versuch, in den Kopf eines anderen Menschen zu reisen, können wir — so Patañjali — nur versuchen, durch dessen Brille auf die Welt zu sehen. Das erfordert schon sehr viel Konzentration, Übung und Menschenkenntnis. 

Wenn Du Dich das nächste Mal in einem komplizierten Gespräch befindest, denk mal an dieses Sutra und beobachte Dich dabei, wie viel Du in die Worte deines Gegenübers hineininterpretierst. Das ist eigentlich die erste Stufe. Ein Satz wie z.B. „Ich habe heute die Küche aufgeräumt“ kann einfach neutral die Tatsache beschreiben, dass die Küche jetzt sauber ist. Vielleicht hört sich dieser Satz aber je nach Beziehung, Erfahrung und Stimmung auch an wie: „Ich habe heute die Küche aufgeräumt. Wieder nicht Du!“ oder „Ich habe heute die Küche aufgeräumt. Bitte lobe mich dafür“ . Wir interpretieren mit unserem citta jede Information auf Basis unserer Persönlichkeit. Unser Gegenüber hat aber noch einmal seine ganz eigene Brille auf. Er sagt das ja nicht ohne Grund. Und möglicherweise ist der Grund ein ganz anderer, als der, den Du hineininterpretierst. So. jetzt schalte Deine Sonde an und setz Dir die andere Brille auf. Mein Tipp: Vermute als erstes, dass die Absicht des anderen die beste ist. Ach, die Küche. Also, vielen Dank! Die glänzt ja richtig. Nächste Woche kümmere ich mich um die Küche, hab’s mir gerade in den Kalender eingetragen.

YS 3.20 ist aber auch ein deutlicher Fingerzeig, nicht überheblich zu sein mit seinen yogischen Fähigkeiten. Nicht zu glauben, Du könntest wirklich die Persönlichkeit eines anderen Menschen durchdringen. Denn die kannst Du nicht direkt wahrnehmen. Sie ist im Verständnis des Yoga kein Objekt, sondern die Quelle des Betrachtens.

Du kannst aber üben und lernen, die Absichten der anderen klarer zu sehen und nicht mit Deiner Interpretation zu verwechseln. Das gelingt aber nur, wenn Du Deine eigene Brille erst mal versuchst, abzusetzen und Dich dann achtsam auf den anderen Menschen konzentrierst.

Das ist Yoga.

Teil 66 – Nicht ausweichenYS 3.21 und 3.22

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Sich den Erkenntnissen und Wissen, die aus Meditation zu stellen, kann schmerzhaft sein. Lieber weichen wir aus und verbleiben in den Komfortzonen unserer Existenz — bis es kracht. Gibt es einen Ausweg?

In den letzten Folgen haben wir uns mit saṃyama beschäftigt, einer tiefen Mediationstechnik, die uns die Tür zu besonderen Fähigkeiten und Wissen öffnet. Wir befinden uns hier in einem eher magischen Teil des Yoga Sutra, nicht mehr so analytisch und nüchtern wie teilweise zuvor. Das macht es einerseits spannender, andererseits aber auch ein bisschen seltsamer. Ein bisschen mehr „Herr der Ringe“ als ein „Arte-Philosophie-Themenabend“. 

Viele besondere Fähigkeiten warten noch auf den geneigten Yogi und natürlich auch auf die Yogini, wobei wir wissen, dass Patañjali sicherlich keine Frauen im Sinn hatte für eine solch tief gehende Stufe des Yoga. Da sehen wir mal wieder, dass wir auch nicht alles toll finden müssen, nur weil es alt ist und Yoga drauf steht. 

Schauen wir mal, wie es weitergeht:

3.21 kāya-rūpa-saṁyamāt tat-grāhyaśakti-stambhe cakṣuḥ prakāśāsaṁprayoge-’ntardhānam

Durch Meditation auf die körperliche Form entsteht die Möglichkeit, die Kraft, die den Körper wahrnehmbar macht, zu behindern. Es entsteht keine Verbindung zwischen Licht und Auge. Unsichtbarkeit entsteht. 

Hui! Okay. Unsichtbarkeit entsteht .

YS 3.22 sopa-kramaṁ nirupa-kramaṁ ca karma tatsaṁyamāt-aparāntajñānam ariṣṭebhyo vā

Durch Meditation auf vorhersehbare und unvorhersehbare Ursachen und Wirkungsbeziehungen entsteht Wissen über das Schicksal.

Das finde ich ja mal wieder hochaktuell. Das Schlüsselwort ist hier, nicht zum ersten mal, „karma“ – also die Ursachen und Folgen des eigenen Handelns. Im Moment (während ich diese Folge schreibe zumindest) befinden wir uns in zwei schweren, fast unlösbaren weltweiten Katastrophen: einer Pandemie (das ist die kleinere Katastrophe) und der Klimakrise (das ist die definitiv größere). 

Die eigene meditative Kraft vor allem auf die vorhersehbaren Ursachen- und Wirkungsbeziehungen auszurichten, finde ich in dem Zusammenhang besonders interessant, von den Unvorhersehbaren mal ganz zu schweigen. 

Irgendwie paradox: Vorhersehbare Ursachen- und Wirkungen sollten uns ja sehr willkommene Geländer sein, auf die wir sicher gestützt und geführt unser Schicksal in die Hand nehmen. Man kann ja noch verstehen, dass es mit den unvorhersehbaren Dingen schwieriger ist, aber, come on!,mit dem was wir schon wissen, sollten wir entsprechend umgehen. 

Es ist aber so: Wir rennen sehenden Auges, man sollte besser sagen „wissenden Hirns“, in die Katastrophe, wir kennen alle die Fakten. Es mangelt überhaupt nicht an Erkenntnissen und wissenschaftlicher Evidenz. Ja, es mangelt nicht einmal an schon spürbaren Konsequenzen, also Wirkungen, die uns wirklich die Lampe anschalten sollten. Sowohl beim Thema Pandemie als auch bei der Klimakrise. 

Trotzdem, ne? Es passiert zu wenig. Ja, bei mir auch. Sicher. Ich habe meine so-wie-ich-Meditation nicht vergessen hier. 

Was passiert hier also? Beziehungsweise: Warum passiert hier zu wenig? Ist das alles zu abstrakt? Zu wenig spürbar? Zu kompliziert? 

Es gibt sicher nicht nur einen Grund. Meine Vermutung ist, dass kognitives, intellektuelles Wissen über das Schicksal nicht immer ausreicht, eingeübtes Verhalten und gewohnte Muster zu verlassen. Bis es knallt. Die Komfortzone ist eben so lange eine Komfortzone, wie sie noch komfortabel ist. Der Rest ist Verdrängen.

In dem Sutra hier geht es aber natürlich nicht nur um yama, also die Konsequenzen nach außen, sondern auch um niyama, um die Wirkungen für das eigene Verhalten und wir haben schon früher gesehen, dass das eine komplizierte Kiste ist.
Patañjali schlägt eben auch deshalb vor, saṃyama, die Meditation, zu üben auf diese Frage und — weitergedacht — nicht nur ein schlaues Buch zu lesen, denn offenbar hilft uns das alles allein nicht weiter. 

Patañjali sagt, wenn wir uns genügend ausrichten auf die Ursachen und Konsequenzen unseres Tuns, dann entsteht Wissen über unser Schicksal. Wir schauen etwas genauer hin, denn das Wort Schicksal ist eine Interpretation, für die es meines Wissens kein Sanskritwort gibt. Genau genommen nutzt Patañjali die Worte aparānta und ariṣṭa. 

Aparānta heißt lustigerweise wörtlich „an der westlichen Grenze gelegen“, gemeint ist „der zukünftige Tod, das Leidvolle“. Ariṣṭa hingegen sind „sichere Zeichen“ — hier übersetzt mit Schicksal. Schicksal in diesem Sinne ist immer die Erkenntnis der zwangsläufigen Endlichkeit, sprich des eigenen Vergehens. Wie in jeder Yogaklasse, die wir mit Shavasana beenden, der Totenstellung, der Schicksalsstellung. 

Das ist schmerzhaft. Wenn wir uns versenken in dieses Thema, entsteht Wissen über die Zusammenhänge und wir können nicht mehr ausweichen. Wir müssen unser Leben ändern, sonst können wir eigentlich nicht mehr ruhig schlafen und schon gar nicht unseren Geist beruhigen. Yogaś-citta-vṛtti-nirodhaḥ, ne? Ja, da war doch was. Vielleicht bedeutet das aucheinfach, weniger zu tun? 

Sind wir konsequent genug im schmerzhaften Erkenntnisprozess von Karma und denken die Dinge durch, dann müssten wir erkennen, dass Leugnen und Verkennen, dass Flucht in schwurblerische oder esoterische Dummheit, dass Ausweichen vor Fakten nur hilflose Versuche sind, sich nicht der Erkenntnis zu stellen. Und das gibt es — das muss ich leider sagen — auch in der Yogawelt zuhauf.

Nur in dem ehrlichen Wissen über die Konsequenzen unseres Handelns liegt der Schlüssen zur Freiheit, nicht nur unserer individuellen sondern auch der gesamten Gesellschaft,.

Das ist Yoga!

Teil 67 – Weitere tolle Meditationen – YS 3.23 – 3.28

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Es gibt viele Möglichkeiten, zu meditieren, und seine Konzentration auf irdische und auch kosmische Phänomene zu richten. In dieser Folge stelle ich weitere vor.

Wir sind immer noch unterwegs auf dem großen Spielfeld der Meditationstechniken, den saṃyamas, die uns Patañjali vorschlägt, um unseren Geist zur Ruhe zu bringen. Zur Erinnerung: saṃyama ist der Sammelbegriff für die letzten drei Glieder des achtfachen Pfades. Das sind im Sinne der Yoga Philosophie diejenigen Glieder, die man schon nicht mehr wirklich „Üben“ kann, sondern die nur durch tiefe Versenkung entstehen, und dem Zustand der Erleuchtung nahe sind. 

Wir halten einfach weiter den Widerspruch gelassen aus, dass wir modernen Menschen uns einerseits darauf einlassen, Meditation zu üben, uns aber andererseits doch nicht wirklich in einem Status kurz vor der Erleuchtung befinden. Oder doch? Höre ich Widerspruch?

So ist es eben mit solchen alten Schriften, die wir versuchen in die Neuzeit hineinzuinterpretieren. Kann aber ja durchaus auch sein, dass Yogaschüler vor 1.500 Jahren auch schon vor ihrem Guru saßen mit dem gleichen Widerspruch. Wir wissen es nicht. Ist auch egal. Man sollte einfach nicht alles zu ernst nehmen, dann macht es keinen Spaß mehr. 

Ich hatte Euch ja von insgesamt 25 saṃyamas berichtet. Heute starten wir einen kleinen Galopp durch mehrere davon, denn die folgenden Meditationstechniken sprechen für sich und sie benötigen eigentlich keinen Kommentar.

YS 3.23 maitry-adiṣu balāni

Durch Meditation auf die Liebe und die anderen positiven Eigenschaften entstehen die entsprechenden Kräfte.

Hier sagt Patañjali: Das mit der Liebe hab ich Euch ja schon erklärt in Sutra 1.33, muss ich jetzt ja nicht alles wiederholen hier, ne? Ganz mein Humor. Muss ich ja auch nicht tun und verweise damit auf Teil 15 dieses Podcasts.

YS 3.24 baleṣu hastibalādīnī

Durch Meditation auf die Kraft selbst entsteht die Stärke eines Elefanten.

Cool. Finde ich super. Müsst Ihr mal probieren! Sozusagen ein Booster in Sachen Selbstbewusstsein und Resilienz. Okay, weiter geht’s:

YS 3.25 pravṛtty-āloka-nyāsāt sūkṣmā-vyāvahita-viprakṛṣṭa-jñānam

Durch Meditation auf den Ursprung des inneren Lichtes entsteht Wissen über Subtiles, Verborgenes und Entferntes.

Und gleich drei weitere:

YS 3.26 bhuva-jñānaṁ sūrye-saṁyamāt 

Durch Meditation auf die Sonne entsteht Wissen über die feinstofflichen und physischen Welten.

YS 3.27 candre tāravyūha-jñānam

Durch Meditation auf den Mond entsteht Wissen über die Anordnung der Sterne.

YS 3.28 dhruve tadgati-jñānam

Durch Meditation auf den Polarstern entsteht Wissen über seine Konstellation.

Diese letzten vier Sutras richten sich an alle, die sehr gut große Verbindungslinien zwischen dem eigenen Bewusstsein und dem Kosmos ziehen können. Dem Eingebunden-Sein in das große Ganze, das Licht, die Sonne, den Mond und das All.

Ich finde, das kann man auch wieder wunderschön sowohl als staunender als auch als glaubender Mensch beherzigen. 

Wir können einfach die Kräfte der Elemente aufnehmen und uns mit Ihnen verbinden und uns eins fühlen. Wir können uns über unseren bescheidenen Bewusstseinsgrenzen hinaus verbinden mit den subtilen und verborgenen Gesetzen des Kosmos. 

Wir können das aber einfach auch als Aufforderung betrachten, uns tief zu versenken in das Wissenschaftliche dieser Aspekte. Wir können lernen und studieren und dann genau zu dem gleichen Ergebnis zu kommen, das wir schon seit frühster Kindheit in einem übrigens rhythmisch durch aus anspruchsvollen Lied besingen:

Laterne, Laterne, Sonne, Mond und Sterne,
brenne auf mein Licht,
brenne auf mein Licht,
aber Du, meine liebe Laterne, nicht.

Auch das ist Yoga.

Teil 68 – Dein Bauchnabel – YS 3.29

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Durch Meditation auf den Bauchnabel entsteht Wissen über den Aufbau des physischen Körpers. Der Bauchnabel ist ein ganz wichtiges Energiezentrum im Yoga, schließlich haben wir uns von diesem Punkt aus entwickelt. Was kann uns der Bauchnabel erzählen?

Weiterhin beschäftigen wir uns mit den Meditationstechniken, den saṃyamas. 

In der letzten Folge ging es dabei vor allem auf die Konzentration auf vermeintlich Äußeres, wie die Sonne, den Mond, den Polarstern und — genau — ein Elefant war auch dabei.

In den heutigen Sutra geht es um den Blick nach innen. Wir können durchaus in der Reihenfolge der saṃyamas ein Muster wieder erkennen, was wir schon in den ersten beiden Gliedern des achtfachen Pfades gelernt haben. Es begann ja mit den yamas, dem angemessenen Verhalten gegenüber der Außenwelt, und dann kamen erst die niyamas, die sich mit dem guten Umgang mit sich selbst beschäftigen. 

Während in den vorherigen saṃyamas unsere Beziehung zum Kosmos im Vordergrund stand, schauen wir nun in den inneren Kosmos. Im Grunde genommen gibt es hier keine Trennung, denn das Kleinste ist ebenso in allem enthalten, wie das Größte im Kleinsten repräsentiert ist. 

Für Yogis und Yoginis ist diese Verbindung zwischen dem eigenen Wesen und dem Allwesen, ein entscheidender Schlüssel. Denn die Erkenntnis, dass der gesamte Kosmos in jeder einzelnen Zelle repräsentiert ist, bedeutet ja auch, dass wir die leidvolle Identifikation mit dem Ich überwinden können. Wenn ich mir klar mache, dass die Bedeutung, die ich meinem Ego und meiner eigenen Person zumesse, letztlich nur aus dem bewertenden Geist stammt, dann muss ich nur meinen Geist zur Ruhe bringen, um mich vom Ego zu distanzieren. Die größte Hürde zur vollkommenen Erkenntnis liegt in uns selbst und das heißt auch, dass wir selbst die Werkzeuge zur Befreiung in der Hand halten, oder besser im Bauchnabel:

YS 3.29 nābhicakre kāyavyūha-jñānam 

Durch Meditation auf den Bauchnabel entsteht Wissen über den Aufbau des physischen Körpers. 

Nābhicakre – ist das Nabel-Chakra. Es ist ein wichtiger Ort für die Wahrnehmung des eigenen Körpers. Und hier gleich mal ein bisschen Angeber-Wissen für Dich, falls Du mal danach gefragt wirst: Bei Patañjali steht sonst nichts vom berühmten Sieben-Chakren-System, den vermeintlichen Hauptenergiezentren des Menschen. Das ist im Zusammenhang mit der berühmten Kundalini-Energie ein recht populäres Konzept, das aber für Patañjali keine Rolle spielt. 

Hier ist wörtlich der physische Bauchnabel gemeint, an dem unser Körper ja schließlich entstanden ist. Ich werde in meinem Yoga-Unterricht nicht müde, die physische und geistige Selbstwahrnehmung von diesem Zentrum aus zu entwickeln. Hier, am Nabel unserer Mutter, begann unsere Präsenz auf dem Planeten und unsere Keimblätter wuchsen und gediehen und bildeten den physischen Körper aus. Ein āsana steht vielleicht auf Füßen oder Händen, aber es entfaltet sich energetisch aus dem Bauchnabel heraus.

Auch muskulär ist der Bauchnabel eine interessanter Konzentrationspunkt. Wenn wir uns im körperlichen Yogatraining konzentrieren auf den Bauchnabel und die um ihn herum liegende Muskulatur, Haut und Faszie aktivieren, stabilisieren wir unsere Haltung, richten uns auf und geben einen Impuls in den gesamten Körper, der uns helfen kann, ein āsana wie einen Stern am Himmel strahlen zu lassen. Wenn wir hingegen in einer sitzenden Meditation den Bauch(nabel) entspannen, strahlt Weichheit und Gelassenheit in den Körper aus.

Auch auf der mentalen Ebene liegt in der Konzentration auf den Bauchnabel das Wissen über über unseren Körper verborgen. Denn der physische Körper besteht ja nicht nur aus Haut, Knochen, Muskeln und Nerven . Alles, was uns zum Denken und Fühlen befähigt, alles, was wir „Bewusstsein“ und „Ich“ nennen, jedes Gefühl, jede Emotion, jede Erinnerung ist letztlich repräsentiert in Billionen von biochemischen Prozessen, die in ihrer Gesamtheit unser Leben ausmachen. All das ging einst von Deinem Bauchnabel aus.

Der Bauchnabel ist ein wunderbarer Ort, Du solltest ihn unbedingt mehr wertschätzen. Du darfst Dich da jetzt gerne mal berühren, wahrscheinlich hast Du das sowieso schon gerade gemacht, oder? Das ist toll. Um sich selbst zu begreifen, darf man sich gerne begreifen. 

Und wenn es Dir einmal nicht so gut geht, dann rate ich Dir genau das. Setz Dich entspannt hin, ja, gern auch auf einen Stuhl. Versuch, die Bauchdecke wirklich zu entspannen, leg Dir gern einen Finger an den Bauchnabel, schließ die Augen und atme weich ein  und aus. Ein … und aus … ein … und aus … 

Das ist Yoga.

Teil 69 – Die Yoga-Diät und die Schildkröte – YS 3.30 – 3.31

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Sogar Hunger und Durst können wir durch Meditation auflösen. Wäre das nicht endlich die perfekte Diät? Kann man ja mal versuchen, denke ich mir immer. Aber es geht natürlich nicht um eine Diät, sondern um den Kontakt zu großen, ja existenziellen Gefühlen.
Außerdem geht es um die Wirbelsäule.

Heute widmen wir uns zwei weiteren Meditationstechniken, die uns helfen können, unsere besonderen Fähigkeiten zu schulen und — schlussendlich — unseren Geist zur Ruhe zu bringen. 

YS 3.30 könnte direkt als Aufmacher eines Diät-Artikels in einem Yoga-Hygge-Wellness-Magazin stehen

YS 3.30 kanṭha-kūpe kṣutpipāsā nivṛttiḥ

Durch Meditation auf die Kehlgrube lösen sich Hunger und Durst auf. 

Das ist doch die Lösung! Tatsächlich ist die Kehlgrube ein wichtiges Zentrum, nicht nur im Yoga. Da gilt dieser Bereich auch Verschluss, als bandha, mit dem man Energien im Körper lenkt. Anatomisch betrachtet ist das auch plausibel. Im Bereich der Kehle haben wir ja tatsächlich eine quer verlaufende Struktur, ein Verschluss, mit dem wir Luft- und Speiseröhre hoffentlich abwechselnd schließen und öffnen. Das klappt ja auch erstaunlich gut, denn insgesamt verschlucken wir uns ja doch eher selten, wenn man bedenkt, was für eine Schwerstarbeit der Kehlkopf jeden Tag leisten muss. 

Ähnlich wie beim Beckenboden und dem Zwerchfell ist der Kehlkopf ein Diaphragma, als eine quer verlaufende Struktur, die unterschiedliche Ebenen des Körpers einteilt, wie Etagen in einem Wohnhaus. 

Die Kehlgrube ist genau genommen die Vertiefung am Beginn des Halses, die über dem Brustbein sitzt. Wieder etwas zum Begreifen, so wie der Bauchnabel in der letzen Folge. Was für ein schöner Ort. Was für ein weicher Ort, oder? So empfindlich und auch irgendwie sehr ungeschützt. Hier muss alles durch, was uns versorgt. Luft, Nahrung, Wasser, Blut, Nerven, Sehnen, Muskeln, Knochen und vieles mehr. 

Also: Hunger und Durst lösen sich auf, wenn wir uns auf die Kehlgrube konzentrieren. Kann man ja mal versuchen, denke ich mir immer. 

Aber natürlich geht es hier nicht um eine Brigitte-Diät. Warum schlägt Patañjali überhaupt vor, Hunger und Durst aufzulösen? Hunger und Durst sind die zwei wohl gewaltigsten Gefühle, die wir haben. Sie funktionieren ohne weiteren Kontext, sind unmittelbar und kompromisslos. Hunger und Durst sind Wollen. Essen wollen, trinken wollen. Wenn wir Hunger und Durst haben, lassen wir alles andere liegen und stehen. Nur noch Liebe, Angst und Wut haben ähnliche Qualitäten, es sind tiefe Gefühle, die sich vor alles andere schieben. Das würde uns aber ablenken. Natürlich können wir das Problem lösen, indem wir eben einfach essen und trinken — und dann mit vollem Bauch beim Meditieren einschlafen. 

Die Yogis haben aber den Anspruch, dass Ganze an der Quelle zu überwinden. Und sie sehen die Quelle allen Leids im unruhigen Geist. Es ist also nicht der Körper, dem wir eine Diät verordnen müssen, um schlank zu werden, sondern es ist der Geist, dem wir einer Diät unterziehen müssen, um ruhig zu werden. 

Das nächste Sutra knüpft thematisch an YS 2.46 an, in dem es um āsana, die körperliche Praxis ging und das ich in Teil 55 dieses Podcasts besprochen habe.

YS 3.31 kūrma-nāḍyāṁ sthairyam

Durch Meditation auf die Energie in der Wirbelsäule entsteht Festigkeit. 

Kurma ist die Schildkröte. Und kurma nadi ist die Wirbelsäule. Also wörtlich der Schildkröten-Kanal. Lustig, oder? Die Konzentration auf die Wirbelsäule, die ja per se dazu da ist, uns Festigkeit, aber auch Beweglichkeit zu sicher, ist in der Tat ein wichtiger Bestandteil des gelebten Yoga. Die 24 gelenkig miteinander verbundenen Wirbel sind ja auch tatsächlich unser Energiekanal, durch den unsere gesamte nervale Versorgung läuft. Ich finde es ganz hilfreich und benutze das auch oft in meinen Klassen, ein Modell der Wirbelsäule zu zeigen. Eine wundervolle Konstruktion, um deren Pflege und Instandhaltung wir uns in der Regel zu wenig kümmern, bis es oft fast zu spät ist. Oder bis insbesondere der obere Rücken vor lauter Sitzen und Verkürzung tatsächlich irgendwann aussieht wie ein Schildkröten-Rücken. Ob die alten Yogis auch schon dieses Problem hatten? Nach dem Motto: Ey, Alter, ich hab so Rückenschmerzen vom Meditieren! So wird das nix mit der Erleuchtung! Verdammt!

Die Konzentration auf die Wirbelsäule, diesen Energie- und Bewegungskanal, die Freude an der Bewegungsfähigkeit, die Stabilität aber auch ihre Feingliedrigkeit, kann uns den Blick auf den eigenen Körper erleichtern und für viel Freude sorgen. Yoga ist eine so gute Technik, sich um die Langlebigkeit unseres Rückens zu kümmern! Denn Festigkeit oder Standhaftigkeit, die Patañjali hier anspricht, beginnt anatomisch in der Wirbelsäule, aber setzt sich fort im gesamten Wesen. Dann wird aus Stabilität und Festigkeit, die gleichsam beweglich ist ein Vorbild für unseren Geist: stabil und beweglich zugleich. 

Das ist Yoga.

Teil 70 – Meisterschaft und Missbrauch – YS 3.32

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Die Verbindung mit Menschen, die Meisterschaft im Yoga erlangt haben, ist eine wichtige Quelle für Erkenntnis und Inspiration. Leider liegt im Yoga aber auch ein ordentliches Potenzial für Missbrauch und Schwurblertum, wie wir alle in der Pandemie erfahren konnten. Wie geht man damit um?

Wir machen Fortschritte, oder? Wir haben schon so viele Meditationstechniken und Vorschläge kennengelernt, dass bestimmt schon das ein oder andere auch für Dich dabei war, oder? 

Das ist ja doch schon irre, dass diese alte philosophische Schrift gleichzeitig auch eine Bedienungsanleitung ist, oder? Man muss sich ja wirklich — auch quellenkritisch betrachtet — fragen, warum das eigentlich so ist. Für wen wurden die Erkenntnisse über die Ergebnisse von Meditation eigentlich aufgeschrieben? Bestimmt nicht für uns heute. 

Nein, natürlich für damalige Schüler. Und Lehrer. Das ist wirklich etwas Besonderes. Und immer, wenn ich sage: Patañjali schlägt uns dies und das vor, dann sollten wir uns daran erinnern, dass — nach allem, was die Forschung heute weiß — nicht wirklich ein Herr Patañjali am Schreibtisch saß und ein Handout zu guten Meditationstechniken verfasst hat. Sondern, dass eine Gruppe aus verschiedenen Autoren über die Zeit ein Kompendium zusammengetragen hat, das auf Erfahrungen und Wissen vieler Generationen beruhte. Das macht es ja nicht schlechter, im Gegenteil. Es ist aber auch so, dass das Yoga-Sutra gar nicht so alt ist, wie die Yogis das oft in den Studios so sagen…2500 Jahre! 3000 Jahre! 3500 Jahre… ja – nä. Nicht wirklich. Als das Yoga-Sutra zusammengetragen wurde, war der Buddhismus als relativ einfaches und leicht verständliches Konzept zur Erklärung des menschlichen Bewusstseins sehr weit verbreitet. Nur zur Erinnerung: heute ist der Buddhismus eine Weltreligion, damals war er eine Meditationsschule und geistige Lehre. Es gibt keinen Gott im Buddhismus. Wissenschaftler sagen heute ganz klar, dass eine Schrift wie das Yoga-Sutra auch in einer Konkurrenzsituation zum erfolgreichen Buddhismus zu sehen ist. 

Das bringt uns zur Idee der Meisterschaft. Denn es bedurfte großer Meister, die einem den Weg wiesen, wie Buddha. Die Verbindung mit dem Wissen und der Meisterschaft früherer Generationen ist auch Gegenstand der nächsten Meditationstechnik.

YS. 3.32 mūrdha-jyotiṣi siddha-darśanam

Durch Meditation auf das Licht im Schädel, entsteht Kontakt mit den vollkommenen Meistern.

Siddha-darśana bedeutet wörtlich „Meistersicht“. Jemand, der es echt blickt, könnte man sagen. Und den Kontakt zu den Meistern können wir herstellen, indem wir uns auf das Leuchten im mūrdhan konzentrieren, das ist unsere Stirn, unser Vorderkopf. Ich weiß nicht genau, was gemeint ist, aber Ihr wisst ja: kann man ja mal probieren! Aber tatsächlich, wenn wir nicht so richtig weiter wissen und uns konzentrieren auf Meister und natürlich auch Meisterinnen, die uns ein Licht angemacht haben, wo vorher Dunkelheit in unserem Kopf herrschte, dann können wir uns wieder orientieren. 

Wenn ich diese Folge des Podcast schreibe im Januar 2022, dann ist gerade der vietnamesische Mönch Thich Naht Hanh verstorben im Alter von 95 Jahren. Das ist z.B. für mich persönlich ein Meister, der für meine geistige Ertüchtigung unendlich wichtig war, obwohl ich ihm nicht einmal persönlich je begegnet bin. Spielt auch keine Rolle, ob er Buddhist war oder Yogi und ich der Atheist, der ich nun mal mit all meinen Fasern bin. Das müssen wir ganz locker sehen. Wenn ich mich z.B. nicht gut fühle und nicht so recht meine Gefühle und meine Gedanken in der Balance habe — und das passiert durchaus regelmäßig — dann ist die Konzentration auf die Stirn, tatsächlich ein probates Mittel, um mich mit diesem Meister zu verbinden.

Das tust Du vielleicht auch, oder? Das ist auch Yoga. …STOPP, Moment. noch nicht Schluss. Das ist jetzt einfach thematisch der Punkt, an dem ich mich doch einmal zur Corona-Epidemie äußern muss, egal ob sie nun noch anhält oder vielleicht auch schon vorbei ist. Ich weiß ja nicht, wann Du diesen Podcast hörst. Das Ding ist, dass in dem Sutra und im Yoga überhaupt auch eben faktisch auch ganz viele Themen besprochen werden, die dazu einladen, diese eben auch komplett zu verschwurbeln. Wir erleben leider, dass die Yoga-Szene offenbar ganz schön anfällig ist für bedenkliche Verschwörungs- und Verschwurblungstheorien. 

Ich glaube, das hängt auch damit zusammen, dass Yoga ein großes Gefäß ist, in das man alles mögliche füllen kann. Dazu gehört leider auch der Missbrauch des Meister- und Guruprinzips, das Ignorieren von Wissenschaft und der Glaube an vermeintliche Prinzipien und Wirkungen, und auch die Verdrehung des Freiheitsbegriffs im Yoga für die eigene Ideologie. 

Yoga ist der Weg zur Freiheit. Ja. Aber der Freiheitsbegriff im Yoga ist keine Rechtfertigung für Verschwörungsglauben und Diktaturgelaber. Fürs Protokoll möchte ich hier einmal klar unterstreichen, dass die Freiheit des Einzelnen, auch der Yogis, nicht ein Gegensatz sein kann zu der Freiheit der Gesellschaft, in die wir ja alle mit Regeln und Verantwortungen eingebunden sind. Der Freiheitsbegriff im Yoga ist — wie schon oft hier ausgeführt — ein Weg nach innen, ein Weniger-tun, und bedeutet nicht, alles tun und lassen zu können, auch wenn es anderen schadet. Die yamas, die guten Regeln um Umgang mit anderen, stellen nicht umsonst das erste Glied des achtfachen Wegs dar. Erst einmal haben wir Verantwortung für unserer Rolle in der Gesellschaft, und das bereitet den Boden für die Freiheit des Individuums. Und nicht umgekehrt. 

Das ist Yoga.

Teil 71 – „Mein Herz schlägt“ – Intuition und Herz

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Unsere Intuition und unser Herz sind die weiteren Zielpunkte unserer konzentrierten Aufmerksamkeit. Und dieser noch tiefere Blick nach innen kann uns sehr viel verraten über unser Bewusstsein und unseren Zustand.

Et Hätz, wie der Kölner sagt, das Herz und die Intuition werden uns in dieser Folge begleiten.

YS 3.33 prātibhād-vā sarvam

Durch Meditation auf die Intuition entsteht Wissen über alles. 

Ich glaube, das ist das kürzeste Sutra überhaupt. „Durch Meditation“ steht schon gar nicht mehr im Originaltext. Das Wort saṃyama, also die Versenkung, die Meditation, taucht gar nicht mehr auf. Mittlerweile sind die vorgeschlagenen Meditationen wirklich wie eine Spiegelstrichliste. Denn ganz wörtlich übersetzt heißt diese Sutra: „Oder auf das Intuitive. Alles.“ 

Prātibha ist auch ein Wort, dass sehr von der Perspektive der Übersetzung abhängt. Es kann intuitiv, göttlich oder höher und vieles mehr bedeuten. Intuition trifft es, glaube ich, in Abgrenzung zu iśvara, dem göttlichen Prinzip am besten. Denn wir sind hier bei den Fähigkeiten, die wir durch Meditation entwickeln können. Und im Gegensatz zur Hingabe an das Höhere, an das Göttliche, ist die Intuition ja die Hinwendung an das innere Wissen. 

Gleichwohl ist intuitives Wissen ja eine Kraft, die wir alle als besonders oder erweiternd und erhöhend empfinden. Intuition in dem Sinn, das Richtige zur wissen und klar zu schauen — das ist etwas, von wir alle gerne mehr hätten, oder? Oder doch nicht? Die Intuition, so wie wir das Wort gemeinhin verstehen, kann ja auch leicht mal ein bisschen klugscheißerisch sein. Nicht selten ist die Intuition ja etwas, was man immer erst nachher weiß, oder? Das war einfach Intuition, sagt man dann. 

Was ist das also, Intuition? Und kann man das üben? Im Yoga wollen wir ja nichts dem Zufall überlassen, auch nicht die Intuition (man verzeihe mir diesen kleine Yoga-Joke). Wir wollen unseren Geist anjochen, ihn bändigen, ihn nicht ausufernd werden lassen. Intuition ist da nicht ausgenommen. Denn im Verständnis des Yoga liegt die Quelle für die Verbindung mit höheren inneren und äußeren Fähigkeiten ebenfalls im Geist. 

Die Idee ist also, die Reihenfolge zu ändern: Die Intuition soll uns nicht willkürlich begegnen und helfen, sondern wir wollen Kraft unserer meditativen Erkenntnis die Intuition als eine Fähigkeit entwickeln.

Im nächsten Sutra geht es — und wir bleiben hier bei der Spiegelstrichliste — um das Herz:

YS 3.34 hrḍaye citta-saṁvid 

Durch Meditation auf das Herz entsteht Verständnis über das Wandelbare des Menschen, also unser Bewusstsein.

Oh, noch ein kürzeres Sutra! Die wörtliche Übersetzung wäre: „Auf das Herz, Bewusstseinserkenntnis“.

Das Herz. Ach . Tiefer nach innen geht es kaum. Das Herz, in allen Kulturen und Zeiten bewundert, besungen, bestaunt, gefürchtet. Der Herzschlag, unser Takt, der Beweis, dass wir leben und lieben. Das Organ, das uns jeden Tag hilft, uns unserer Selbst bewusst zu sein. Faszinierend! 

Ich will Euch eine kleine persönliche Geschichte erzählen: 

Älter werden hat viele Vorteile, unter anderem, dass man sich gegen Mitte der 50er Jahre als Mann mal zu der ein oder anderen Vorsorgeuntersuchung begeben darf. Jungs! Nicht vergessen! Blutwerte, Darmspiegelung, Herz-Kreislauf, EKG so’n Zeug halt. Hatte ich neulich. Und was soll ich sagen: ich lag beim Kardiologen auf der Pritsche und durfte zuschauen, wie dieser mein Herz im Ultraschall untersuchte. Ganz großes Kino!

Zum Glück war auch alles in Ordnung. Leute, mal so die Herzklappen in Arbeit zu sehen, das fortwährende Pumpen und Ansaugen der Herzkammern. Unablässig, fleißig, zuverlässig, Papaam, papaam, papaam. Solange Du lebst. Da kann man schon ins Philosophieren kommen. Warum tut es das? Wer gibt den Zündfunken? Was triggert diese Kraft, zu leben? 

Und dann sagt der Arzt: Sie sind doch Yogi, sie können doch den Herzschlag mit der Atmung steuern. Ja klar, dazu muss man kein Yogi sein. Also atme ich super ruhig Ujayi Atmung aus, schön lang. Und Du siehst und spürst, wie das Herz langsamer schlägt. Und dann die Aufregung der Einatmung. Und das Herz schlägt schneller. Papaam, papaam, papaam.

Unser Herz und unser Bewusstsein bilden eine unauflösliche Einheit. Über unser vegetatives Nervensystem und unseren Atem aufs Engste abgestimmt – folgt das Herz dem ruhigen oder unruhigen Geist und eben auch umgekehrt. Wenn wir unserem Herzen nachspüren, und unsere Konzentration auf das Herz ausrichten — so verstehe ich dieses Sutra — dann öffnen wir den direkten Kanal zu unserem Geist, unserem citta. Und wir können erkennen, was uns treibt oder beruhigt oder beunruhigt. Das Herz spiegelt das wandelbare Bewusstsein und reflektiert dieses sogleich zurück. Den Geist zu beruhigen durch die Meditation auf das Herz, das ist Yoga.

Teil 72 – Ashram oder Achterbahn? – YS 3.35 – 3.36

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Wir sind zumeist in unserem Leben mit unseren Energien vor allem nach außen gerichtet, voller Ablenkungen und Begierden, immer auf der Suche nach dem nächsten Kick. Das ist Bhoga, das Gegenteil von Yoga. Wie kann es uns gelingen, mehr zu uns zu kommen, zu dem, was wir wirklich brauchen?

Na? Bist du heute ein Yogi oder ein Bhogi? What? Heute geht es um Ashram oder Achterbahn. 

YS 3.35 sattva-puruṣāyoḥ atyantā-saṁkīrṇayoḥ pratyayāviśeṣo-bhogaḥ para-arthat-vāt-sva-arthasaṁyamāt puruṣa-jñānam 

Äußeres Vergnügen basiert auf der mangelnden Unterscheidung zwischen der physischen Welt und dem wahren Selbst, obwohl diese äußerst verschiedene Wahrnehmungen sind. Wissen über das wahre Selbst entsteht durch Meditation auf die Interessen des wahren Selbst anstatt äußerer Interessen.

Ich übersetze es mal etwas freier: Meditiere und lerne, Dich auf das zu konzentrieren, was Du wirklich brauchst, anstatt Dich immer wieder zu betäuben und abzulenken mit oberflächlichen Dingen.

Aber was ist das, was Du wirklich brauchst? 

Die Yogis haben darauf eine klare Antwort: Alles, was Du brauchst, findest Du in Dir, durch Reduktion, Meditation und Atmung. Für gute Rahmenbedingungen musst Du natürlich sorgen, damit Du nicht gestört wirst und Du musst Dich um Deine Gesundheit, Schmerzfreiheit, gute Nahrung und Sauberkeit und noch ein paar andere Dinge kümmern. Aber dann beginnt die Reise nach Innen. Und diese Energielenkung wird zu einer Transformation Deines Geistes führen und Dich mit der kosmischen Energie, mit Deinem wahren Selbst, mit puruṣa verbinden, und Dich befreien. 

Puruṣa hat viele Übersetzungen und Erklärungen, aber ich verstehe die Gelehrten so, dass sich alle darauf einigen können, dass es mehr ist als das materielle Ich, das uns mit dem großen Ganzen verbindet. 

Tatsächlich aber sieht unser „normales“ Leben ja gar nicht so aus, wie hier beschrieben. Wir sind geblendet, unwissend, abgelenkt, unruhig, müde, ängstlich, aufbrausend, oder auch super happy, mutig, aufgereizt und aufgekratzt. Wir halten Sachen für wichtig, die aber gar nicht wichtig sind und sind zu stolz, Irrtümer zu erkennen. Wir reisen eigentlich im Blindflug durch unser Leben – aus reiner Yogaperspektive jedenfalls. Wir sind so überladen mit Schund und Ablenkung, dass wir unser „Wahres Selbst“ nicht freilegen können oder wollen. 

Wir haben schon viele dieser Aspekte in den vergangenen Folgen untersucht, und hier wird das noch einmal zusammengefasst und daran erinnert, dass es aber eigentlich darum gehen sollte. 

Denn dann wirst Du ein Yogi, eine Yogini. Und kein Bhogi und keine Bhogini, die nur dem oberflächlichen äußeren Dingen hinterherlaufen. 

Klingt irgendwie anstrengend und ermahnend zugleich, oder? 

Bhoga ist das Gegenstück zu Yoga. Das reimt sich auch schön. Das ist alles, was ich oben beschrieben habe. Ablenkung, Vergnügen, aber neutraler formuliert auch die „Erfahrung“.

Unsere Energie zerstreut sich oft in alle Richtungen und wir sind auf der Suche nach dem nächsten „Kick“, und rennen den Dingen hinterher, die uns schnelles Vergnügen sichern. Höre ich das Wort „Schokolade“?

Also Ashram oder Achterbahn? 

Wenn ich auf mein eigenes Leben schaue, dann muss ich wohl sagen, dass ich meistens in der Achterbahn sitze und nicht im Ashram. Das muss nicht schlecht sein. Ich fühle mich durchaus wohl. Die Liebe, das volle Leben, Familie, Kinder, Enkel, Freunde, Jobs, Unternehmen und Unternehmungen, Feiern, Freuen, Demonstrieren, Engagieren, Fussball, Faulenzen, Techno, Tennis, Thailand, Kochen, Reisen, Wandern. Bei Dir mag das ja anders sein. Oder? Nee, doch nicht? Erwischt. 

Ich bin dem Yoga seit so langer Zeit verbunden, gerade weil ich hier das Konzept für den Gegenentwurf zu meiner Achterbahn finde. Es ist aber auch interessant zu beobachten, dass viele Yogastile, die in Deutschland sehr populär sind, besonders aktive Stile sind: Ashtanga, Bikram, Vinyasa, um nur drei zu nennen. Stressiges Yoga für gestresste Menschen. Oder wie es einer meiner Lehrer – Bryan Kest – es so schön sagt: „If you bring your shit to the mat, you turn your yoga into shit.“ Brauche ich glaube ich nicht zu übersetzen, ne? 

Wie jetzt? Wir üben Yoga, um die Abgelenktheit und Zerstreutheit des Geistes zu überwinden, und lenken uns dann genau mit Yoga wieder ab? Joa, ist mal ne These oder? Ich will hier also gar nicht moralisieren über Schokolade, Konsum und Ablenkung, sondern nur mal etwas selbstkritisch fragen, ob wir das Yoga-Bhoga Thema nicht genau in den Yogastudios auf den Matten dieser Republik finden. Und noch die teuerste schickste Matte dazu für 89 EUR dazu, und Klamotten, die Dir das perfekte āsana ermöglichen im Retreat Deiner Wahl auf Goa.

Nein ich mache mich nicht darüber lustig. Nein, wirklich nicht. Es ist, was es ist, und der Wille zählt. Um Fortschritte im Yoga zu machen, müssen wir das sehen und ehrlich sein, sonst machen wir uns was vor. Scheinheiligkeit nennt man das.

Natürlich darf sich der Yogi dem Vergnügen hingeben! Er und sie sollten aber fein unterscheiden: der Charakter des Vergnügens sollte sattva entsprechen, dem reinen und wahren Vergnügen. Dem Vergnügen, das erhebt, das entwickelt und nährt. Tja, ha! 

Es ist eben ein Unterschied, ob ich eine fette Pizza mit Salami verschlinge (nicht satva) oder ein liebevoll gezüchtetes Gemüse dünste und genussvoll verspeise. Ach, da kommt die Moral doch wieder um die Ecke, haha.

Deswegen schauen wir abschließend auf YS 3.36

YS 3.36 tataḥ prātibha-srāvāṇa-vedana-ādarśa-āsvāda-vārtā jāyante

Daraus entstehen intuitives Hören, Fühlen, Sehen, Schmecken und Riechen.

Aha! Ta-tah! Also das ist der Lohn der Zurückhaltung: intuitives Hören, Sehen, Schmecken und Riechen. Wir sehen, wir schärfen unsere Sinneswahrnehmungen durch Wissen, über das, was wir wirklich brauchen. Das ist doch eine klasse Auflösung des moralischen Dilemmas.

Das ist Yoga.

Teil 73 – Das Runde muss erst ins Eckige! YS 3.38 – 3:39

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Der Körper ist Dein Tempel? Echt? Hören wir oft. Ist aber zumindest aus Sicht des Yoga-Sutra Quatsch. Du sollst in schätzen, ihn gut versorgen und rein halten, aber ansonsten: Geh mal lieber ein bisschen auf Distanz zu Deinem Tempel.

Große Teile des dritten Kapitels des Yoga Sutra bestehen aus Ausführungen zu verschiedenen Meditationstechniken. Wir haben schon gelernt, dass es sehr vielfältige Möglichkeiten gibt, durch Konzentration und Mediation tiefes Wissen zu erlangen über die Welt, unsere Psyche, unseren Körper und unsere Potenziale. Wir haben auch schon den Widerspruch erlebt, dass wir bei den höheren Stufen des achtfachen Pfads eigentlich schon nicht mehr im Übungsbereich sind, sondern im Bereich des Geschehen-Lassens, um dann doch wieder Übungsvorschläge zu bekommen.

Das Sutra seit eben nur bedingt eine Philosophie, es ist eben auch ein Übungsbuch und ein Handbuch für Unterrichtende.

Wir haben schon von soviel Meditationen, den saṃyamas, gehört.

Das war ja ´ne ganze Menge Holz, ne? Und dann muss man auch mal durchatmen und Pause machen, wie im Fussballstadion. Halbzeit. Alle mal frische Sachen anziehen, bisschen ausruhen. Was trinken. Und hören, was der Trainer sagt:

Und von Coach Patañjali gibt’s folgende Ansage in YS 3.37:

YS 3.37 te samādhav-upasargā-vyutthāne siddhayaḥ

Die wachsenden Fähigkeiten sind Hindernisse für die Versenkung, aber sie erscheinen den Übenden als vollkommen.

Ich liebe den Humor des Sutra. Wir halten mal inne, Leute, bevor es mit den nächsten Meditationen weitergeht. Was meint Coach Patañjali? Er sagt uns noch mal ganz klar, was wir hier machen, und um wen es geht. Es geht hier nicht um die, die ohnehin schon erleuchtet sind. Die sind schon durch und brauchen sich nicht mit dem Sutra aufzuhalten. Die Mahnung hier geht an die, die sich zunehmend für erleuchtet halten. Das ist eine schwierige Zielgruppe, denn sind nicht mehr gut erreichbar, weil sie sich zu viel einbilden. Diejenigen, die sicher sind, schon ganz außerordentliche Fähigkeiten durch Ihr Strebertum erworben zu haben. Da fühlen sich die neuen yogischen Fähigkeiten schon so special an, dass man sich nah am Ziel wähnt, zumindest aber besser und weiter als die anderen.

Um im Halbzeit-Kabinen-Sprech zu bleiben: Leute, bildet Euch nix ein. Das Spiel hier ist noch nicht gewonnen. Aufpassen jetzt. Schluß ist erst mit Abpfiff. Keinen Moment früher! Das Runde muss erst ins Eckige! Ich habe fertig.

Wann ist eigentlich fertig im Yoga? Es gibt ja keinen, der einem ein Erleuchtungszertifikat ausstellt oder einen Pokal überreicht. Doof eigentlich. Manche tun trotzdem so und wollen festlegen, welche ihrer Schüler und Schülerinnen das besonders toll machen und welche nicht. Eine übergriffige Manipulation in meinen Augen. 

Es gibt kein Gegenüber im Yoga, das sagt, „jetzt hast Du es geschafft“, „jetzt bist Du erleuchtet“ — denn diejenigen müssten ja selbst schon über den Punkt sein, logischerweise, um es beurteilen zu können. Das ist die Krux und die verborgene Komik im Sutra: Sollten wir jemals die Erleuchtung erreichen, hätten wir weder Mittel noch Bedürfnisse, das anderen mitzuteilen. Es ist eigentlich zum Totlachen.

Also: Klangschale, sein wachsam. Es ist erst die erste Halbzeit rum. Gleich ist auf’m Platz und es geht weiter mit den Meditationstechniken, 

YS 3.38 bandhakāraṇaśaithilyāt pracārasaṃvedanāc ca cittasya paraśarīrāveśaḥ

Durch Distanz des Geistes zum eigenen Körper und Erkennen, wie der Geist den Körper verlassen kann, kann man in einen anderen Körper eindringen.

Ach, das ist wieder so ein umwerfendes Sutra. Wir sehen, es geht gleich zur Sache. Die Distanz zum eigenen Körper, wörtlich durch „Lockerung der Bindungsursachen“ ist uns auf körperlicher Ebene schon mal bei sauca, der Reinigung begegnet. Es geht um Abstand zum Körper. Der Körper ist nicht der Tempel! Zumindest nicht bei Patañjalli. Wir wertschätzen ihn, ja. Wir wollen uns der Bindungen und Identifizierungen bewusst werden, der Verstrickungen, des Körpers mit dem wählenden Bewusstsein. Ne? Yogaś-citta-vṛtti-nirodhaḥ. Es geht um das Zur-Ruhe-Kommen-des Geistes! Immer wieder dran denken. Der Körper mit all seinen Bedürfnissen, Unwägbarkeiten, Ungereimtheiten und Zicken ist eher etwas, was wir versuchen, zu bändigen, damit wir uns um die Meditation kümmern können. Das ist ungenau formuliert, aber ich kann es nicht besser ausdrücken. 

Natürlich ist im Yoga der Körper kein Gegensatz zum Geist. Körper und Seele, diesen Dualismus zumindest gibt im Yoga nicht. Hindernisse auf dem Weg zur Erleuchtung gibt es dennoch überall. Das wissen wir ja schon. Da wir hier aber schon bei den besonderen Fähigkeiten sind, auf die wir uns aber bitte schön — siehe letztes Sutra — nicht zu viel einbilden sollten, geht es hier um die Fähigkeit zur Distanz, denn dann kann sich unser Geist herauslösen aus den Bindungen und sich in einen anderen Körper bewegen. 

Klingt irgendwie mal wieder etwas … spooky? Was ist gemeint? Empathie? Besitznahme? Manipulation? Perspektivwechsel? Ich weiß es nicht genau. Beziehungsweise, wenn ich es wüsste, würde ich es Euch nicht verraten.

Zunächst einmal bleibe ich bei mir, ich habe schon genug mit der Übung zu tun, mich mehr von meinen Ich-Identifizierungen zu lösen und mich nicht so wichtig zu nehmen. Du auch?

Das ist Yoga.

Teil 74 – Relax and enjoy – YS 3.39 bis 3.43

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Nichts ist nerviger, als verspannte und überehrgeizige Yogis. Also: relax and enjoy! Das Yoga-Sutra lädt Dich ein, die verschiedensten Wege zu probieren, Dir zu  helfen, den lauten Sound des ICHs etwas leiser zu stellen. 

Wir nähern uns langsam dem Ende des dritten Kapitels des Yoga-Sutra des Patañjali. Vibhuti Pada, über die besonderen Ergebnisse, die Menschen zuteil werden, die sich bedingungslos auf den Yoga-Weg begeben, beständig und gelassen üben, und so Schritt für Schritt die Ich-Identifizierung überwinden und das Tor zur inneren Freiheit aufstoßen.

Manchen Menschen ist das gegeben, manche müssen sich anstrengen und die allermeisten noch mehr als das. Patañjali macht uns nichts vor: Mühsam kann es sein, die Disziplin aufzubringen, den zahlreichen inneren und äußeren Hindernissen aus dem Weg zu gehen. Vermeintliche Fortschritte entpuppen sich als Eitelkeit, Rückschritte oder Widerstände verwandeln sich bei näherer Betrachtung in stille Helfer. Wir müssen uns um unser Verhältnis zu Welt kümmern, um unsere Beziehung zu uns selbst, um einen gesunden Körper und um unseren Atem. Dann ist das Feld bereitet für die tieferen Schritte der Konzentration und sogar der der Versenkung in Welten und Fähigkeiten, die sich nur noch subtil beschreiben lassen und die sich eigentlich schon einer bewussten Übung entziehen. Denn jedes Üben ist schon wieder ganz viel Wollen, Ziele, Mögen, nicht-Mögen, Bewerten. 

Du könntest geneigt sein, ab einem gewissen Punkt aufzugeben. Das ist mir doch zu hoch, das kann ich nicht schaffen, das ist ist mir zu radikal. Oder ich bin nicht gut genug, mein Wille ist nicht groß genug, meine Ausdauer nicht ausreichend. Aber auch diese Zweifel, so normal sie sind, spiegeln nur Dein Ego wieder. Es ist nicht wichtig, Dich selbst und schon gar nicht anderen auf ihrem Weg zu beurteilen. 

Es gibt auch keinen Richter oder Richterin, die ein Urteil über Dich fällen. 

Damit ist man auch irgendwie allein. Das ist so. Weil wir aber nicht allein sein wollen, weil wir Aufmerksamkeit und Liebe und Lob brauchen, verbinden wir uns mit Menschen, die uns das geben. Das ist ok. Aber in Wahrheit auch nebensächlich. Auch wenn wir heute schöne Yogagemeinschaften in den Studios bilden, auf Yoga-Festivals und Retreats die Community suchen und finden, dann ist das nicht der eigentlich Aspekt des Yogawegs. Der Yogaweg ist ein Weg des Rückzugs, eine Diät für den Geist. Auch das Ashram ist schließlich eben nicht ein Ort der Ablenkung, sondern lediglich einer, an dem die Rahmenbedingungen möglichst optimal sind, um sich zurückzuziehen. Ja, es gibt den Meister oder die Meisterin, die Dich begleiten mag oder auch nicht. Bei Patañjali gibt es übrigens diese Instanz mit keinem einzigen Wort. 

Und solltest Du dereinst die Erleuchtung erlangen, wird es womöglich keiner erfahren, denn warum solltest Du dann noch willens oder in der Lage sein, davon anderen zu berichten. 

Warum erzähle ich Dir das? Weil wir als Yogis im 21. Jahrhundert nach meiner bescheidenen Erfahrung uns immer wieder entspannen müssen bei der großen Aufgabe, nicht alles im Yoga so bierernst zu nehmen und einfach unser modernes Leben zu führen, aber andererseits auch die magische und spirituelle Kraft des Yogas zu wertschätzen und auch zu akzeptieren, dass wir unseren Weg zwischen diesen beiden Polen finden müssen. Nichts ist nerviger, als verspannte und überehrgeizige Yogis. Also: relax and enjoy! 

 So, nun kommen wir zu den heutigen Sutras, die aber irgendwie in ihrer skurrilen und paranormalen Art für sich stehen, so dass ich sie gar nicht mehr groß einordnen und kommentieren möchte, außer mit „relax and enjoy“.

YS 3.39 udāna-jayāat jala-paṇkha-kaṇṭakādiṣv-asaṅgo-utkrāntiśca

Durch Kontrolle über den aufsteigenden Atem entsteht Unberührbarkeit mit Wasser, Moor, Dornen und so weiter und der Yogi kann sich aus ihnen herauslösen.

YS 3.40 samāna-jayāj-jvalanam

Durch die Beherrschung des mittleren Atems leuchtet der Körper.

YS 3.41 śrotra-ākāśayoḥ saṁbandha-saṁyamāt divyaṁ śrotram 

Durch Meditation auf die Beziehung zwischen dem Hören und dem Raum entsteht die Fähigkeit, gottgleich zu hören. 

YS 3.42 kāyākāśayoḥ saṁbandha-saṁyamāt laghu-tūla-samāpatteśca-ākāśa gamanam

Durch Meditation in die Beziehung von Körper und Raum und die Verbindung mit der Leichtigkeit von Watte entsteht die Fähigkeit, sich schwerelos im Raum zu bewegen.

Kleine Zwischenbemerkung: Das ist das berühmte Levitations-Sutra! Geübte Yogis können nämlich schweben. Na, hast Du es gewusst?

YS. 3.43 bahir-akalpitā vṛttiḥ mahā-videhā tataḥ prakāśa-āvaraṇa-kṣayaḥ

Durch Meditation auf unvorstellbare äußere Gedankenwellen entsteht maximale Körperlosigkeit. Dadurch wird der Schleier vom wahren Selbst entfernt. 

So, sorry, fünf Sutras im Schnelldurchlauf, die zeigen, wie weit wir es treiben können mit den siddhis, den Fähigkeiten. Es kommen in der nächsten Folge noch mehr abgefahrene dazu, für heute soll es reichen. Noch mal: das Yoga Sutra ist eben auch ein magischer Text. 

Auch das ist Yoga.

Teil 75 – Spirituelles Marketing(?) – YS 3.44 bis 3.46

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Yoga und spirituelles Marketing? Also! Da reden wir die ganze Zeit über den Geist und Meditation und lernen nun in dieser Folge, dass die Vervollkommnung des Körpers doch die angesagte Challenge ist? Was hat es also auf sich mit den Siddhis, den magischen Fähigkeiten, die wir durch Yoga (vermeintlich) erwerben?

Heute widmen wir uns weiteren eher absonderlich scheinenden Fähigkeiten, die wir durch saṃyama, die tiefe Meditation erreichen können. Auf die Widersprüche, dass man ja eigentlich nichts erreichen will, wenn man sich auf dieser Ebene der Versenkung befindet, habe ich ja schon mehrfach hingewiesen, vor allem in der letzten Folge. Wir können uns also ganz schonungslos dem Zauber dieser Sutras hingeben. 

Ich habe heute drei Sutras, 3.44. bis 3.46 und ich fange mal von hinten an:

YS 3.46 rūpa-lāvaṇya-bala-vajra-saṁhananatvāni kāyasaṁpat

Die Vollkommenheit des physischen Körpers umfasst Schönheit, Anmut, Kraft und die Härte eines Diamanten. 

Wooohoooo! Da haben wir die ganze Zeit philosophiert über den Geist, das Bewusstsein, die subtilen Ebenen von yogaś-citta-vṛtti-nirodhaḥ und plötzlich geht es doch wieder um den physischen Körper, diese vergängliche Hülle, diese Falle für fehl geleitete Ich-Identifizierung? Ein Körper mit der Härte eines Diamanten? Tja, man ist nie vor Überraschungen sicher bei Patañjali.

Jetzt können sich endlich mal alle Power-Yogis, Schweißtreiber, Muskelmenschen und Fitnessfans angesprochen fühlen! 

Wenn wir alte indische Bilder studieren, auf denen Yoga-Übende abgebildet sind, dann können wir klar sehen, dass die Begeisterung für das Körperliche natürlich in allen Zeiten existent war. Die Bewunderung des asketischen und starken Körperbaus und eine sehr androgyne Männlichkeit sind Merkmale dieses Ideals.

Die Vollkommenheit des physischen Körpers ist kāyasaṁpat, was wörtlich heißt „Körpererfolg“. Yoga-Sutra 3.44 und 3.45 beschreiben die Voraussetzungen für diesen Erfolg. Und die Voraussetzung ist natürlich eine Meditation:

YS 3.44 sthūla-svarūpa-sūkṣma-anvaya-arthavattva-saṁyamāt bhūtajayaḥ

Die Meditation auf das die grobe Gestalt, die wahre Natur und feine Gestalt, und die Beziehung und Sinnhaftigkeit führt zur Meisterschaft über die physischen Elemente.

YS 3.45 tato-ṇimādi-prādurbhāvaḥ kāyasaṁpat tad-dharānabhighātśca

Daraus entsteht die Fähigkeit, scheinbar verschwindend klein zu werden, und den vollkommenen physischen Körper zu erreichen und unverletzbar zu werden.

In der letzten Folge habe ich schon das Wort „paranormal“ benutzt und hier wiederhole ich es noch mal. Die Beherrschung der materiellen Welt, der physischen Elemente vom Gröbsten bis zum Feinsten und somit die Kontrolle über den Körper bis hin zu Unverletzlichkeit. Doller gehts ja nicht mehr. Es ist schon fast irgendwie pubertär, oder? Irgendwie passt es auch gut zur Challenge-Kultur der Neuzeit. 

Wollte man damals einfach auch Yoga mit solchen Versprechen interessant machen? Ich habe mich schon oft gefragt, warum diese paranormalen Fähigkeiten, die man vermeintlich durch saṃyama erreichen kann, so katalogartig ausgebreitet werden im Sutra. Klar, es gibt auch heute die Yogis, die fest davon überzeugt sind, dass das wörtlich zu nehmen ist. Aber die gibt es ja immer. Quellenkritisch betrachtet ist es nicht von der Hand zu weisen, dass ein Grund für die Proklamation paranormaler Fähigkeiten auch im spirituellen Marketing liegt.

Yoga will eben auch Schüler gewinnen, vor allem junge männliche Adelige oder besser gesagt Männer aus der Priesterkaste. Und mit solchen Heilsversprechen kann man natürlich junge Schüler gewinnen. Klingt Dir zu salopp? Mag sein.

Aber hey, Yoga war in der Zeit, als das Sutra entstand in starker Konkurrenz zum Buddhismus, das hatte ich ja schon mal an anderer Stelle erwähnt. Der Buddhismus war unglaublich erfolgreich und die alten vedischen Yogatraditionen mit ihren endlosen schwierigen Texten, Riten und Götter wirkten gegen die Frische und Klarheit des Buddhismus angestaubt. Buddhas körperliche Schönheit und Reinheit war ein wichtiger Bezugspunkt und ein anzustrebendes Ideal und dieses wird auch in buddhistischen Texten deutlich betont. Dankenswerterweise weist uns der Wissenschaftlicher Pradeep Gokhale auf diese superinteressanten Zusammenhang zwischen Patañjali Yoga und Buddhismus hin. 

Damit wir uns richtig verstehen: wenn wir uns dem alten Yoga widmen, dann haben wir es eben mit genau so Menschen zu tun, wie wir es heute sind. Zu erkennen, dass auch damals schon pragmatische Motive hinter spirituellen Texten stehen, wertet Yoga ja nicht ab. Im Gegenteil: Es holt das Yoga von damals näher an uns heran, in all seiner Vielfalt, seinem historischen Kontext, aber auch seinen Widersprüchen und Skurrilitäten. 

Auch das ist Yoga.

Teil 76 – Die subtile Meisterschaft

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Wir schauen aus unserem Schädel rausund versorgen unser Bewusstsein mit einem kontinuierlichem Strom von Eindrücken, die aus der äußeren und der inneren Welt stammen, und unser Selbst kreieren. Ist dieses Selbstbildnis identisch mit unserem wahren Selbst?

Heute widmen wir uns einmal mehr dem „wahren Selbst“, dem wir durch Yoga und Meditation auf die Spur kommen wollen oder besser auf den Grund gehen wollen. Das trifft es besser. Denn in der Vorstellung des Yoga ist das wahre Selbst überlagert und überdeckt mit allerhand Schichten und Ablagerungen, die man erst mal beiseite räumen muss. Schichten und Ablagerungen unseres Geistes oder praktisch gesprochen die zigBillionen Eindrücke und Wertungen, die uns eine Vorstellung von uns selbst und unserer Identität geben. Dieses Selbst benötigt zur Erkenntnis ein Wahrnehmen von inneren Erlebnissen, wie z.B. Gefühlen sowie von äußeren Erlebnissen. Okay, das ist ein bisschen abstrakt.

Wir gehen durch die Welt und erleben ganz viel, jeden Tag, selbst wenn wir vielleicht meinen, dass gar nicht so viel passiert. Unsere bewusste Intelligenz gibt uns das Gefühl, dass wir im Besitz dieser Eindrücke sind. Was ist damit gemeint: Na ja, man sagt ja z.B.: das habe ich erlebt. Das bin ich. Das ist mein Gefühl. So bin ich. Das gehört einfach zu mir. usw. 

Unser vom Geist konstruiertes Selbst wähnt sich im Besitz des eigenen Lebens. Diese geistige Inbesitznahme ist aber eben ein manipulierbares Konstrukt, es beruht auf „Bildern und Karten“ von uns selbst. Wir leben sozusagen mit einem eingebetteten Navigationssystem, das permanent upgedatet wird. Das ist meine Vergangenheit, das ist mein Leben und das wird meine Zukunft sein – oder auch nicht. 

YS 3.47 zielt auf dieses Thema:

YS 3.47 grahaṇa-svarūpa-asmitā-avaya-arthavattva-saṁyamāt-indriya jayaḥ

Durch saṃyama auf den Zusammenhang zwischen der Wahrnehmung von sich selbst und dem Ich-Bewusstsein beherrscht man die Sinne.

Dieses Sutra zeigt uns in aller gebotenen Sutra-Kürze und -Würze auf, dass wir uns folgender Illusion immer klar sein müssen: Die Frage, wie bzw. als wer wir uns wahrnehmen ist etwas anderes, als das, was uns wirklich ausmacht. Das gilt letztlich für alle Objekte der Wahrnehmung. 

Wir schauen aus unserem Schädel raus und versorgen unser Bewusstsein mit einem kontinuierlichem Strom von Eindrücken, die aus der äußeren und der inneren Welt stammen und unser Selbst kreieren. 

Für uns selbst und für alles andere gilt, dass das Wahrgenommene nicht der wahren Natur der Dinge entspricht, sondern immer eine Einfärbung durch die Brille unseres interpretierenden Geistes hat.

Der „Lohn“ dafür, wenn wir diese beiden Qualitäten zu unterscheiden lernen, wird im nächsten Sutra beschrieben:

YS 3.48 tato mano-javitvaṁ vikaraṇa-bhāvaḥ pradhāna-jayaś-ca

Daraus entsteht die Schnelligkeit des Geistes, Befreiung von den Sinnesorganen und die Meisterschaft über die Materie.

Hier haben wir wieder so ein paranormales, magisches Versprechen: die Meisterschaft über die Materie. Ich habe aber auch den Verdacht, dass hier die Übersetzer immer wieder einer bestimmten magischen Übersetzungstradition folgen und diese Übersetzungstendenz besonders lieben. Mögen mich bitte die Experten und Sanskrit-Gelehrten korrigieren, aber nach dem, was ich aus der wörtlichen Bedeutung entnehme, kann man dieses Sutra auch so übersetzen: „Dadurch entsteht Geistesschnelligkeit, eine veränderte Existenz und Verstandsbesiegung.“ „Bhāva“ ist „das Sein“, „die Natur“, „der Zustand“, „die Existenz“ und kann noch mindestens zehn andere Bedeutungen haben. Ich notiere das hier, damit wir nicht vergessen, dass auch schon die Übersetzung, oder besser „Übertragung“ des Sutra ins Deutsche eine gewagte Interpretation darstellt. 

In jedem Fall aber, das ist klar, geht es einmal mehr darum, besser zu unterscheiden, was wir zu sehen glauben, und der eigentlichen Qualität des Wahrgenommen, der wahren Natur der Dinge, und dem wahren Selbst. Das betont und erweitert auch das dritte Sutra für heute, YS 3.49:

YS 3.49 sattva-puruṣa-anyatā-khyātimātrasya sarva-bhāvā-adhiṣṭhātṛtvaṁ sarva- jñātṛtvaṁ ca 

Nur aus der Erkenntnis des Unterschiedes zwischen der physischen Welt und dem wahren Selbst entsteht Meisterschaft über die Gefühle und Allwissenheit. 

Ist es so, dass jegliche Meisterschaft immer den Aspekt der Kontrolle beinhaltet? Der Tischler-Meister, der sein Material beherrschen muss, die Schmiede-Meisterin, die die Flamme beherrscht, mit dem sie aus einem Klumpen einen Ring formt? Oder die Meisterschaft des Wortes, die die Kontrolle über die Gedanken braucht? Der meditierende Yogi, der mit seiner Super-Power der Gefühlsbeherrschung das getrübte Selbst durchbricht und zum wahren Kern vorstößt?

Am Ende ist jede Form der Meisterschaft etwas sehr Subtiles, etwas, das sehr nach innen geht, dass letztlich keiner Show und erst Recht keiner Abgrenzung oder Besserwisserei bedarf. Eine Meisterschaft, die aus sich selbst schöpft, und die letztlich keine Bestätigung von außen braucht. 

So können wir auch die Siddhis verstehen, die Super-Power des Yoga: sie beleuchten verschiedene Aspekte der körperlichen und geistig-mentalen Meisterschaft, die ihre subtilen Kräfte entfalten und die Verhaftung mit den üblichen Mustern und Identifizierungen auflöst. 

Das ist Yoga.

Teil 77 – Hochmut kommt vor dem Fall

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Hochmut kommt vor dem Fall. Guck mal, was ich kann! Wenn wir zu stolz sind und uns zu viel einbilden, auch auf unsere Yoga-Praxis, dann entfernen wir uns um so mehr von der Freiheit, die Yoga verspricht. Darum geht es in YS 3.50 und 3.51.

Während wir uns langsam  aber sicher dem Ende des dritten Kapitels des Yoga-Sutra über die besonderen Fähigkeiten nähern, erinnere ich mich gerade an die Anfänge dieses Podcast-Projekts: Ich hatte damals den Weg zur Befreiung, um den es ja im Yoga geht, verglichen mit einer langen Wanderung, erinnert Ihr Euch? 

Damit der Aufstieg zum Gipfel funktioniert, mussten wir an unserer Vorbereitung arbeiten, die richtigen Karten und Hilfen haben, vor allem aber mussten wir uns auch wirklich auf den Weg machen, allen Unwägbarkeiten und Hindernissen zum Trotz. Und jetzt schau, wie weit wir gekommen sind. 

In dieser Phase, wo das meiste schon — vermeintlich — hinter uns liegt und das Ziel so nah scheint, schaltet sich Patañjali, unser großer Dramaturg und Reiseführer, noch mal ein mit einer Verlockung und einer großen Warnung. 

YS 3.50 tad-vairāgyād-api doṣa-bīja-kṣaye kaivalyam 

Durch Nichtanhaftung selbst an diese (besonderen) Fähigkeiten wird der Same zu jeglichem Anhaften eliminiert und der Yogi erlangt die Befreiung.

Das Buzzword hier ist kaivalya – kaivalya tauchte schon einmal auf, in YS 2.25 und war auch da schon das Versprechen auf die Befreiung, nach dem Überwinden aller Hindernisse. Kaivalya ist hier zugleich auch das Preview auf das bald folgende vierte Kapitel, denn es trägt den Namen Kaivalya Pāda – über die Befreiung. 

Kaivalya ist hier also dramaturgisch das Scharnier, um das sich unsere Bemühungen drehen. Je größer der Hebel ist, den wir an dieses Scharnier ansetzen, desto gewaltiger sind die Auswirkungen. 

Welche Freiheit meinen wir? Befreiung von was? Kann Freiheit bedeuten, tatsächlich den Gipfel zu erreichen, um im Bild der Wanderung zu bleiben. Und dann? Stehste oben, guckste runter, isst ein Brot und `ne Banane und trägst Dich ins Gipfelbuch ein? Ich war hier! Boah! Muss ich auch wieder runter? 

Die Antworten auf diese Fragen werden wir in den nächsten Folgen studieren. Doch vorher gibt uns Patañjali noch die damit verbundene Warnung: Du hast nichts erreicht, wenn Du denkst, Du hättest es geschafft mit all deinen angehäuften Yogi-Fähigkeiten und deinen magischen und was-weiß-ich-paranormalen Talenten. Das ist alles Schall und Rauch. Denn, das sagt YS 3.50 ganz klar: das sind auch nur wieder Ergebnisse Deiner Anhaftung, auf die Du Dir nichts einbilden solltest. Sie sind nur äußerer Schein und bestenfalls Hilfsmittel und dürfen nicht mit dem eigentlichen Ziel verwechselt werden. Dann passiert nämlich das, was uns allen, Dir und mir immer wieder passiert im Leben: Wir bilden uns was ein und werden eitel. Guck mal, was ich kann! Genau das müssen wir überwinden. Und irgendwie finde ich es tröstlich, dass Patañjali dieses große Warnschild auch denjenigen Yogis noch mal auf den Weg stellt, die schon viel weiter gekommen sind mit ihrer meditativen Praxis, als ich es je sein werde. 

Kaivalya also, die Befreiung, dieses große Wort. Ich habe schon Leute getroffen, die sich kaivalya als spirituellen Namen hinzufügen. Also so „Michael Kaivalya Wiese“. Wow! Klingt nicht schlecht. Nee, doch lieber nicht. Kaivalya hat — weil es so zentral ist — natürlich auch wieder zahlreiche Übersetzungen. Hier ein paar zur Auswahl: Befreiung, Zustand permanenten Glücks, Freiheit, vollkommene Unabhängigkeit, Loslösung, Blo?heit, für-sich-sein, Alleinsein, Isoliert-Sein. 

Allen Übersetzungen gemein ist, dass es um das Reduzieren, nicht das Anhäufen geht. Kaivalya lässt sich nur innen finden, es braucht kein Gegenüber mehr, es ist die höchste Stufe von vairāgya, dem Loslassen. Isoliertsein z.B. würden wir wohl eher nicht als anstrebenswerten Zustand definieren, aber eigentlich es es genau das. 

YS 3.51 sthāny-upa-nimantraṇe saṅga-smaya-akaraṇaṁ punar-aniṣṭa-prasaṅgāt

Auch wenn hohe Wesen ihn bewundern, soll der Yogin sich nicht von Stolz verleiten lassen, denn das führt ihn womöglich erneut in unerwünschte Verstrickungen.

YS 3.51 macht es noch mal überdeutlich klar, falls man die Message aus YS 3.50 doch überblättert haben sollte: Hochmut kommt vor dem Fall. Selbst wenn „hohe Wesen“, also Wesen, deren Lob, Bewunderung und Bestätigung Du vielleicht besonders suchst, ihr warmes Licht der Beachtung über Dir ausbreiten, sollst Du cool bleiben und Dich nicht dem Stolz hingeben. Denn Stolz ist nur die nächste Quelle für unendliche Verstrickungen und Anhaftungen. 

Ja, was denn dann? Meine Güte. Jetzt bin ich schon am Gipfel, soll ich wieder umkehren? Wisst Ihr was, ich pack jetzt schon mal mein Brot aus, und esse ein bisschen was, trinke einen Schluck Wasser und kümmere mich um mein Wohlergehen. Dann sehe ich weiter. 

Das ist auch Yoga.

Teil 78 – Sei nicht der Tropfen, sei Wasser – YS 3.52 – 3.55

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Sei nicht der Tropfen, sei Wasser! Wir steuern Richtung kaivalya, der bedingungslosen Freiheit, die keines Gegenübers mehr bedarf, die kein Zurschaustellen duldet. Darum geht es in YS 3.52 und 3.55.

Der letzte Teil des dritten Buchs des Yoga-Sutra umfasst vier Sutras. Sie beschreiben nicht wirklich etwas, was uns nicht schon auf dem Weg begegnet wäre, sondern sind ein bisschen wie eine Synopse der vergangenen Erkenntnisse zu Meditation und Versenkung. 

Wir steuern Richtung kaivalya, der bedingungslosen Freiheit, die keines Gegenübers mehr bedarf, die kein Zurschaustellen duldet und die sich über das Gebunden-Sein des Menschen heraushebt. Nach Erlangung dieser Freiheit kommt nicht mehr viel und alles, was vor einem lag, ist schon entschwunden. Das sind letztlich wieder philosophische Konzepte, die sich allen, die das Sutra lesen und kommentieren, auch wenn sie noch so fortgeschrittene Yoga-Übende sind, zunächst einmal nicht praktisch, sondern eher theoretisch erschließen. 

Denn noch einmal: Sollte ich, solltest Du oder jemand anderes diese völlige Loslösung jemals erreichen, gäbe es sicherlich keine Notwendigkeit mehr darüber zu berichten. Und der Umkehrschluss ist eben auch zulässig: wer — wie ich  — mit bescheidenen Mitteln versucht, diese tiefen Ebenen der Versenkung zu durchdringen, hat sie selbst noch nicht erreicht. Macht nix. Philosophie ist immer ein Streben nach dem höchsten Ethos, dem absoluten wahren Wissen. Wenn ich die Erkenntnis dann mit dem realen Leben abgleiche, dann ist natürlich die Kluft zwischen der Erkenntnis und dem eigenen Handeln groß. Ganz klar.

Hier kommt in der Yoga-Philosophie das Werkzeug der Unterscheidungskraft – viveka – ins Spiel. Die letzten vier Sutras versuchen widmen sich dieser Kraft und dieser Fähigkeit, die uns hilft, die Lücke zwischen Anspruch und Realität zu verkleinern, oder gar zu schließen.

YS 3.52 kṣaṇa-tat-kramayoḥ saṁyamāt vivekajaṁ-jñānam 

Durch Meditation auf den Moment und seine Abfolge entsteht Wissen, das auf Unterscheidungskraft beruht. 

Viveka, die Unterscheidungskraft, ist uns bereits in YS II.26 begegnet. Gemeint ist die Unterscheidung zwischen Wahrheit und Verblendung, zwischen Illusion und klarem Durchblick, zwischen Identifizierung mit dem Ego und dem wahren Selbst. Darüber haben wir schon viel gehört. Viveka kann auch Dein Alltagsbegleiter sein. Selbst wenn wir hier über die höheren Sphären des Yoga-Wegs reden, spielt viveka auch in der alltäglichen Yogaübung des Alltags eine große Rolle: Denn Unterscheidungskraft kann man üben. 

Viveka trainieren wir durch Konzentration auf den Faktor Zeit. Was ist das eigentlich: Zeit?

Die Fokussierung auf den Moment, also den gegenwärtigen Augenblick — auf Sanskrit kṣaṇa — gilt im Yoga als Königsdisziplin. In Wahrheit können wir gar nichts anders wahrnehmen als den Moment, und dennoch wissen wir alle, dass wir die Gegenwart nicht wirklich festhalten können, da sie dann schon wieder Vergangenheit ist. Der Moment ist flüchtig. 

Das ist das Dilemma. Stell Dir vor, Du könntest jeden einzelnen Moment bewusst wahrnehmen! Manchmal, wenn der Kopf frei ist und unser Herz rein und ruhig, dann kann es passieren, dass wir im Flow der Gegenwart fließen. Sobald wir das allerdings bemerken, ist es auch schon wieder vorbei.

Hier fokussiert viveka auf den Faktor Zeit. Also nochmal die Frage: Was ist das eigentlich: Zeit? Die bessere Frage wäre: Wie entsteht Zeit? 

Zeit entsteht durch Bewegung von einem Moment zum nächsten. Zeit ist eine unendliche Abfolge von Momenten, wie Perlen auf einer Kette. Die eigentlichen gegenwärtigen Momente wiederum sind unendlich. Was gleich erscheint, sind dagegen die Objekte, mit denen wir uns verbinden. Ein Tisch ist ein Tisch ist ein Tisch, oder? Der gleiche Tisch jetzt, der er auch vor einer Sekunde war. Das ist aber eben nicht so. Die Zeit ist der Faktor, der immer wieder alles neu mischt. Das steht im nächsten Sutra.

YS 3.53 jāti-lakṣaṇa-deśaiḥ anyatā-anavacchedāt tulyayoḥ tataḥ pratipattiḥ

Dadurch, also durch Mediation auf den Moment und seine Abfolge, wird das sonst wegen Ähnlichkeiten der Gattungsarten, Erscheinungen und Positionen Ununterscheidbare als unterschiedlich wahrgenommen.

Die Bewegung von einem Moment zum nächsten kreiert die Zeit. Der Tisch von vor einer Minute ist nur ähnlich dem Tisch von jetzt. Wer lernt, seine Unterscheidungskraft zu schulen, lässt sich nicht von den vermeintlichen Erscheinungen täuschen. Aber okay, es geht natürlich nicht um den Tisch, oder besser: nicht nur. Sondern was sagt das über unsere Existenz, unser Bewusstsein, unseren Geist aus? Viveka, die Unterscheidungskraft, ist sozusagen der Master-Schlüssel für alle Meditationen. Viveka ist bedeutet, das permanente Sich-damit-abfinden, dass wir in allem, was wir wahrnehmen, immer nur einer Täuschung aufsitzen. Deswegen sagt YS 3.54:

YS 3.54 tārakaṁ sarva-viṣayaṁ sarvathā-viṣayam-akramaṁ-ceti vivekajaṁ jñānam

Wissen, das auf Unterscheidungskraft basiert, überstrahlt alle Objekte, auf alle Weisen und zu allen Zeiten.

Und dann, Tusch und Finale im abschließenden Sutra, kaivalya, die völlige Loslösung:

YS 3.55 sattva-puruṣayoḥ śuddhisāmye kaivalyam iti

Befreiung entsteht, wenn die Reinheit der physischen Natur dem wahren Selbst ähnlich wird.

Hier sehen wir ein sehr klassisches Motiv der indischen Philosophie, das das dritte Buch abschließt. Puruṣa ist das, was den Menschen menschlich macht. Das ist seine wahre Natur. Und diese Natur erkennen wir, wenn wir unsere physische Natur von all den Verblendungen und Verirrungen, die letztlich im Geist begründet liegen, befreit und gereinigt haben. Was dann bleibt, fragst Du Dich? Versprich mir, dass Du es mir erzählst, wenn es Dir gelingt, okay? Ich lade Dich dann ein. 

Ich gehe noch mal auf mein Bild von der Gipfelbesteigung ein. Und in meinen Worten würde ich sagen: Ach so! Das Ding ist, ich muss gar nicht auf den Gipfel drauf! Der Gipfel ist eine Illusion, eine eitle Blendung, eine Ablenkung. Das Ziel, das bin ich selbst! Es ist alles in mir drin. Es gibt keinen Unterschied zwischen der Natur, deren Teil ich ja bin, und mir! Denn das „Ich“ mit all seinem Wollen und Streben ist nur auch nur eine Illusion. Ein spannender Film von einer Gipfelbesteigung, den mir mein Geist immer wieder im größten Kinosaal meines Lebens, meinem wertenden Bewusstsein vorführt. Popkorn und Bier inklusive. Das Ticket, dass ich für den Film gelöst habe, ist solange gültig, bis ich irgendwann aus dem Kino rausgehe und feststelle: Der ganze Kosmos ist in mir gelöst, wie ein Tropfen im Meer, und jede Zelle von mir ist gelöst im unendlichen Meer von Werden und Vergehen, von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Let it go! Let it flow. Sei nicht der Tropfen, sei Wasser.

Das ist Yoga.

ॐ 

Kapitel 4: Kaivalya Pada

Teil 79 – Über die Freiheit – Kaivalya

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Das vierte und letzte Kapitel des Sutra trägt den Titel Kaivalya Pāda - das bedeutet soviel wie „Über die Freiheit“ und der Name ist Programm. Diese Folge gibt Dir noch mal eine Übersicht über alle bisherigen Kapitel und einen Überblick über das bevorstehende vierte Kapitel.

Das vierte und letzte Kapitel des Sutra trägt den Titel Kaivalya Pāda – das bedeutet soviel wie „Über die Freiheit“ und der Name ist Programm.

In schlanken 34 Sutras werden wir noch einmal das gesamte Panoptikum der Yogaphilosophie durchleuchten.

Freiheit im Yogasinne ist nichts, was man erkämpfen, erwerben oder gar üben kann. Alles Üben, das wir schon kennengelernt haben, ist lediglich eine notwendige Voraussetzung für das Entstehen von Freiheit. Oder ich sage mal besser: das Freilegen von Freiheit. Freilegen? Das klingt gut, oder? 

Das Freilegen von Freiheit, damit meine ich, dass Freiheit ein Grundzustand ist, Freiheit ist der natürliche Zustand des Menschen. Wir wissen das auch, wir haben das sogar in der Menschenrechts-Charta in Artikel 1 definiert, wo es heißt: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.“ Hahahaha, magst Du jetzt denken, schön wär’s. Klar, schön wärs. Das es nicht so ist — geschenkt. Aber das ist kein Grund, zynisch zu werden. Denn Sehnsucht nach Freiheit ist doch das, was uns motiviert. 

Vielleicht kennst Du ja das beliebte Mantra „lokah samastah sukhino bhavantu“ — „Mögen alle Wesen glücklich und frei sein“ — das ist sicher eine der beliebtesten Yoga-Zeilen in den Studios dieser Welt und auch so ein frommer Wunsch. Aber hey: wir müssen das wünschen und anstreben — unbedingt! Wir müssen durch gute Gedanken und gute Worte unsere guten Gefühle nähren. Wer soll es denn sonst tun, wenn nicht Du. Jetzt. Hier. 

Freiheit, kaivalya, ist — noch mal — der Urzustand, den wir wieder freilegen wollen. Denn die natürliche Freiheit ist eingeschränkt von außen wie von innen, überlagert mit falschem Wissen, mit zu viel Identifizierung, mit Vorstellungen und Erinnerungen, die uns in die Irre leiten und vielen weiteren Hindernissen, über die wir in vergangenen Folgen ja schon viel gehört haben. 

Diese Freiheit ist der existentielle Wesenskern der Menschlichkeit im Menschen, der nur entdeckt und verwirklicht werden kann, wenn der Mensch alles das aufgibt, was die reine Wahrnehmung dessen, ‚was ist‘, behindert.“ 

Das sind nicht meine Worte, sondern die des indischen Schriftstellers und Philosophen Purushottam Yashwant Deshpande, dessen Verständnis des Yoga-Sutra in dem Buch „Die Wurzeln des Yoga“ festgehalten ist. Dieses Buch möchte ich Euch auch für ein vertieftes Studium wirklich ans Herz legen. Wenn Ihr es mit meinem Podcast bis hierher geschafft habt, dann seid Ihr jetzt spätestens reif für diese Lektüre.

Gut. Also, bevor wir ab der nächsten Folge unsere Aufmerksamkeit auf die ersten Sutras des 4. Kapitels richten, zoomen wir noch mal etwas raus und schauen mal mehr auf das Gesamtwerk und den Ort, wo wir jetzt stehen. 

In meinem Verständnis sind das erste und das vierte Kapitel die tragenden Säulen des Sutra. Im ersten Kapitel geht es ja „um die Versenkung“ und im vierten Kapitel um die „Freiheit“.

Samadhi, die Versenkung, ist sozusagen die linke Säule des Gebäudes und kaivalya – die Freiheit, ist die rechte Säule. Samadhi, oft auch mit Erleuchtung übersetzt ,— ich nutze lieber das Wort Versenkung — ist eine Bedingung für die Freiheit, zumindest in ihrem radikalen Sinne. 

Radikale Freiheit heißt hier „kompromisslos“. So kompromisslos, wie wir alle, Du und ich, nie leben wollten und schon gar nicht könnten. Aber jeder Versuch zählt, jeder Schritt in die richtige Richtung ist lohnenswert. Wir neigen oft dazu, das ganze Projekt dranzugeben, wenn das Ziel zu groß ist. Ich muss auch nicht gleich als Veganer leben, 80% weniger tierische Produkte konsumieren wären auch schon sehr cool. Ich muss auch nicht den Rest des Lebens auf Flugreisen verzichten, obwohl das natürlich besser wäre. 

Aber nur noch alle paar Jahre mal eine Fernreise, hey, das wäre auch schon was. Ich muss nicht gleich der Dalai Lama sein wollen, jedes bisschen mehr Gelassenheit tut sowohl mir als auch meiner Umwelt gut. Wisst ihr, was ich meine? 

Gerade in Deutschland gibt es, glaube ich, diese Tendenz, es entweder hundert Prozent zu machen oder es lieber gleich zu lassen. Das ist falsch, und so bekommen wir auch weder die großen Krisen dieser Zeit bewältigt noch unsere individuelle Freiheit realisiert. Ich bin mir sicher, dass Patañjali, würde er mir heute gegenüber sitzen, hier mit dem Kopf nicken würde. Sonst gäbe es ja auch das zweite und dritte Kapitel des Yoga-Sutras nicht. Das zweite Kapitel „Über die Übung“ und das dritte Kapitel „Über die besonderen Fähigkeiten“ sind deshalb auch wichtig und großartig — sie unterfüttern, stabilisieren, erläutern, versprechen und verlocken. Sie schmücken das, was in Kapitel 1 und 4 steht, aus. Möglicherweise sind viele Inhalte aus dem zweiten und dritten Kapitel auch viel später zum Sutra hinzugefügt worden. Zum Beispiel auch der berühmte achtfache Weg. Kapitel 2 und 3 sind irgendwie leichtgängiger, auch wenn sie, wie wir bei den besonderen Fähigkeiten ja gesehen haben, auch sehr skurril sein können. Wir Menschen aus dem 21. Jahrhundert brauchen das zweite und dritte. Kapitel ebenso, wie es die Yogis früher offensichtlich brauchten. 

Und nicht umsonst haben wir die acht Stufen des Yoga. Das ist ja geradezu eine Aufforderung, nicht gleich das Absolute zu erreichen oder aufzugeben, sondern — im Gegenteil — sich auf den Weg zu machen, Stufe für Stufe. 

Wie dem auch sei. Ich freue mich auf das vierte Kapitel und freue mich auch, wenn Du weiter dabei bist. 

Teil 80 – Drogen und andere Hilfsmittel – YS 4.1 bis 4.3

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Die ersten Sutras des vierten Kapitels beginnen mit der Frage nach dem Menschen und seiner Natur bzw. seiner physischen Manifestation. Welche Mittel oder auch Mittelchen tragen dazu bei, den physischen Körper zu vervollkommnen und wo sind die Grenzen?

Hallo, schön, dass Du wieder dabei bist. Wir starten heute mit dem vierten  Kapitel des Yoga-Sutras. Ich hatte ja in der letzten Folge erläutert, dass es in dieser letzten Phase um den Weg zur vollständigen Freiheit — kaivalya — geht. Vieles von dem, was in den nächsten Folgen besprochen wird, haben wir schon berührt. Das liegt daran, dass das vierte Kapitel in gewissem Sinne für sich steht. Es setzt in Stil und Aufbau auf das erste Kapitel, in dem es um Samadhi, die Versenkung, ging, nahtlos auf. Streng genommen könnte man das zweite und dritte Kapitel auch weglassen und hätte dennoch das Wesentliche erfasst. 

Die ersten Sutras des vierten Kapitels beginnen mit der Frage nach dem Menschen und seiner Natur bzw. seiner physischen Manifestation. Es ist ja so: Der Körper ist zwar nicht unser Tempel — siehe Folge 73 — aber er ist das vergängliche Gefäß für alles, was uns ausmacht. Um es chemisch auszudrücken (schließlich lebe ich in Leverkusen): Leben ist eine genial hinausgezögerte Totaloxidation, an dessen Ende die finale Verbrennung des energetischen Kohlenstoffs steht (in Form von CO2). Wenn wir denn uns einst wieder auflösen in unsere chemischen Grundstoffe, aus denen wir gebaut sind, dann wird auch citta-vṛtti, das bewertende Selbst, verlöschen. Das ist gar keine Frage. Davor liegt aber unsere physische Präsenz. Unser Körper mit all seinen Systemen. Im Yogasinne arbeiten wir mit allen Systemen, die uns ausmachen. Der Körper muss dabei rein und klar und stark sein, damit der Prozess der Meditation nicht gestört wird vom Unbill eines quengelnden Körpers. YS 4.1 geht die Sache mit gewohntem Pragmatismus an:

YS 4.1 janma-oṣadhi-mantra-tapas-samādhi-jāḥ siddhayaḥ 

Übernatürliche Kräfte, entstehen durch angeborenes Talent, Drogen, Mantra, Askese oder durch Yoga.

Hihihi, muss ich das noch kommentieren? Ja, okay, also gut. Die siddhis, die „besonderen und magischen Fähigkeiten“, die wir ja im dritten Kapitel kennengelernt haben, erreicht man also durch eine natürliche Befähigung zur Erleuchtung, Mantras singen, Leidenschaft und Askese und außerdem — surprise! — Yoga! Genau! So weit, so bekannt aus früheren Folgen. Hab ich was vergessen?

Ja! Oṣadhi?, Das heißt übersetzt, Heilmittel, Kräuter, Drogen. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Was ist gemeint? Sollen wir uns uns doch mal ganz locker hinhocken und einen schönen Joint durchziehen, und dann kommt die Erleuchtung? Das hätte man ja auch gleich zu Beginn des Sutra schreiben können, oder? Erstens haben wir es immer geahnt und zweitens hätten wir uns den Rest des Sutra dann ja auch sparen können, oder? 

Aber genau das ist gemeint. Es geht wörtlich übersetzt um „Brandbringer“ und „Lichtbringer“ — Yoga hat keine Berührungsängste mit Drogen in dem Sinne, sie zu kultivieren für eine bessere Sicht auf die Dinge. Das ist ja schon interessant. Um aus dem eigenen Kinosaal herauszukommen und die Perspektive zu erweitern, sind also Drogen durchaus ein legitimes Mittel. 

In unserer modernen Gesellschaft haben wir ein sehr gespaltenes und absolut scheinheiliges Verhältnis zu Drogen. Sehr verkrampft auf jeden Fall. Was mit Alkohol erlaubt und als „Freiheit“ deklariert wird, hört auf, sobald man sich gesellschaftlich und kulturell weniger gelernten Drogen annimmt. Dabei sollte aber auch klar sein: Keine Droge der Welt wird einen jemals aus der Perspektive des Betrachters herauslösen, auch wenn das vielleicht die Illusion zu sein scheint. 

Aber das war es auch schon zu dem Thema im Sutra. Es geht weiter: 

YS 4.2 jāty-antara-pariṇāmaḥ prakṛty-āpūrāt 

Aus der physischen Vervollkommnung entsteht eine innere Verwandlung des Wesens. 

Und weiter

YS 4.3 nimittam-aprayojakaṁ prakṛtīnāṁ-varaṇa-bhedastu tataḥ kṣetrikavat

Jedoch ist die äußere Ursache nicht ausreichend für die innere Verwandlung. Aber sie ist wie der Bauer, der den Bewässerungswall spaltet, damit Wasser auf das Reisfeld gelangt und der Reis wachsen kann. 

Diese beiden Sutras sind so ähnlich wie das, was wir schon gegen Ende des dritten Kapitels gelernt haben: die physische Vervollkommnung ist wichtig als Grundvoraussetzung für die Verwandlung des Wesens, das Richtung Freiheit strebt. Aber — und auch diese Warnung haben wir schon häufiger gehört, sie ist kein l‘art pour l‘art. Es reicht eben nicht, sich ein Sutra wie dieses herauszupicken und sein ganzes Tun und Trachten darauf auszurichten. Die physische Vervollkommnung ist lediglich eine Bedingung oder wie Sutra 4.3 sehr schön bildlich darstellt: wie Wasser, das der Bauer auf das Feld fließen lässt, damit der Reis wachsen kann. Das kann man als Kultivieren bezeichnen. Nicht zu wenig und nicht zu viel Wasser darf es sein, und der richtige Zeitpunkt ist entscheidend. Hochmut und Überdosis führen zum Gegenteil. 

Das gilt, um den Kreis hier zu schließen, selbstverständlich auch für Drogen, Mantras und Askese und andere Yoga-Techniken, mit denen wir unserem Bewusstsein ein Schnippchen schlagen wollen: Sie sind im Yogaverständnis nicht für weltliche Zwecke gedacht. Es geht hier strikt um den spirituellen Weg. Aber das war Dir schon klar, oder? Sicher! Na komm, Du brauchst den Joint auch nicht gleich wieder auszumachen, passt schon! 

Auch das ist Yoga.

Teil 81 – Ich und Du, Müllers Kuh. Mengenlehre à la Patañjali – YS 4.4 bis 4.6

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Obwohl wir so verwoben sind mit unserem Tun in das Netz der Existenz von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, sind wir am Ende betrachtet doch allein unter vielen anderen. Der kleinen Menge an ICH steht eine vermeintlich unendlich große Menge an Nicht-Ich gegenüber, oder? Wie können wir uns dann dennoch mit der Welt verbinden? Oder ist doch alles eins? Ein bisschen Mengenlehre kann helfen.

Während wir in der letzten Folge ja etwas über Drogen und andere Hilfsmittel gelernt haben, wird es heute wieder etwas erkenntnistheoretischer. Es geht — einmal mehr — um die Entstehung des Bewusstseins – seines Verwoben-Seins mit dem Ich. 

Ich muss hier noch mal etwas ausholen und die großen Linien unserer Existenz zusammenfassen, die uns schon in vielen Folgen begegnet sind. Es wird also heute etwas philosophischer.

Wir werden hineingeboren in die Existenz des unseres ICHs, das sich Schicht für Schicht, Eindruck für Eindruck, Erfahrung für Erfahrung aufbaut. Wir lernen und spüren ganz selbstverständlich, dass wir dieses Ich sind. Wir wähnen uns im Besitz dieses Ichs. Das Ich können wir nur empfinden, weil es offenbar unendlich Vieles gibt, das eben nicht zum Ich gehört. Andere Menschen, Tiere, Dinge usw. Sie sind nicht Teil unseres Ichs … oder?

Wir gehen durch die Welt und bewerten diese Welt mit unserem Bewusstsein, aus unserer Perspektive, durch unsere Brille. Wenn man nie darüber nachdenkt, dann könnte man die Wahrnehmung der Welt als objektiv betrachten. So ist die Welt, so wie ich sie sehe. Aber jeder sieht eine andere Welt. Was wäre eigentlich, wenn es gar keine Ich-Bewussten Wesen gäbe? Dann gäbe es die wirkliche Welt dennoch. Wir wissen aber nicht, wie diese Welt aussieht, denn wir können die subjektive Brille unseres Bewusstseins nicht abnehmen. Keiner kann die Welt so sehen, wie sie wirklich ist. Und: keiner kann die Welt so sehen, wie Du sie siehst.

Hier kommt Yoga ins Spiel. Die Idee ist, dass wir eben doch durch die Techniken des Yoga den Schleier des Ichs lüften und lernen, klar zu sehen. Im Yoga wird das oft mit „reiner Schau“ benannt. In gewisser Hinsicht ist diese Vorstellung durchaus naiv. Und wie sehr dieses Ideal eine theoretische oder tatsächlich eine praktische Erfahrung ist, das mag dahingestellt sein. 

Zumindest aber können wir durch all die Techniken des Yoga üben, die Grenzen zwischen ICH und dem ANDEREN zu studieren, zu hinterfragen, durchlässiger zu machen. 

Aus dem Gesagten ergeben sich logisch drei Möglichkeiten: 

  1. Alles ICH-hafte, 
  2. Alles, was ANDERS ist und 
  3. Alles, was eine Schnittmenge bildet aus ICH und allem, was ANDERS ist, nämlich das GEMEINSAME. 

Das ist die Yoga-Mengenlehre à la Patañjali Ein Kreis ist ICH, ein Kreis ist DAS ANDERE. Und die Schnittmenge dieser Kreise bilden das GEMEINSAME.

Streng genommen ist das ICH ja eigentlich sehr allein. Wir wähnen uns in einer Welt voller anderer Menschen, Wesen und Objekte. Wenn sie gleichzeitig mit uns leben, können wir sie wahrnehmen, wenn sie in einer anderen Zeit auftauchen, dann können wir schwerer eine Verbindung herstellen. Aber unzweifelhaft kann unser Bewusstsein natürlich auch sehr leicht gebunden sein an Dinge oder Wesen, die es nicht mehr oder noch nicht gibt, zum Beispiel an einen verstorbenen lieben Menschen oder an ein in der Zukunft liegendes Ereignis. Obwohl diese objektiv, als wahrnehmbare manifestierte Wesen oder Dinge, nicht da sind, sind sie doch unzweifelhaft Bestandteil unserer Bewusstseinswelt. 

Insgesamt ist jedenfalls philosophisch betrachtet die Welt mehr, als die Summe ihrer Dinge und Wesen. Sie umfasst auch immer alle Bewusstseine (lustigerweise gibt es das Wort „Bewusstsein“ nur im Singular), Gedanken, Erinnerungen usw. Denn sie sind ja auch wahrnehmbare Objekte.

Obwohl wir so verwoben sind mit unserem Tun in das Netz der Existenz von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, sind wir am Ende betrachtet doch allein unter vielen anderen. Der kleinen Menge an ICH steht eine vermeintlich unendlich große Menge an ANDEREM gegenüber. Falls es sich um andere Menschen handelt, vermuten wir, dass sie auch ein Bewusstsein haben, so wie wir. Und müssen doch permanent zur Kenntnis nehmen — mal freudvoll und mal leidvoll, dass die ANDEREN offenbar auch ein anderes Bewusstsein haben. Sehr ärgerlich. Kann nicht jeder denken und fühlen wie ich?

Wir müssen annehmen, dass jedes höhere Lebewesen ein citta, ein bewertendes Bewusstsein hat, bis zu welchem Grad auch immer. Also haben die anderen auch citta-vṛtti, Geistbewegungen, und Erinnerungen -smrtti. Rein philosophisch betrachtet ist das aber nur eine Vermutung, denn beweisen lässt es sich nicht wirklich. 

Dennoch: Zu sein bedeutet, in Beziehung zu sein. Was machen wir nun mit dem Dilemma des Allein-Seins in einer verbundenen Welt? 

YS 4.4 nirmāṇa-cittāny-asmitā-mātrāt

Das individuelle Bewusstsein (im Original steht hier Plural, aber das klappt im Deutschen wie gesagt nicht, also eigentlich:) Die individuellen Bewusstseine gehen einzig aus der Ich-Verhaftung hervor.

Dieses Sutra holt uns nach dem Exkurs zu den besonderen Fähigkeiten aus Kapitel 3 wieder zurück auf den Boden und macht klar: Wir kommen aus der Ich-Maschine nicht lebend raus. Selbst wenn wir noch so tolle Fähigkeiten erwerben, liegt in der Ich-Gebundenheit das ganze Dilemma unserer Existenz. Das ist nicht schlecht oder gut, es ist einfach das, was es ist. Dieses Ich besitzt einerseits die Qualität des Wahrnehmers, aber auch die Qualität des Wahrnehmbaren. Also Subjekt und Objekt sind im menschlichen Sein verbunden. Wenn wir aber — was zweifelsohne der Fall ist — unser Denken, unsere Gefühle, unser Ich sozusagen selbst wahrnehmen können, dann muss es noch eine Instanz geben, die das tut, die sozusagen hinter dem Wahrgenommenen steht.

YS 4.5 pravṛtti-bhede prayojakaṁ cittam-ekam-anekeṣām

Die Erscheinungsformen (des Bewusstseins) unterscheiden sich, aber das wertende Bewusstsein ist das eine zugrunde liegende Prinzip der vielen Formen. 

Hier wird erläutert, was ich zuvor schon andeutete: Wir sind als Menschen mit dem ausgestattet, was für uns vorgesehen ist. Woher das Bewusstsein metaphysisch gesehen auch stammt, es ist allen Menschen zu eigen. Wir können unserer Natur nicht entfliehen, da sie gekennzeichnet ist durch das Prinzip des wertenden Bewusstseins. Man könnte also auch sagen: deal with it – komm drauf klar. Das ist das Arbeitsmaterial, das Dir zur Verfügung steht. Wir müssen daher durch Yoga lernen, diese Beziehung des Menschen zur Welt zu verstehen. 

YS 4.6 tatra dhyānajam-anāśayam

Das durch Meditation geborene (Bewusstsein) hingegen ist frei von äußeren Eindrücken.

Da isses. Das Versprechen von Yoga. Menschen die durch dhyāna, also die stete Versenkung, in diese Zusammenhänge eindringen, werden einen radikalen Switch, einen Wandel vollziehen: Die Waage wird sich vom Ich immer mehr über das Gemeinsame zum Nicht-Ich neigen. Dhyāna war die siebte Stufe des achtfachen Yogawegs. Das ist die Stufe, in der der Mensch, der Yogi, die Yogini erkennt, dass der Ich-Kreis und der Andere-Kreis sich immer mehr überschneiden und die Grenzen des Ichs sich in Allem auflösen. 

Klingt das zu theoretisch? Ihr wisst ja, trotz meiner begrenzten natürlichen Befähigung zur Erleuchtung gebe ich mir ja Mühe, auch ein bisschen von dem Weg zurück zu legen. Deswegen gebe ich Euch mal ein Beispiel, wie ich praktisch mit so einem Konstrukt umgehe: Ich nutze die Natur. Auf meinem Lieblings-Spazierweg steht ein Apfelbaum auf der Wiese. Und jetzt lasse ich Euch mal bewusst in meinen sprunghaften Geist reinschauen — sei Dir gewiss, in Wirklichkeit sieht es noch viel chaotischer aus: 

Die Apfelmeditation

„Hier bin Ich, da ist das Andere, der Apfelbaum. Hallo Apfelbaum, gut siehst Du aus. Seh ich gut aus? Existierst Du eigentlich auch ohne mich? Ja, schon, oder? Da hängt ein schöner Apfel an Dir. Äpfel finde ich lecker, aber so richtig gut vertragen tue ich sie nur als Kuchen, hahaha. Kuchen wäre jetzt schön. Ich könnte gleich am Bioladen vorbeigehen und Apfelkuchen kaufen. Nee, muss auch nicht sein. Aber Olivenöl brauchen wir auch noch. Dann könnte ich auch gleich ins Studio gehen und die Kamera mitnehmen. Ich muss mir eine Erinnerung schreiben, dass ich mich noch um die Speicherkarte kümmern muss. Hallo, Apfel, nochmal: Würde ich Dich jetzt pflücken und essen, wärest Du ja in gewisser Hinsicht bereits Teil meines Ichs. Vermutlich oder? Da fängt es schon an: gehört schon der Inhalt meines Darms inklusive Apfel zum meinem Ich? Oder ist das das Andere? Oder würden sich die Milliarden Bakterien in mir nicht vielmehr einen feuchten Kehricht aus meinem Ich machen? Im wörtlichen Sinne! Andererseits: Ohne mich könnten die auch nicht leben, die kleinen Halunken. Aber ich auch nicht ohne sie. Sind die Bakterien jetzt im Ich-Kreis oder im Anderen-Kreis? Oder ist das schon das Gemeinsame? Ich gehe jetzt nicht zum Bioladen. Wie wird eigentlich das Wetter heute Abend? Morgen könnte ich nach Köln fahren. Ich muss mich noch ums Fahrrad kümmern. Hallo, Apfel! Du bist noch da. Welche Bedingungen mussten eigentlich erfüllt sein, dass Du da hängst? Licht, Regen, Boden, Photosynthese, CO2-Aufnahme, Sauerstoffproduktion. Ich atme damit. Wie geht’s meiner Atmung. Okay, fließt ruhig. Atme tiefer, Michael. Sauerstoff, Licht, Wasser, Kohlenstoff. Schon so im Wesentlichen die gleichen Baumaterialien, wie bei Dir, Apfel. Wir sind gerade zeitgleich da, lustiger Zufall. Aber Du lebst kürzer als ich. Ich bin Mensch, ich habe schon viele Äpfel gesehen. Ich werden noch viele andere Äpfel sehen. Mein Leben ist lang. Wie lang eigentlich? Wann muss ich eigentlich mal wieder zur Vorsorgeuntersuchung? Witzig, der Schmerz im Fuß von neulich ist ja weg, fällt mir jetzt erst auf. Warum nimmt man eigentlich nicht richtig wahr, wenn Dinge sich zum Guten wenden? Eigentlich steckt in dem Apfel da schon die ganze Geschichte des Baums. In dem Baum stecken schon alle anderen Apfelbäume aus der Vergangenheit und auch alle Apfelbäume, die es jemals geben wird, auch wenn ich sie jetzt noch nicht sehe. Es wird Apfelbäume geben, wenn ich nicht mehr da bin. Genau:Im nächsten Leben werde ich ein Apfelbaum, hahaha. Aber echt: Es gibt eigentlich keinen Unterschied zwischen dem Apfel und mir. Die Beziehung zu dem Apfel, die ich hier gerade herstelle, ist Teil meines Ichs, es gibt da eigentlich gar keine Grenze. Ich muss ihn nicht mal dafür essen …“

Usw. usw. usw.

Diese hier etwas chaotisch beschriebene Meditation, denn das ist es ja, ist okay. Unser Geist funktioniert so. Wir können ihn trainieren und ihn noch besser ausrichten auf eine Sache und weniger Ablenkung. Wir können tiefer reisen in die Natur der Dinge.

Die gemeinsame Idee, ob nun auf der Matte im Ashram sitzend oder auf dem Weg durch den Wald ist die: Die Bedeutung des Ichs zu relativieren, Ich-Identifikation durchlässiger werden zu lassen und die Konflikte, die aus dem Dilemma der Existenz erwachsen, geringer werden zu lassen oder gar aufzulösen. 

Das ist Yoga.
Du bist Yoga.
Ich bin Yoga.
Du bist ich und ich bin Du.

Teil 82 – Das Leben ist ein Klettverschluss – YS 4.7 bis 4.11

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Das Leben ist ein Klettverschluss. Überall verhaken wir uns mit unseren Gedanken, Worten und Taten in der Welt — mit allen Konsequenzen für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Können wir herauskommen aus diesem Gesetz von Ursache und Wirkung? Oder sind wir verdammt, darin festzustecken? Yoga Sutras 4.7 - 4.11 versuchen, Antworten zu finden.

Ich habe mich schon in früheren Folgen mit dem großen und oft missverstandenen Begriff „karma“ beschäftigt. Wer noch mal nachhaken will: Teil 13 und Teil 34 und 35 helfen Dir noch mal bei den Grundlagen. 

Karma ist die Verwicklung des Menschen in den zeitlichen Kontext durch seine Handlungen. Patañjali greift dieses große Thema hier im vierten Kapitel noch einmal ausführlich auf. Ist auch klar, denn Karma ist das zentrale Gesetz, das die Bindung unserer Existenz an die Welt regelt. Da es in diesem Kapitel des Yoga Sutra ja aber um die völlige Freiheit, kaivalya, geht, muss die Frage von Karma hier wieder auf den Tisch und verhandelt werden. Denn Karma, das Gesetz von Ursache und Wirkung hält uns eben ab von der völligen Loslösung. 

4.7 karma-aśukla-akṛṣṇaṁ yoginaḥ trividham-itareṣām

Für einen Yogi ist das Gesetz von Ursache und Wirkung weder weiß noch schwarz. Für andere ist es von dreierlei Art.

Einfach gesagt bedeutet das, dass unser Handeln immer neue Konsequenzen verursacht. Das dualistische Prinzip des Handelns Ja/Nein, Gut/Schlecht, An/Aus, Mögen/Nicht-Mögen, Subjekt/Objekt führt uns niemals heraus aus dem Gesetz von Ursache und Wirkung. Alle Nicht-Erleuchteten, also Du und ich, wabern dann zwischen den Polen hin und her, mit allen Schattierungen. Statt der Farben Schwarz und Weiß können wir auch die drei Gunas bemühen. Also drei Grundqualitäten. Wir erinnern uns: Die drei Gunas, oder Grundeigenschaften allen Seins, das sind sattva, rajas und tamas. Sattva ist das Klare, das Reine, rajas ist Aktivierende und tamas das Hemmende. In Teil 10 habe ich mir dazu Gedanken gemacht, vielleicht magst Du da noch mal reinhören. Wahre Yogis haben sich natürlich aus den binären schwarz-weiß-Zwängen befreit. 

Also Karma. Die Verstrickung in das Netz von Ursache und Wirkung. Früher hatte ich mal Turnschuhe mit Klettverschluss und war ganz stolz drauf. Unglaublich, diese Technik. Nur blieb auf Dauer auch alles möglich darin gefangen, das da gar nicht reingehörte. Und versuch mal, einen Klettverschluss zu reinigen!

Das Bild des Klettverschlusses hilft auch, Karma zu verstehen. Das Leben ist ein Klettverschluss. Was immer wir denken, sagen und tun: immer verstricken wir uns mit unseren kleinen Häkchen überall und binden uns an die Objekte, die objektive Welt. Wir sind mit jeder Faser unserer Existenz, mit Milliarden Häkchen, verzahnt mit der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Diesen Klettverschluss zu lösen, ist wahrscheinlich kaum möglich. Jedes kleine Häkchen, das uns an die Welt bindet, ist ein vāsana, eine Neigung. Darauf geht das nächste Sutra ein:

4.8 tataḥ tad-vipāka-anugṇānām-eva-abhivyaktiḥ vāsanānām

Nach diesem Gesetz von Ursache und Wirkung reifen die Früchte, die den zugrunde liegenden Wünschen entsprechen.

Vāsana sind die Spuren, die wir hinterlassen, unsere Neigungen und unsere Triebe.

Man könnte auch sagen: man erntet, was man sät. Aber es stimmt auch andersrum: Man sät auch wieder, was man erntet. In der Regel zumindest. 

Aber selbst dann, wenn es uns gelingt, den Klettverschluss — um in dem Bild zu bleiben — ein wenig zu lösen und wir vermeintlich die Gebundenheit lösen, dann sind wir immer noch fest verbunden über unsere früheren Prägungen und Erinnerungen. Darauf geht das nächste Sutra ein:

4.9 jāti deśa kāla vyavahitānām-apy-āntaryāṁ smṛti-saṁskārayoḥ ekarūpatvāt

Auch wenn Modalität, Ort und Zeit nicht mehr bestehen, besteht dennoch Kontinuität von Wunsch und Folge, denn Erinnerungen und Prägungen gehören zum gleichen Wesen.

Also, das Gesetz von Karma hat eben nix zu tun mit Schicksal oder so, so wird es ja bei uns oft benutzt. Es ist eher das Gegenteil von Schicksal, denn wir haben ja Einfluss auf unsere Gedanken und unsere Taten, sonst bräuchten wir gar nicht erst mit dem Yoga anzufangen. Ich weiß gar nicht, was so schwer zu verstehen oder misszuverstehen ist an dem Karma-Prinzip, ich finde es einfach nur logisch und plausibel.

Karma reicht auch in die Vergangenheit zurück, denn unsere Erinnerungen und unsere Handlungen in der Vergangenheit prägen ja auch unsere Gegenwart und Zukunft. Und wieder einmal sehen wir, dass wir nur schwerlich aus der Sache raus kommen. Das unterstreicht auch noch mal YS 4.10:

YS 4.10 tāsām-anāditvaṁ cāśiṣo nityatvāt 

Die Kontinuität aus Wunsch und Resultat sind ohne Anfang, wie der Wunsch zu leben ohne Ende ist.

Tja, was sollen wir damit anfangen? Das wird dann wohl nix mit dem Loslösen des Klettverschlusses, ne? Und ja, tatsächlich. Den meisten von uns, mich selbst selbstverständlich eingeschlossen, wird es nicht gelingen, diese Zusammenhänge von Ursache und Wirkung gänzlich zu brechen, oder vielleicht nicht einmal teilweise: Zu verstrickt sind wir in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Denn die Zukunft liegt ja auch schon in Vergangenheit und Gegenwart begründet. Sie ist unausweichlich abgeleitet von den Handlungen der Zeit, so wie aus dem Apfelsamen eben ein Apfel wird — falls die notwendigen Bedingungen erfüllt sein werden. Aber das sollte uns nicht frustrieren, wir sollten es nur verstehen. Unser Wunsch zu leben, kennt keinen Anfang und kein Ende. Wir kletten uns daran. 

YS 4.11 hetu-phala-āśraya-ālambanaiḥ-saṁgṛhītatvāt-eṣām-abhāve-tad-abhāvaḥ

Die Kontinuität von Wunsch und Resultat entspringt den unterstützenden Faktoren und äußeren Objekten. Verschwinden diese, verschwindet auch die Kontinuität aus Wunsch und Resultat. 

Alles ist im permanenten Fluss, alles ist fortwährend in Veränderung und alles, was war, ist oder sein wird, ist in einem unendlichen Wechselverhältnis zu einander. Wir, als vermeintliche Besitzer unseres wählenden Geistes, können das nicht ändern. Was wir aber tun können, bzw. das einzige, was wir überhaupt tun können, ist, unser Verwoben-sein mit den Dingen zu reduzieren, das Rad unseres Tuns langsamer zu drehen. Das steckt hier in dem Wort abhāva. Das weniger Tun. Wir hatten diesen Aspekt schon sehr häufig. 

Wir können das Rad der Geschichte womöglich nicht anhalten, wir können aber durch das Studium unserer Natur und der Gesetzmäßigkeiten unserer Existenz, durch Yoga oder auch andere Disziplinen vielleicht etwas zurücktreten aus dem Hamsterrad. Denn darum geht es ja: unseren Geist zu beruhigen. 

Das ist Yoga.

Teil 83 – Dharma: Sinn oder Aufgabe?

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Dharma ist so ein weiteres großes Yogawort und meint Aufgabe, Auftrag, Weg. Oft wird es mit Sinn verwechselt, aber Sinn ist bestenfalls ein Ergebnis von dharma, wenn es überhaupt einen Sinn gibt. Wir sind hineingeworfen in dieses Leben im Netz von Ursache und Wirkung, das hat Konsequenzen und bestimmt mit den Weg, den Du gehst. Erkennst Du Deine Aufgabe?

Wer die letzten Folgen dieses Podcasts aufmerksam verfolgt hat, wird vielleicht merken, dass die Themen, mit denen sich das letzte Kapitel des Yoga-Sutra beschäftigt, bereits auch in früheren Kapiteln besprochen wurden. Das ist inhaltlich wie quellenkritisch betrachtet durchaus plausibel und es hilft auch, uns durch Wiederholung immer wieder die wesentlichen Aspekte unter einem immer etwas anderen Licht zu vergegenwärtigen. 

Viel haben wir schon über das Verhältnis von Mensch und Zeit gehört. Wir haben schon gesehen, dass Zeit entsteht durch die Veränderung der Dinge, und nicht unbedingt dadurch, dass wir diese Veränderung betrachten. Das ist ganz wichtig, denn wir sagen ja so: „Man sieht die Zeit verstreichen“. Wir sind aber nicht Beobachter, sondern wir sind Teil des Zeitprozesses. Wenn wir das verstehen, ergeben sich daraus auch Anforderungen.

Das nächste Sutra macht das deutlich:

YS 4.12 atīta-anāgataṁ svarūpato-’sti-adhvabhedād dharmāṇām

Vergangenheit und Zukunft existieren für sich. Aus den Veränderungen ergeben sich die Aufgaben (dharma).

Eigentlich ist das klar. Gäbe es keine Dinge, keine Objekte, keine Materie, gäbe es keine Zeit. Das ist auch vor dem Hintergrund moderner Forschung über die Entstehung des Universums sehr interessant. Die Astrophysik kann mathematisch bis kurz nach dem Urknall zurückrechnen. Das, was – salopp gesagt – in der Sekunde davor passierte, ist nicht klar. 

Klar ist aber, dass es wohl Zeit in dem Sinne nicht gab, bevor es einen Urknall gab. Also, so hab ich es verstanden. Ob nun moderne Astrophysik, Aristoteles oder Ashram: Philosophisch betrachtet sehen wir, dass der Mensch ringt um seine Position im Netz der Zeit und der Materie. Ein Netz, das der Mensch einerseits mit gestaltet, dessen wehrloses Opfer er zugleich zu sein scheint. 

Um in diesem Spannungsfeld zu überleben, zu wachsen und sogar zu gedeihen, entwickeln sich Aufgaben für ihn. Dharma ist der Weg, die Bestimmung, die Aufgabe. Dharma ist das yogaphilosophische Gegenkonzept zu Sinn. Wo ist der Sinn? Der Sinn des Lebens? Diese Frage ist eigentlich nicht relevant. 

Es gibt keinen Sinn. Das Hineingeworfen sein in den Fluss von Ursache und Wirkung, also Karma, bedingt keinen Sinn, sondern eben eine Aufgabe, das ist dharma. Was diese Aufgaben sind, die den Weg des Lebens zeichnen, ist mehr gegeben als gewählt. Denn wir sind nicht frei und losgelöst, sondern agieren im Kontext von Vergangenheit und Zukunft. So ist es, wie ich es verstehe. 

Dieser Aspekt des Yoga und nicht nur des Yoga, sondern eigentlich vieler Denkschulen aus Asien, beschäftigt mich schon seit Jahren sehr intensiv. Erst konnte ich mit diesem Dharma-Gerede nicht viel anfangen. Irgendwann aber habe ich die Idee dahinter für mich persönlich verstanden. 

Das war eine unglaubliche Erleichterung, denn die oft moralisch verschwommene Sinnsuche war und ist mir völlig fremd. Daran kann man irgendwie nur verzweifeln! Sinn braucht immer Sinngeber, und das ist das Einfallstor für Manipulation und Religion. Aber klar, das ist natürlich nur meine ganz persönliche Auffassung.

Dharma braucht kein Gegenüber, keinen Bewerter und keinen Apostel. Dharma ergibt sich.

Dharma hingegen heißt nicht, dass man keine Wahl hätte. Im Gegenteil, wir müssen immer viel zu viel wählen. Dharma heißt zu erkennen, was zu tun und was zu lassen ist und dann den Weg zu gehen. Das nächste Sutra erläutert noch, was ohnehin selbstverständlich ist:

YS 4.13 te vyakta-sūkṣmāḥ guṇa-atmānaḥ

Diese Aufgaben sind manifest oder subtil, physisch oder spirituell.

Das ist wieder der Dreiklang, der sich aus den gunas ergibt. Etwas, was wir nicht sehen oder wahrnehmen, ist dennoch da. Das gilt auch für dharma. Diese Aufgaben können in allen Qualitäten und Mischformen auftreten, wir müssen sie nur erkennen. 

Wenn Du etwas mit diesem Konzept von dharma anfangen kannst, auch wenn Du es hier vielleicht zum ersten Mal hörst, dann will ich Dir noch einen Tipp geben: Es hilft aus meiner Erfahrung nur begrenzt, sich sofort hinzusetzen und eine Liste anzufertigen mit der Überschrift „mein dharma“ – es schadet auch nicht, sich darüber Gedanken zu machen, aber dennoch ist hier jeder selbst oder fremd auferlegte Druck sicher hinderlich.

Wichtiger als konkret am eigenen dharma zu feilen, ist, glaube ich, sich zu entspannen und zu akzeptieren, dass Dinge passieren und nicht passieren. Der Einfluss auf die Zeitläufte, den wir zu haben meinen, ist meist geringer, als wir glauben. Wenn es uns durch Yoga und Selbststudium — oder gern durch andere Techniken — gelingt, einen gelassenen Weg für uns durch das Leben zu finden, den wir aber konsequent im Auge halten, dann ist schon sehr viel gewonnen.

Das ist Yoga.

Teil 84 – Tennis und Erleuchtung – YS 4.14 – 4.17

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Was Tennis mit Erleuchtung zu tun hat? Na, viel natürlich. Es geht um die Einheit aus Betrachter (Mensch) und Betrachtetem. Die Frage, wie das menschliche Bewusstsein auf ein Objekt zugeht, ist ein Thema dieser Folge. Die Zeit ist die unendliche Akkumulation von kleinen Veränderungen, und diese wahrzunehmen, ist nicht nur beim Yoga von Bedeutung, sondern auch beim satten Aufprall eines Tennisballs auf dem Schläger.

Nachdem wir uns zuletzt mit der Aufgabe des Menschen in der Welt beschäftigt haben, kehren wir zurück zu der subtileren Ebene des menschlichen Bewusstseins und seines Verhältnisses zu den Objekten. Objekte können alles sein, womit sich unser wertendes Bewusstsein verbindet. Äußere Objekte, Wesen, Gegenstände oder innere Objekte. Auch eigene Gefühle sind wahrnehmbare Objekte, denn wir können sie ja beobachten. Objekte in diesem Sinne müssen aber auch irgendwie wahrnehmbar sein. Sie müssen manifestiert sein über einen gewissen Zeitraum. Auch der Apfelbaum wird für uns erst wahrnehmbar, wenn er sich als zartes Bäumchen offenbart, was aber ja nicht bedeutet, dass er nicht auch schon vorher da gewesen wäre. Das gleiche gilt für uns als Menschen. Irgendwann zeigen wir uns auf der Welt, verändern uns über eine bestimmten Zeitraum und verschwinden wieder. Werden, Verändern, Vergehen — das ist das unerbittliche Gesetz der Natur und damit müssen wir uns abfinden. Gar nicht leicht. 

Das nächste Sutra holt uns da noch mal ab und fasst dieses Naturgesetz zusammen:

YS 4.14 pariṇāma-ikatvāt vastu-tattvam

Die den Dingen zugrunde liegende Wirklichkeit beruht auf ihrer Einheit in der Verwandlung.

Vastu ist das Objekt, das Ding. Pariṇāma heißt Veränderung und tattva ist die Natur, das Wesen. Man könnte auch übersetzen, „das einzig Unveränderliche ist, dass sich alles ändert.“ Diese Verwandlung kreiert die Zeit. Die Zeit ist die unendliche Akkumulation von kleinen Veränderungen. Wir als betrachtende Wesen sind also der permanenten Veränderung genauso unterworfen, wie alles, was wir betrachten. Das macht jede einzelne Mikro-Mini-Beziehung zwischen unserem Bewusstsein und der Welt zu einer einzigartigen Verbindung. Das wird im nächsten Sutra analysiert:

YS 4.15 vastusāmye citta-bhedāt-tayorvibhaktaḥ panthāḥ 

Das Bewusstsein des Menschen geht auf verschiedenen Wegen auf das gleiche Objekt zu. Die Wahrnehmung unterscheidet sich dementsprechend.

Und gleich weiter:

YS 4.16 na ca eka-citta-tantraṁ (ced)vastu tad-apramāṇakaṁ tadā kiṁ syāt

Ein Objekt ist nicht abhängig vom wahrnehmenden Bewusstsein des Menschen. Was würde geschehen, wenn es nicht gesehen wird?

Eine rhetorische Frage, die Antwort ist klar. Es wäre dem Objekt einfach furzegal, denn es besteht aus sich heraus und seiner Wesensnatur. Der Mensch möge sich bitte nicht einbilden, nur durch ihn existiere die Welt oder gar die Zeit. Nur, um das hier noch mal ganz klar zu sagen. 

Wann denn nun ein Objekt erkannt wird und warum, dass beschreibt YS 4.17:

YS 4.17 tad-uparāga-apekṣitvāt cittasya vastu-jñātājñātaṁ

Ob ein Objekt, eine Situation oder Person jedoch erkannt oder verkannt wird, hängt von der emotionalen Vorprägung und den Erwartungen des wertenden Bewusstseins des Menschen ab. 

Tja, eigentlich haben wir hier in den drei Sutras bereits die wesentlichen Erkenntnisse der modernen Psychologie zusammengefasst. Faszinierend! 

Die eigene Erfahrung und Haltung, die eigene Rezeptionsfähigkeit bestimmt, was wir auf unserem eigenen zeitlichen Weg wie und in welcher Qualität wahrnehmen. Eine objektive Welt jenseits der menschlichen Wahrnehmung existiert zwar, aber sie ist letztlich nicht in ihrer Wirklichkeit erkennbar, da immer unser eingefärbtes Bewusstsein dazwischen steht. 

Eine objektive Welt existiert für uns nur theoretisch bzw. erkenntnistheoretisch. Wir können uns den Dingen nur annähern, und das können wir nur, wenn wir akzeptieren, dass sowohl Betrachter (also wir) wie auch das Betrachtete in permanenter Verwandlung sind. Und damit nicht genug: Ob wir etwas wahrnehmen, hängt auch noch davon ab, ob das Wahrgenommene sich uns auch offenbart. Eigentlich entsteht dadurch eine unendliche Anzahl von verschiedenen Wahrnehmungen und Welten. Das bedeutet logisch auch  und ich zitiere — dass es „einfach keine Regel oder Weltformel [geben kann], die alles beschreibt. Dies liegt nicht daran, dass wir sie bisher noch nicht gefunden haben, sondern daran, dass sie gar nicht existieren kann.

Wir sind hier mit Patañjali schon ganz nah an der Philosophie des „Neuen Realismus“, wie wir ihn z.B. bei dem deutschen Philosophen Markus Gabriel studieren können. Von Markus Gabriel stammte auch das Zitat. 

Ach je. Also alles wieder auf Anfang? Ich breche das jetzt mal runter auf etwas sehr Alltägliches. Denn Yoga soll uns ja im Hier und Jetzt helfen, ne?

Ich spiele Tennis. Leidenschaftlich. Weck mich nachts um drei und ich geh auf’n Platz. Der Tennissport ist sehr komplex. Großes Feld, große Hebel, große Schläger, kleiner Ball, schneller Ball, viel Laufen, unglaublich viel und schnell wahrnehmen und reagieren. Großartig. Viele erleben ja beim Sport etwas, das dem Zustand des Yoga sehr nahe zu kommen scheint. Kein Wunder, weil wir durch Bewegung „in unseren Körper kommen“, wie es so schön heißt (als wären wir sonst nicht in ihm, aber egal). Die Verbindung zum Körper durch Bewegung und Berührung ist dann einfach leichter. Wenn wir rumliegen und grübeln, passiert das nicht. Den Körper zu spüren ist eine einfache und geniale Methode, zu sich zu kommen. So wie im Yoga. So wie im Tennis.

Also Tennis. Es gibt viele Techniken und Übungen, mindestens so viele wie es bei Patañjali Meditationstechniken gibt. Zwei ragen besonders heraus. Erstens: Versuche, zur Ruhe zu kommen, bevor Du den Ball schlägst. Zweitens: Konzentriere Dich vollständig auf den Ball, der auf Dich zugeflogen kommt. Konzentriere Dich so sehr, dass Du die Buchstaben der Marke, die auf dem Ball gedruckt ist, lesen kannst. Um es mit Yoga zu sagen: Komm zur Ruhe und richte Deinen Geist aus, obwohl sich alles um Dich herum dynamisch bewegt. Der Ball, der auf Dich zufliegt, symbolisiert die Zeit und die Veränderung, obwohl vermeintlich der Ball ja der gleiche bleibt (was aber nicht stimmt). Er manifestiert sich ziemlich deutlich, er ist das Objekt Deiner Konzentration. Auch wenn der Ball und Du einst wieder verschwunden sein werden, im Moment sind beide da und wahrnehmbar und gehen eine intensive Beziehung ein. Schlag für Schlag. Dein Körper ist in Bewegung, Du atmest, bist aufmerksam. Weil alles in Bewegung ist und sich Wahrnehmender und Wahrgenommenes fortwährend verändern, versuchst Du zumindest Deinen Körper zur Ruhe zu bringen, um in der Unendlichkeit der Variablen die Anzahl der Berechnungen, die Dein Gehirn leisten muss, etwas zu reduzieren. Um — wenn es gut läuft — im perfekten Moment von Körper, Bewusstsein, Innen- und Außenwelt tatsächlich den Ball zu treffen. Das satte Geräusch, die Kraft, die Leichtigkeit, in der das Objekt, der Ball und Du eins werden. Ein kleiner Moment der Erleuchtung. Om. 

Das ist Yoga.

PS. Das Spiel habe ich dann trotzdem verloren.

Teil 85 – Sehen und gesehen werden – YS. 4.18 bis 4.20

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Wir stehen vor der Frage aller Fragen: Wenn wir uns beim Denken und Fühlen beobachten können, was bzw. wer steckt dann noch dahinter? Das philosophische Konstrukt des „Sehers“.

Nachdem wir in der letzten Folge noch einmal in die Tiefen der Subjekt-Objekt -Beziehung eingestiegen sind, also in das Verhältnis von wahrnehmender Instanz und wahrgenommenem Objekt, studieren wir heute die Folgen, die daraus resultieren. 

Wahrnehmende und bewertende Instanz ist citta. Die Beziehung zu Objekten im unendlichen Ablauf von Veränderung und Zeit vor dem Hintergrund der eigenen Erfahrungen, Erwartungen und Erinnerungen ist yogaś-citta-vṛtti. Und das zur-Ruhe-kommen dieser Beziehung ist yogaś-citta-vṛtti-nirodhaḥ. Das Zur-Ruhe-Kommen des wertenden Bewusstseins. Und das ist Yoga. Alles kreist immer wieder um dieses zentrale Sutra, das uns schon ganz, ganz am Anfang begegnet ist. 

Wenn all das so ist, dann muss es — aus Yogasicht — etwas geben, das in der Lage ist, ausschließlich zu beobachten und nicht beobachtet zu werden. Das folgert nun YS 4.18:

YS 4.18 sadājñātāḥ citta-vrttayaḥ tat-prabhoḥ puruṣasya-apariṇāmitvāt 

Immer können die Vorgänge im Wandelbaren des Menschen vom wahren Selbst beobachtet werden, weil dieses wahre Selbst nicht in Bewegung ist.

Das Ding ist, dass unser eigenes Bewusstsein ja seinerseits wahrnehmbar ist. Das ist ja das Seltsame. Wir können uns selbst beim Denken und beim Fühlen beobachten. Wir können uns selbst beim Bewerten und beim Wählen beobachten. Yoga schließt daraus, dass es etwas dahinter geben muss, das das bewerkstelligt. Eine Instanz, die schaut, die unberührt ist von den Trübungen des aktiven Bewusstseins. Wer sonst sollte es tun? Dieser Logik folgend, sagen die nächsten beiden Sutras:

YS 4.19 na tat-svābhāsaṁ dṛśyatvāt

Da das Wandelbare des Menschen nicht aus sich selbst erkennend ist, ist es ein wahrnehmbares Objekt.

und….

YS 4.20 eka samaye c-obhaya-an-avadhāraṇam

Denn gleichzeitig können nicht beide Funktionen — Gesehen werden und das Sehen —erfüllt sein.

Etwas, das wahrgenommen wird — in diesem Falle unser wertendes Bewusstsein — kann nicht zugleich die Instanz sein, die auch wahrnimmt. Eigentlich eine logische Schlussfolgerung. Das hier, Leute, ist der Nukleus, die Gretchenfrage des Yoga-Sutra, der goldene Gral, die Wegscheide, der Moment der Bekenntnis, the point of no return.

Wenn es also eine Instanz gibt zwischen Betrachtetem und Betrachter, dann kann diese Instanz weder auf der einen, noch auf der anderen Seite sein, weder Betrachtender und Betrachtetes. Diese Instanz ist der Makler, der Vermittler zwischen Welt und dem wahren Selbst. Und dieser Makler muss, der Logik folgend, unberührt sein von den Wirrungen des launischen Bewusstseins. 

Das einmal langsam durchgedacht, kann einen crazy machen. Verdammt, was soll das heißen? Wir werden in den nächsten Sutras noch ein paar Erläuterungen dazu bekommen, aber unabhängig davon müssen wir es hier so nehmen, wie es da steht: Es gibt — nach Patañjali — eine sehende Instanz und das Gesehene, und die Freiheit werden wir erlangen, wenn wir diese sehende Instanz rein und klar ohne Trübungen schauen lassen. 

Diese Logik scheint so faszinierend und zwingend … und auch attraktiv! Denn hey! Ja! Klar! Endlich verstehe ich es! Diesen Seher muss ich freilegen. Das ist die Verbindung zum Allwesen, zum Übergeordneten, die Instanz hinter der Instanz, puruṣa, Verbindung, Reinheit, Freiheit, OM! 

Wahnsinn. Seit Jahren kreise ich um diese Idee wie der Mond um die Erde. Genauso wie um die Frage, warum ich ich bin, und keiner jemals mein Ich haben wird. Soll ich es nochmal sagen? Falls jemand diese Wegscheide überwindet und auf die andere Seite der Freiheit tritt, ja, dann würden es wahrscheinlich niemand mehr mitbekommen. 

Gegenposition: Es könnte auch sein, dass das einfach Quatsch ist. Es könnte auch sein, dass die Befähigung, diese vermeintlich logische Schlussfolgerung zu ziehen, auch nur eine weitere, subtilere Ebene von citta-vṛtti ist. Eine fantastischer Trick, ein Clou, ein Cliff-Hanger, eine Tür, auf der „Lösung“ steht, wo es einfach keine Lösung gibt. Am Ende doch nur ein kluger Zellhaufen, geschickt verschaltet bis zum letzten Blinken. Und es blinkt und blinkt und blinkt. Bis der letzte das Licht ausmacht. 

Und dann ist Ruhe.

Teil 86 – Der Makler zwischen Welt und Selbst

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Citta macht uns lebensfähig. Citta ist der quirlige Makler zwischen wahrem Selbst und der objektiven der Welt. Citta ist der Verbinder zu der Welt außerhalb unseres Ichs.

In der letzten Folge habe ich Euch, glaube ich, etwas gestresst. Und ich habe mit dunklen Gedanken abgeschlossen. Ich war aufgeregt, denn ich bin immer aufgeregt und gar nicht gelassen, wenn ich über die philosophischen Grundfragen des Yoga-Sutra oder überhaupt der Menschheit nachdenke. Für mich ist das Yoga-Sutra nach vielen Jahren immer noch der spannendste Krimi und sowieso besser als jeder Tatort, was aber auch nicht schwer ist. Der spannendste Tatort ist nämlich das echte Leben.

Die Fragen sind: Was steckt noch dahinter? Wo kommt das her? Und was kommt noch? Das ist schon wieder so banal und infantil, dass man nur den Kopf schütteln und lachen kann. Was kommt noch ?… ey, Alter, nix.!

Um noch einmal Graham Chapman von Monty Python zu zitieren “We come from nothing, we are going back to nothing. In the end what have we lost? Nothing!”

Und wir nähern uns dem Ende des Yoga-Sutras. So langsam muss ich es doch verstanden haben! Oder doch nur weiter Nebel?

Der Dramaturg Patañjali weiß natürlich genau um diese Zweifel und diese Gedanken. Die vierte Staffel des Sutra, Verzeihung: das vierte Buch des Sutra, ist genauso gut konstruiert, wie alle vorigen und doch wissen wir: das Staffelende naht! Das Finale naht. Und wir ahnen schon, trotz aller geistiger Cliff-Hanger und Bingewatching-Nächte: Es wird doch auf die völlige Freiheit hinauslaufen. Es wird nicht mehr grundsätzlich die Richtung geändert. Wir wissen, wie es endet. Happy End!

Die nächsten Sutras sind daher wieder etwas ruhiger und erklärender. Sie machen noch mal etwas deutlicher, was der Charakter des citta ist:

YS 4.21 cittāntara dṛśye buddhi-buddheḥ atiprasaṅgaḥ smṛti-saṁkaraś-ca

Das Bewusstsein des Menschen, das durch ein anderes Bewusstsein gesehen wird, wäre so absurd wie die Wahrnehmung von der Wahrnehmung. Sie würde zur Verwirrung in der Erinnerung führen. 

Die Wahrnehmung von der Wahrnehmung … von der Wahrnehmung von der Wahrnehmung usw. eine Error-Schleife. Ein Windows Blue-Screen. Eine Endlosspiegelung. Ein Kurzschluss. Wir haben nur diesen einen Betrachter, wir können uns zwar in ein andere Wesen hineinversetzen, aber letztlich nicht dessen Bewusstsein übernehmen. 

YS 4.22 citer-aprati-saṁkramāyāḥ tad-ākāra-āpattau svabuddhi saṁ-vedanam

Das wahre Selbst ist im Gegensatz zum wählenden Bewusstsein des Menschen nicht unstet. Daher kann es vollkommenes Wissen und Selbsterkenntnis erreichen.

Da ist er wieder, der Seher hinter dem Bewusstsein. 

Ja, wieder, ne? Ich habe große Zweifel an dem Konzept des „Sehers“ zumindest aus wissenschaftlicher Perspektive, aus philosophischer Perspektive kann ich das Bedürfnis aber natürlich nachvollziehen. Und dieses Sutra folgert in der Logik schlüssig, dass das wahre Selbst hinter dem wertenden Bewusstsein eben unbeeindruckt ist vom unsteten Geist und wirklich echtes, vollkommenes Wissen erlangen kann. 

Dann könnte man aber fragen: Warum haben wir denn dann dieses blöde wertende Bewusstsein, was ist dessen Sinn? Ist das Kunst oder kann das weg? Oder, um es mit dem Hirnforscher Antonio Damasio zu sagen: „Aber wer braucht schon einen Geist, wenn man so vieles ohne ihn tun kann?“.

Fairerweise muss man sagen: Damasio bezieht das auf die unglaublichen Fähigkeiten der Pflanzen, die intelligente Entscheidungen treffen können, ohne einen wertenden Geist zu besitzen. Aber wir wollen ja kein Wurm sein oder ein Pilz. Obwohl: Pilze sind schon cool. Und dennoch, wahrscheinlich wird es noch lange Pflanzen auf der Erde geben, wenn der Mensch schon lange verschwunden sein wird. Fast neige ich dazu, zu sagen: hoffentlich. 

Aber gut. Da ist er nun, unser wertender und wählender Geist.

YS 4.23 draṣṭṛ-dṛśy-opa-raktaṁ cittaṁ sarva-artham

Der eigentliche Sinn des wertenden Bewusstseins des Menschen ist es, sowohl dem Betrachter, als auch dem betrachteten Objekt nahe zu sein. 

Citta schaltet sich also zwischen die betrachtende Instanz und das betrachtete Objekt. Citta ist der Interpret, der Übersetzer, der Vermittler. Und so lesen wir in YS 4.24:

YS 4.24 tad-asaṅkhyeya vāsanābhiḥ citram-api parārtham saṁhatya-kāritvāt

Das wertende Bewusstsein des Menschen hat unzählige und mannigfaltige Wünsche. Trotzdem ist sein Sinn ein anderer, nämlich die Verbindung von Umwelt und wahrem Selbst herzustellen.

Ja, man könnte auch sagen: Citta macht uns lebensfähig. Citta ist der quirlige Makler zwischen wahrem Selbst und der objektiven Welt. Citta ist der Verbinder zu der Welt außerhalb unseres Ichs. Und wie das so ist mit Maklern: irgendwie mag sie keiner, aber sie werden doch gebraucht.

Hier im letzten Sutra steht aber auch, dass das Makeln zwischen Welt und Seher die eigentliche Aufgabe ist, zu der unser Geist aber zu selten kommt. Warum? weil er zu abgelenkt ist mit allerhand unnützem Zeug. Er ist voller Wünsche und überflüssiger Neigungen, die ihn von seiner wichtigen Aufgabe abhalten.

Wir erkennen den Widerspruch, etwas überwinden zu wollen, das wir aber als Makler und Übersetzer benötigen. 

Lassen wir uns ruhig darauf ein, diesen und alle anderen Widersprüche auszuhalten. Was bleibt uns auch übrig? Manche sagen, dass das die höchste Kunst des Yoga ist: das Aushalten und das Managen der Widersprüche. 

Das ist Yoga.

Teil 87 – Erleuchtung in der Cloud – YS 4.25 – 4.29

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Die letzten Hindernisse werden aus dem Weg geräumt und unser Wissen wird breit und weit wie eine Wolke. Aber wirkliches Wissen kann erst entstehen, wenn wir bereit sind, die Erwartungen an die Mediation abzulegen.

Wir starten heute die letzten beiden Stufen der Erleuchtungsrakete. Wir haben in der letzten Folge gelernt, dass yogaś-citta-vṛtti-nirodhaḥ bedeutet, nicht nur den Geist zur Ruhe zu bringen, sondern auch die makelnde Funktion des bewertenden Geistes runterzufahren. Der bewertende Geist vermittelt zwischen Objekten und dem wahren Selbst, so die philosophische Idee. Das wahre Selbst, der Seher hinter den Objekten, ist rein und klar. 

Jetzt geht es natürlich ans Eingemachte. Ans Ego. 

YS 4.25 viśeṣa-darśinaḥ ātmabhāva-bhāvanā-nivṛttiḥ 

Für den, der diese einzigartige Schau erlangt hat, verschwindet der Wunsch nach Selbstverwirklichung. 

und … gleich weiter

YS 4.26 tadā viveka-nimnaṁ kaivalya-prāg-bhāraṁ cittam

Dann wird Unterscheidungskraft vertieft und das wertende Bewusstsein des Menschen weist den Weg zur Befreiung. 

Selbstverwirklichung ist ein schönes deutsches Wort. Und auch im Zusammenhang mit dem Yoga-Sutra eigentlich recht witzig. Wir meinen damit ja umgangssprachlich: die eigenen Bedürfnisse erkennen und danach leben, „ das beste Ich“ entwickeln, sein Ding machen … usw. Selbstverwirklichung ist eine wichtige Säule im Selbstverständnis unserer Gesellschaft. 

Hier heißt es aber eigentlich genau das Gegenteil: Das wahre Selbst wird erst sichtbar, wenn Du die Wünsche, das Streben, die Challenge, das Ego zurückfährst und Dich zurückziehst. Denn dann gewinnst Du viveka, die Unterscheidungskraft, zwischen den Begierden und dem, was wirklich zählt: nämlich die Befreiung von den Begierden und den Wünschen. Was wäre das für eine Gesellschaft, mag man sich fragen, in der Selbstverwirklichung nicht als Egotrip, sondern als Begierdefreiheit interpretiert würde … Durch die unterschiedliche Interpretation des Begriffs „Selbstverwirklichung“, kommt es durchaus zu einem häufigen Missverständnis: Yoga meint nicht, sein bestes Ich zu performen, Yoga meint, das Ich zu reduzieren. Das fällt uns aber ziemlich schwer, oder? Mir auf jeden Fall. 

Ok, gehen wir weiter. Interessant ist, dass selbst hier, am Ende des Yoga-Wegs, in den nächsten beiden Sutras noch einmal die Hindernisse thematisiert werden. Man sollte meinen, dass man die doch wohl schon überwunden haben sollte, oder doch nicht?

YS 4.27 tac-chidreṣu pratyaya-antarāṇi saṁskārebhyaḥ 

Diese Sichtweise wird durch Vorprägungen wieder abgebrochen, dann tauchen andere Eindrücke auf.

Und weiter: 

YS 4.28 hānam-eṣāṁ kleśavad-uktam

Die Beseitigung dieser Vorprägungen erfolgt wie es schon für die spirituellen Bürden beschrieben wurde. 

Wir erinnern uns: die kleśa, die großen Bürden, das waren:

  1. falsches Wissen: avidyā, 
  2. Ichverhaftung: asmitā, 

Gier: rāga, 

  1. Abneigung: dveṣa 
  2. und eine tief sitzende Angst: abhiniveśaḥ

Also, die ganz großen Themen. Das zeigt uns noch mal, dass erstens das vierte Kapitel des Sutra für sich selbst steht und noch mal alles Wesentliche bündelt, aber auch, dass das Thema „Hindernisse“ selbst für die begabtesten Yogis und die fleißigsten Übenden nie, wirklich niemals, zu unterschätzen ist. Witzig finde ich, dass Patañjali hier selbst einen Verweis, wie ein Link einbaut. Mach ich jetzt auch so: Mehr über kleśas findest Du in Teil 33 dieses Podcasts. 

Zeit für die Mega-Erleuchtung:

YS 4.29 prasaṁkhyāne-‚py-akusīdasya sarvathā vivekakhyāteḥ dharma-meghas-samādhiḥ 

Ist auch bei der Meditation kein Eigeninteresse mehr vorhanden, kommt Unterscheidungskraft, man erreicht die Dharmawolke und ist im Samadhi.

Aha. Nein, nein, megha-samādhiḥ ist nicht, was Du vielleicht denkst. Megha ist nicht zu verwechseln mit der griechischen Vorsilbe mega, aber es ist eine hübsche Ähnlichkeit. Megha auf Sanskrit heißt einfach Wolke. Machen wir uns klar, worum es geht: die Gewinnung tiefer Erkenntnis, die keine Erwartungen und Wünsche mehr hat. 

Tiefe Erkenntnis kann — das wissen wir ja längst — nur durch Meditation entstehen. Wir sehen, dass das Ziel der Wunschlosigkeit keinesfalls materiell zu verstehen ist, auch wenn das für unsere materialistische Welt natürlich auch ein interessanter Bezugsrahmen ist. Nein, Wunschlosigkeit bezieht sich auf die erwarteten Ergebnisse der Meditation. Auch die Meditation knüpft sich oft an Erwartungen und Hoffnungen, was wir mit der Meditation zu erreichen wünschen. Das geht nicht. Freiheit, daran erinnert uns Patañjali hier, kann erst entstehen, wenn wir jegliche Erwartung ablegen und überwinden. Dann landen wir — wörtlich — in der Dharma-Wolke. In der Wolke der kosmischen Ordnung. 

Erleuchtung in der Cloud sozusagen. Was für ein hübsches Bild, oder? Ein bisschen psychedelisch, finde ich. 

Ist das noch Yoga?

Teil 88 – Von Anfang bis zum Ende – YS 4.30 bis 4.34 

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Und es folgt das große Finale. Wir haben die letzten Erwartungen abgelegt und die Hürden überwunden. Nun steht der Freiheit und der Erleuchtung nichts mehr im Wege. Oder? Können wir hier noch folgen?

Ready for Boarding. Fasten your seat belts. Ready for take-off. Wir sind schon in der Erleuchtungswolke, haben die letzten Erwartungen abgelegt und die Hürden überwunden. Haben wir? Haben wir! So! 

YS 4.30 tataḥ kleśa-karma-nivṛttiḥ 

Dann verschwinden Leid und karmische Handlungen. 

Und gleich weiter:

YS 4.31 tadā sarva-āvaraṇa-malāpetasya jñānasya-ānantyāt jñeyamalpam

Dann fallen sämtliche Schleier und Unreinheiten. Das Wissen, das erlangt werden kann, wird unbedeutend im Vergleich zur Unendlichkeit des Wissens. 

Jetzt aber wirklich! Jñāna, das Wissen, die Unterscheidungskraft, all das, was der Yogi und die Yogini durch Meditation und Rückzug der Sinne bereits erreicht haben, ist, so sagt Patañjali hier, noch gar nichts im Vergleich zu dem, was sich eröffnet, nachdem wir diese Begrenzung durchbrochen haben. Alles Pillepalle im Vergleich zur Unendlichkeit des kosmischen Wissens. Wir sind uns ja darüber im Klaren, dass selbst das höchste Wissen immer einer Begrenztheit unterworfen ist. Nun aber können wir auch das überwinden:

YS 4.32 tataḥ kṛtārthānaṁ pariṇāma-krama-samāptir-guṇānām 

Hierdurch erfüllt sich der Sinn der Veränderung und alle Wandlung der Materie findet Ihr Ende.

Hier steht nichts anderes, als das wir uns aus den Zusammenhängen von Zeit und Materie befreien können. Das klingt schon ziemlich abgefahren, muss ich sagen. Aber es ist konsequent zu Ende gedacht.

Ich habe ja schon viel berichtet über die Zusammenhänge von permanenter Wandlung, der alles unterworfen ist durch die drei Grundzustände, der gunas. Und auch über die Unmöglichkeit, die Zeit zu betrachten, da die Wandlung in Milliarden von kleinen Schritten besteht, die unser bewusster Geist nicht in jedem Punkt erfassen, sondern oft nur im Ergebnis erkennen kann. 

Zum Beispiel können wir selbst bei intensiver Betrachtung einer Blume nicht den Prozess des Welkens sehen, so fein können wir nicht in die Zeitpunkte eintauchen, und doch sehen wir das Ergebnis der verwelkten Blume. 

Und auch die verwelkte Blume ist ja kein Endergebnis, sondern nur ein weiterer Punkt auf dem unendlichen Weg des Wandels. 

Das ist das Dilemma der Zeit. Wir können sie noch so sehr takten und vermessen. Am Ende können wir den gegenwärtigen Moment nicht wirklich festhalten. 

Die Gegenwart, das Jetzt, ist der einzige Moment, an dem wir existieren – aber er ist so flüchtig und schnell, das wir ihm nicht folgen können. „Komm erst mal im Hier und Jetzt auf Deiner Matte an“. Dieser oft gehörte Satz am Anfang vieler Yogastunden ist daher zwar gut gemeint, aber streng genommen unmöglich zu realisieren. Aber jetzt, wo „alle Wandlung Ihr Ende findet“, ist es eben doch so weit. Dieses existenzielle Dilemma des menschlichen Wesens löst sich nun auf. 

YS 4.33 kṣaṇa-pratiyogī pariṇāma-aparānta nirgrāhyaḥ kramaḥ

Die Empfindung der bedingten Aufeinanderfolge der Augenblicke und Wandlungen nimmt Ihr endgültiges Ende. Die Wandlung wird so erfahrbar. 

Das heißt, die Illusion, mit der wir meinen, Wandel sehen zu können, wird in diesem Stadium der Versenkung überwunden. Zeit ist eine Illusion, der Moment, ksana, ist am Ende für unser Bewusstsein ein Rätsel, und es wird immer so bleiben, bis wir aufhören damit, das verstehen zu wollen. Dann können wir, so Patañjali, endlich frei sein und die Wirklichkeit erkennen. Wir verstehen dadurch, dass wir erst verstehen, wenn wir aufhören, verstehen zu wollen. 

Und folgerichtig schließt das Yoga-Sutra feierlich mit YS 4.34:

YS 4.34 puruṣa-artha-śūnyānāṁ guṇānāṁ-pratiprasavaḥ kaivalyaṁ svarūpa- pratiṣṭhā vā citiśaktiriti

Befreiung erfüllt das Ziel des wahren Selbst, die Materie wird überwunden. Dann zeigt sich die wahre Natur des Seins und die Kraft des absoluten Wissens.

So, mal eben durchatmen. Das war‘s. Das Sutra begann in YS 1.1 mit „atha“ und endet mit der Silbe „iti“ Atha und Iti sind Anfang und Ende. So wie Alpha und Omega. Here we are. 

Leute, ich kann Euch nicht sagen, wie sich das anfühlt, klar. Ich weiß nicht, ob ich das erreichen kann. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich es nicht erreichen will. Hätte ich diesen magischen Zustand der bedingungslosen Freiheit schon erreicht und die Materie überwunden, könnte ich ja auch nicht mehr diese Folge schreiben. 

Am Ende ist dieses Konzept, so konsequent von Patañjali durchdekliniert und zum großen Finale geführt, ein Weg der Selbstauflösung. Er ist uns in seiner letztlichen Radikalität fremd und bleibt ein Rätsel. Und doch: intellektuell verstehe ich das. Ich kann es nachvollziehen, die Denkschritte mitgehen und ich bewundere auch die Schönheit der Radikalität des Sutra. Aber das sind nur citta-vrtti, Bewegungen des Geistes. 

Was machen wir jetzt damit? Ist das noch was für uns? Aber klar! Ich möchte Dir Mut machen, die Radikalität des Sutra zu akzeptieren, auch wenn Du vielleicht sagst, nee, komm, das geht mir zu weit. Macht ja nix. 

Das Sutra führt uns aus unserer geistigen Komfortzone heraus, es provoziert unsere Bequemlichkeit. Es macht uns aber auch demütig, denn wir sollten nicht glauben, dass wir durch ein bisschen Mantra singen und asanas üben irgendwie besser oder weiter sind als andere. Freude entsteht, wenn Du yogaś-citta-vṛtti-nirodhaḥ verstanden hast und Dich auf den Weg machst. Auch mit kleinen Schritten. Wir brauchen einfach als Menschen auch das ganz große Ding, damit wir motiviert sind, die kleinen Dinge anzugehen. Einfach machen, nicht prahlen und zufrieden sein. Versuche, Deinen Geist zu beruhigen. Gelassenheit muss man üben!

Das ist Yoga.

Teil 89 – Und wie geht’s jetzt weiter?

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Warum noch mal Yoga? Und was ist jetzt die Quintessenz? Und wie gehts jetzt weiter? Ganz einfach: fang an. Du wirst es nicht bereuen. Und hier steht nochmal, warum.

Yoga ist eine Diät für den Geist. Es ist ganz einfach — zunächst. Denn alles beginnt damit, dass Du beginnst. Kein anderer, kein Guru, keine Päpstin, kein Arzt und keine Yogalehrerin werden Dir ein Rezept für die Erleuchtung ausstellen, mit dem Du in die Apotheke „Zur Erleuchtung“ gehen kannst. Du musst selbst Verantwortung übernehmen. 

Du beginnst damit, Dich auf eine Matte zu setzen oder zu legen, die Augen zu schließen, Deine Atmung zu finden und Dich auf die Reise nach innen zu machen. Vielleicht hast Du Schmerzen, vielleicht bist Du nervös und unruhig. Vielleicht auch genervt und ungeduldig. Dennoch gibt es nicht viel zu tun. Und das genau ist anstrengend. Denn Du, bzw. Dein Geist neigt zur Hyperaktivität.

Ständig verlangt er nach neuem Futter, neuen Eindrücken und Ablenkungen. Irgendwas muss immer passieren, sonst wird’s langweilig. Du hast Dich so eingerichtet in dem permanenten Aufmerksamkeitsmodus, dass Du denkst: Es geht nicht anders. So ist das eben. Manchmal bekommst Du aber eine Ahnung, dass es auch anders sein könnte, vielleicht bei einem schönen Naturerlebnis oder im Umgang mit einem Tier, das Du nicht isst, sondern streichelst. Oder durch die Liebe eines anderen Menschen. Oder auch durch ein Trauma, das Dich aus der Bahn wirft und Dich zwingt, mal langsamer zu machen.

Vielleicht spürst Du die Sehnsucht, dass weniger mal mehr wäre. Aber es gelingt Dir nicht so richtig, diese interessanten Momente festzuhalten, sie entschwinden wieder und hinterlassen mehr Fragen als Antworten. Du weißt eigentlich, dass Du was ändern solltest, eingefahrene Muster hinterfragen solltest. Aber Ändern ist schwer. Denn es ist nicht damit getan, es einmal zu probieren und dann zu sagen, es hat nicht geklappt. 

Yoga ist einer von vielen bewährten und gut erprobten Wegen, die Dir helfen können, ruhiger zu werden. Yoga holt Dich da ab, wo du bist. Yoga kennt keine Moral und keine Schuldgefühle und keine Gebote. Yoga macht Dir ein einfaches Angebot: Komm auf die Matte und fang mit dem an, was Du vorfindest. Das Versprechen ist: Es wird Dir schnell besser gehen, Dein Körper wird sich gut anfühlen, Deine Atmung ruhiger fließen. Du wirst häufiger als früher zufriedener und ruhiger sein. Du wirst auch besser schlafen und ganz von alleine und natürlich anfangen, Dich besser zu ernähren. Ohne schlechtes Gewissen oder Moralapostelei. 

Deine Freunde und Bekannten werden Dich darauf ansprechen, dass Du irgendwie „sowas“ ausstrahlst. Schmerzen, die Dich lange plagen, werden besser und Du regst Dich nicht mehr so schnell auf und kannst besser mal eine doofe Situation einfach vorbeiziehen lassen, statt Dich darin zu verbeißen.

Das einzige, was Du tun musst, ist dranzubleiben und nicht gleich aufzugeben. Denn Hindernisse gibt es viele, und Yoga kennt diese vielfältigen Hindernisse, denn Yoga ist an der Realität erprobt und macht Dir keine Vorwürfe. Das ist toll.

Viele Wege führen nach Rom und noch mehr zur Ruhe und inneren Gelassenheit. Du wirst die geeigneten Tools finden, die Dir dabei helfen und Yoga schlägt Dir auch viele vor, die Du locker ausprobieren kannst. Keiner wird Dir übel nehmen, wenn Du dies oder das probierst und es wieder fallen lässt. 

Für die meisten hat sich bewährt, mit sanfter Körper- und Atemarbeit zu beginnen. Bewegungen, Dehnungen, Mobilisation, etwas Kräftigung, die Dich auf die Entspannung vorbereiten. Das ist wichtig zu verstehen: Um zu entspannen, musst Du womöglich auch vorher was anspannen. Aber ohne Stress. 

Dranbleiben und Loslassen, das ist das magische Wechselspiel, dass Du im Yoga besser kennenlernst. Du brauchst Dich nicht so zu sorgen, dass Du vielleicht für Yoga zu steif, zu jung, zu alt, zu dünn, zu dick oder zu doof bist. Das sind alles nur Wertungen, die nichts mir Dir zu tun haben. Du bist Du und Du übst Dein Yoga, nicht das Yoga eines anderen Menschen. 

Du wirst neue Freiheiten kennen lernen und es dauert nicht sehr lange — versprochen — bis Du merkst, dass Yoga eigentlich nicht nur auf der Matte funktioniert, sondern Dir ein besseres Leben im Alltag ermöglicht. 

Dann wird der Tag kommen, an dem Du Dir gar nicht vorstellen kannst, wie Du jemals ohne diese Erkenntnisse klar gekommen bist. Aber Du wirst Dich nicht ärgern, sondern milde darüber lächeln oder auch Dich auch ganz laut kaputtlachen. Am besten im Kreise Deiner Liebsten. Wann fängst Du an?

Dieser Podcast ist auch Yoga. Eine Übung im Nachdenken und auch eine Übung im Dranbleiben. 89 Folgen sind vorbei. Ich bin sehr glücklich darüber, dass ich dran geblieben bin, und mit Dir mein persönliches Verständnis des Yoga-Sutra teilen konnte. Möge Patañjali auch Dir ein treuer Begleiter sein. 

Ich danke meiner Frau Claudia fürs aktive und kritische Vorhören und Mitdenken. 

Ich danke der Yogatradition für das Geschenk des freien Lebens.

Ausgewählte Literatur und Links

Hier aufgeführt sind einige Bücher und Links, die weiter führen.

Patañjali. Die Wurzeln des Yoga. Die klassischen Lehrsprüche des Patañjali.
Herausgegeben von P. Y. Deshpande, Übersetzt von Bettina Bäumer, Barth O.W., August 2010.

Über Freiheit und Meditation. Das Yoga Sûtra des Patañjali. Eine Einführung.
Übertragung und Kommentar von T.K.V. Desikachar. Via Nova, Verlag, Dezember 2003 – inkl. CD mit Rezitation des Sutra von Srivatsa Ramaswam, auf die ich mich beim Rezitieren stütze.

Patanjali, Das Yogasutra, von der Erkenntnis zur Befreiung. Einführung, Übersetzung und Erläuterung von R. Sriram, Theseus Verlag 2009

R. Sriram: Ashtangayoga. Die 8 Übungen aus dem Yogasutra des Patañjali. Theseus 2021.

Pradeep P. Gokhale: The Yogasūtra of Patañjali A New Introduction to the Buddhist Roots of the Yoga System, Routledge India 2020

Mark Singleton, Yoga Body, The Origins of Modern Posture Practise, Oxford University Press 2010

Eckard Wolz-Gottwald, Die Yoga-Sutras im Alltag leben. Die philosophische Praxis des Patanjali, Vianova 2014

Die Yoga-Tradition. Geschichte, Literatur, Philosophie, Praxis. Von Georg Feuerstein, YogaVerlag 2008.

Der Yogaleitfaden des Patañjali. Sanskrit/Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Reinhard Palm. Stuttgart 2010.

Markus Gabriel: Warum es die Welt nicht gibt. Berlin 2013

Bill Bryson: Eine kurze Geschichte des menschlichen Körpers.
München 2020.

Karen Armstrong: Der große Umbruch: Vom Ursprung der Weltreligionen
2008

Antonio Damasio: Selbst ist der Mensch: Körper, Geist und die Entstehung des menschlichen Bewusstseins. 2011

Yoga – Tradition und Erfahrung. Die Praxis des Yoga nach dem Yoga Sutra des Patanjali, von T.K.V. Desikachar, Vianova Verlag 2005

T.K.V. Desikachar, Helmut Krusche: Das verborgene Wissen bei Freud und Patanjali. Beziehung, Heilung und Wandlung in Yoga und Psychoanalyse. Stuttgart 2007

Thich Nhat Hanh: Kein Werden, kein Vergehen. Buddhistische Weisheit für ein Leben ohne Angst. O.W.Barth 2013

Thich Nhat Hanh: Wie Siddharta zu Buddha wurde. O.W.Barth 2011

Armin Börner: Chemie, Verbindungen fürs Leben. Darmstadt 2019

Links

www.yogaya.de

www.yogapodcast.de

Ganz großartig: Wikibooks Yogasutra-Analyse

Tolle Übersetzung des Sutra bei Ashtangayoga.info

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